Rabentod (Rabenblut Serie 2) (German Edition)

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Rabentod (Rabenblut Serie 2) (German Edition) Page 34

by Nikola Hotel


  Es würde weniger als eine halbe Stunde dauern, bis die Gäste seiner Großmutter eintrafen. Die Kapelle war mit Blumen geschmückt worden, und es roch nach Holzpolitur und Wachs. Alexej trug einen schwarzen Anzug, sogar Hemd und Krawatte waren schwarz. Lara hatte mir einen dunklen Hosenanzug ausgeliehen, der mir etwas zu eng war, und ich fühlte mich entsetzlich unwohl und fremd darin.

  »Warum hast du nur meinen Bruder angerufen«, fragte ich leise, als Alexej die Hände senkte und sich zurück auf die Bank setzte. »Ich wünschte, du hättest es nicht getan.«

  »Ich dachte, du wärst froh, wenn du in dieser Situation nicht allein wärst.« Er blickte stur geradeaus.

  »Ich bin nicht allein. Der einzige Mensch, den ich bei mir haben möchte, bist du.«

  »Das sagtest du bereits.«

  Es brach mir das Herz, ihn so zu sehen. Seine Hand fühlte sich warm an, als ich ihn zwang, sie mir zu geben. Trotzdem strahlte er eine Kälte aus, die mich frösteln ließ. »Es hat nichts zu bedeuten«, sagte ich und schluckte mühsam. Er musste es wissen. »Ich habe es doch nur gesagt, weil er sterben wollte.«

  Alexej seufzte leise. »Das verstehe ich.«

  »Trotzdem bist du wütend auf mich.«

  Das erste Mal blickte er mich direkt an und wirkte erstaunt. »Du denkst, ich wäre wütend? Auf dich?« Er lachte auf, und ich fühlte mich entsetzlich dumm dabei. Als wäre dieser Gedanke so abwegig gewesen. Seit dieser Nacht hatte sich zwischen uns etwas aufgetürmt, das sich einfach nicht beseitigen ließ, und ich war davon ausgegangen, dass er mir nicht verzeihen konnte, dass ich Sergius gegenüber von Liebe gesprochen hatte. Verwirrt ließ ich seine Hand los. Was hätte ich dafür gegeben, wenn ich den Raben zwischen seinen Schulterblättern hätte sehen können. Das hätte mir vielleicht verraten, in welcher Stimmung sich Alexej befand und was genau wirklich in ihm vorging. So aber war ich auf meine fast nicht vorhandene Intuition angewiesen und auf die Mimik, die er mir zu zeigen bereit war.

  Alexej schüttelte eine Haarsträhne aus seinem Gesicht und senkte die Lider. Seine Wimpern beschatteten seine Augen, sodass ich mich nicht darin sehen konnte. Nein, er war nicht bereit, mir auch nur irgendetwas von sich preiszugeben. Seufzend zog ich das Programmblatt aus meiner Hosentasche und faltete den schweren Bogen Papier auseinander.

  Auf dem Briefkopf war das Wappen von Alexejs Familie zu sehen: ein viergeteilter Schild mit einem Raben, der auf einen Türkenkopf einpickte. Unter dem Titel La Revue blanche waren gleich mehrere Stücke aufgelistet.

  Maurice Ravel

  Pavane pour une infante défunte

  Claude Debussy

  Syrinx

  Gabriel Fauré

  Sicilienne op. 78

  Maurice Ravel

  Sonatine pour piano

  I. Modéré

  II. Mouvement de Menuet

  III. Animé

  Claude Debussy

  Suite bergamasque

  Darunter stand kleingedruckt: Zur Erinnerung an Sergius von Drygalski Korvin. Das war auch der einzige Hinweis auf ihn. Alexej hatte darauf bestanden, dass das Programm keinesfalls religiös geprägt sein sollte. Als ich jedoch Claude Debussy las, wusste ich gleich, dass er davon trotzdem nicht begeistert sein konnte. Ich hielt ihm das Programm hin.

  »Suite bergamasque?«, fragte ich, weil mir das irgendwie bekannt vorkam, ich aber nicht drauf kam.

  »Besser bekannt als Claire de Lune.« Seine Stimme klang unverhohlen abwertend.

  »Auweia«, sagte ich scherzhaft. »Wie konnte der General dich nur dazu bewegen?«

  Ich meinte zu sehen, dass Alexejs Mundwinkel zuckte. »Gar nicht, aber ich habe sie in dem Glauben gelassen, dass ich es spielen werde. Du weißt, dass mich keine zehn Pferde dazu bringen, Debussy zu interpretieren.«

  Auch wenn ich nicht verstand, was genau er daran so schlimm fand, bewunderte ich ihn doch dafür, dass er sich selbst treu blieb. »Das heißt, du spielst einfach etwas anderes, was nicht im Programm steht? Wie verwegen du bist«, neckte ich ihn.

  »Geradezu tollkühn, nicht wahr?« Er schmunzelte zwar, aber es kam mir so vor, als verbarg sich dahinter Spott, der sich gegen ihn selbst richtete.

  Er war wirklich nicht wütend auf mich. Nur verstand ich nicht, was in ihm vorging. Ob es daran lag, dass Sergius mich beschützt hatte und nicht er? Nein, den Gedanken schüttelte ich ganz schnell wieder ab, weil es idiotisch war. Trotzdem war ich mir unsicher.

  »Ich habe übrigens dein Handy gefunden«, sagte er nun und nestelte das Gerät aus seinem Jackett. »Es lag im Salon auf dem Teppich, ich habe es vor der Putzaktion gerettet. Wir können von Glück reden, dass es die Polizei dort nicht entdeckt hat.«

  Meine Finger umfassten das Handy, und ich drückte auf den Einschaltknopf. Der Bildschirm blieb schwarz. »Der Akku ist leer. Macht es dir etwas aus, wenn ich es für ein paar Minuten anschließe? Ich bin ganz bestimmt rechtzeitig zurück.«

  »Mach nur. Der General hat eine Flötistin eingeladen, die Syrinx spielen wird und mit mir gemeinsam anschließend die Sicilienne. Ich muss ohnehin noch etwas mit ihr besprechen.« Er stand auf.

  Ich lief aus der Kapelle auf den Gang und dann die Wendeltreppe hinauf in das kleine Schlafzimmer neben dem Salon. Meine Reisetasche stand immer noch neben dem Bett, und ich kramte hektisch nach dem Ladekabel. Eine Steckdose zu finden, war allerdings nicht so leicht, denn es gab kaum welche. Die Wohnung war zwar renoviert worden, aber nicht wirklich auf heutige Bedürfnisse zugeschnitten. Schließlich zerrte ich am Kabel einer Stehlampe, um den Anschluss zu nutzen.

  Geh schon an, du verfluchtes Ding!

  Nicht, dass es gerade wichtig wäre, aber ich hatte Roman immer noch nicht angerufen und war seit Tagen nicht zu erreichen gewesen. Er musste stinksauer auf mich sein. Wahrscheinlich hatte er die Ergebnisse seiner Untersuchungen längst verworfen. Ich konnte kaum glauben, dass sie für mich noch vor ein paar Tagen so immens wichtig gewesen sein sollten. Inzwischen hatte sich meine Welt wieder einmal um die eigene Achse gedreht, und nichts besaß mehr seine Gültigkeit.

  Während das Gerät lud, huschte ich noch einmal ins Bad, um meine Haare zu kämmen und mir etwas Wasser ins Gesicht zu spritzen. Den ganzen Morgen schon war mir übel gewesen, und meine Augen sahen immer noch glasig und verheult aus, obwohl ich seit gestern Abend sicher war, dass in mir einfach keine Tränen mehr übrig waren, die ich weinen könnte. Ich fühlte mich völlig leer und erschöpft. Noch immer konnte ich nicht begreifen, was genau geschehen war, und meinte, dass Sergius jeden Moment hereinplatzen und mich wegen irgendeiner Nichtigkeit anfahren könnte. Noch immer konnte ich nicht glauben, dass seine Tochter ihn nie kennenlernen würde. Dass ich einen Freund verloren hatte, und wenn ich es genau betrachtete, dann sogar meinen besten Freund. So neu der Gedanke auch für mich war.

  Es klopfte an der Zimmertür, und ich hörte, wie jemand eintrat.

  »Fräulein Radek?« Šimons Stimme klang wie aus einer anderen Zeit. »Ihr Bruder ist eingetroffen, ich habe ihn in den Salon geführt.«

  Innerlich fluchte ich. »Danke, Šimon! Ich komme sofort.«

  Was sollte Timo nur davon halten, dass ihm dieses Faktotum hier begegnete? Das war so gegensätzlich zu unserem normalen Leben, dass ich förmlich vor mir sehen konnte, wie er die Augenbrauen anhob. Ich zog meinem Spiegelbild eine Grimasse und verließ das Bad.

  Als ich den Salon betrat, stand mein Bruder vor der Kommode und hatte die oberste Schublade aufgezogen.

  »Timo!«, rief ich entgeistert aus. »Mach das sofort wieder zu. Du kannst doch nicht einfach hier herumschnüffeln. Das ist die Wohnung des Generals!« Kaum hatte ich es gesagt, lief mein Gesicht heiß an. Dass Alexejs Großmutter »der General« genannt wurde, musste auf ihn mehr als befremdlich wirken.

  Timo hob unschuldig beide Hände. »Ich war’s nicht, die stand schon auf, ich wollte sie nur zumachen.«

  Na klar, dachte ich skeptisch.

  »War das so was wie ein Butler?« Er deutete mit dem Kinn zur Tür, hinter der Šimon verschwunden war, und griente.

  »Idiot«, sagte ich liebevoll und drückte meinen kleinen Bruder an mich. Er überragte mich um einen ganzen Kopf und roch
nach einer Mischung aus seinem Aftershave und Deo und ansonsten ein wenig nach Kaffee. Ein Geruch, der mir so vertraut war, dass ich schlucken musste.

  »Bitte sag mir, dass das mit dem Konzert nur ein Witz war. Ich habe echt keinen Bock, mir jetzt zwei Stunden den Hintern platt zu sitzen, nachdem ich acht Stunden im Auto gesessen habe.«

  »Es ist bloß eine Matinee, also längst nicht so feierlich und zwanghaft.« Ich hob entschuldigend die Schultern. »So lange wird es auch nicht dauern. Das Programm geht höchstens eine Dreiviertelstunde.« Als er das Gesicht verzog, fügte ich hinzu: »Ich dachte, du fandest das Konzert cool, das wir in Prag besucht haben?«

  »Ja«, sagte er gedehnt. »Das heißt aber nicht, dass ich das jetzt ständig brauche. Ist Nikolaus wenigstens da?«

  »Nnein«, stammelte ich. »Leider nicht. Er … ist vermutlich schon wieder zurück in Prag. Alexej und er …« Ich atmete tief ein. »Es ist so viel passiert, ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.«

  »Alexej hat mir von der Sache mit Sergius erzählt. Sag bloß nicht, dass du diesem Arsch auch nur eine Träne nachweinst!«

  »Das ist kompliziert«, fing ich an, doch Timo winkte gleich ab.

  »Bevor ich nichts zu essen bekommen habe, kannst du dir deine Erklärungen schenken. Gibt es auf einer Matinee wenigstens Häppchen? Lachs, hmm?«

  Sein hoffnungsvoller Blick brachte mich zum Schmunzeln. »Du kannst ja mal den Butler fragen«, sagte ich und streckte ihm die Zunge heraus. Himmel, es tat so gut, Timo zu sehen. Er war so unbekümmert und wirkte wie eine Tasse heißer Tee auf mich. Alexej hatte vollkommen recht gehabt, dachte ich mit einem leichten Anflug von schlechtem Gewissen. »Es tut mir leid, dass ich dich ewig nicht zurückgerufen habe. Ist Papa sehr sauer?«

  »Jep«, machte er und tippte sich an die Stirn. »Wie du so selten dämlich sein konntest, diesen Antrag nicht rechtzeitig zu stellen, kann ich echt nicht begreifen. So blöd bin nicht mal ich. Jetzt ist doch alles umsonst gewesen. Und wieso zum Geier gehst du nicht an dein Handy? Oder ist das auch kompliziert?«

  »Ich hatte es … verlegt, okay? Aber ich verspreche dir, dass ich ab sofort immer drangehe. Zumindest wenn du es bist«, schränkte ich mein Versprechen ein. Ich bat ihn zu warten und lief ins Schlafzimmer nach nebenan, um das Telefon auszustecken. Der Leuchtbalken zeigte eine Akkuleistung von immerhin fünfzehn Prozent an, das musste reichen. Ich schaltete das Gerät ein und steckte es in meine Hosentasche. Noch auf dem Weg zum Salon fing es in meiner Tasche an, wie verrückt zu piepsen. Eine Benachrichtigung nach der anderen traf ein.

  »Wie oft genau hast du versucht, mich anzurufen?«, fragte ich und hob vorwurfsvoll die Augenbrauen an. Ich zog das Handy wieder hervor, um den Ton stumm zu schalten.

  »Keine Ahnung, ein paar Mal halt«, gab Timo zu und fuhr sich einmal durch das Haar, was als Geste völlig überflüssig war, da es sowieso immer perfekt saß.

  Ein Blick auf das Display verriet mir, dass nicht Timo es war, der mich so oft versucht hatte zu erreichen, sondern Roman Gnezda. »Haben wir noch ein paar Minuten? Ich müsste mal ganz schnell telefonieren.«

  Timo nickte. »Ich muss sowieso noch mal aufs Klo.«

  Mit der Hand zeigte ich den Flur hinunter und sah Timo nach, wie er durch die Badezimmertür verschwand. Dann wählte ich Romans Nummer.

  LICHTKLANG

  ISABEAU

  Mit wackeligen Knien ging ich Timo entgegen, der im Flur auf mich gewartet hatte. Ich war wie betäubt.

  »Irgendwas nicht in Ordnung?«, fragte er.

  »Doch!«, sagte ich viel zu hastig. Und als Timo mich weiterhin prüfend ansah, wischte ich mir mit der Hand über die Stirn. Ungläubig blickte ich auf meine Handfläche – sie war schweißnass. Und das, obwohl ich mir vor Kurzem erst das Gesicht gewaschen hatte. »Wir müssen uns beeilen. Es wäre sehr unhöflich, zu spät zu kommen.«

  Bei einer Handvoll Menschen konnte man sich wirklich nicht heimlich in die Bank schleichen. Außerdem hatte ich Alexej schon so lange nicht spielen hören, und ich war neugierig, was er anstelle des Stücks von Debussy spielen würde.

  Auf dem Weg durch den langen Waffengang jammerte Timo, weil er Hunger hatte. Zumindest so lange, bis er mit dem Blick an den langen Gewehrreihen hängen blieb.

  »Krass.« Er blieb stehen. »Hier steht, dass dieses Jagdgewehr von Kaiser Franz Josef ist.« Er klang ehrfürchtig.

  Ich nickte. »Das daneben ist vom russischen Zaren, das finde ich noch viel beeindruckender.« Ich lächelte und fühlte mich unendlich müde dabei. Die Übelkeit von heute Morgen war vielleicht doch nicht so harmlos, wie ich gedacht hatte.

  Als wir die Kapelle betraten, wartete Alexej an der Tür, um die Gäste zu begrüßen. Die meisten hatten bereits in den schmalen Bänken Platz genommen, und auch der General thronte in der ersten Reihe. Ich sah Ewa mit zerzausten Haaren neben Jaro sitzen. Sie trug ein Kleidchen, das ihr bis zu den Knöcheln reichte. Doch als Jaro nicht hinsah, zog sie es bis zur Hüfte hoch und begann, sich hemmungslos über die Strumpfhose zu kratzen.

  Alexej und Timo umarmten sich zur Begrüßung, wobei Timo ihm auf die Schulter klopfte und grinste. Als Alexejs Blick mich streifte, musterte er mich besorgt. Er nahm meine Hand und drückte sie.

  »Alles in Ordnung?«

  Wie sollte ich ihm das erklären? Es kam mir so vor, als würde Sergius aus seinem Grab die Arme nach mir ausstrecken, und ich schüttelte den Schauder ab, der mir über den Rücken lief. »Es ist nichts. Lass uns nach dem Konzert darüber reden, ja?«

  Er beugte sich zu mir herunter, und seine Lippen streiften meine Wange zu einem Kuss, der aber überhaupt nichts Flüchtiges an sich hatte. Vielmehr schien Alexej mich nur noch genauer unter die Lupe zu nehmen. Ich war mir fast sicher, dass er an mir roch, und in meinem Magen baute sich ein mulmiges Gefühl auf.

  »Du hast Fieber, Isabeau.«

  »Quatsch«, sagte ich. »Ich bin nur nervös. Ich … setze mich vorne zu Ewa, damit sie nichts anstellt. Hoffentlich versucht sie nicht zu sprechen.« Ich ließ meinen Blick über die Reihen gleiten und blieb an einem Mann hängen, der mir vage bekannt vorkam. Ich dachte, dass ich ihn schon einmal in Jaros Begleitung gesehen hatte. Er war etwa in Alexejs Alter, nur von der Statur wesentlich runder, was zusätzlich noch unterstrichen wurde, weil der Anzug, den er trug, ihm viel zu klein war. »Ist das Milo?« Es musste einfach Milo sein. Mir war die Bewegung seines Oberkörpers, seine ganze Haltung so vertraut. Nur die glatten hellbraunen Haare irritierten mich.

  »Ich stelle dich ihm nachher vor. András sitzt rechts von ihm, und Arwed ist auf der anderen Seite des Ganges.« Er flüsterte. »Hinter der Frau, die diesen unanständig ausladenden Hut trägt. Ich wette, sie wird nachher die Erste sein, die laut hustet.« Alexejs Augen zwinkerten humorvoll.

  Ich war so unendlich froh, dass er nicht mehr so nachdenklich war wie noch vor einer halben Stunde. Die Aufregung vor seinem Auftritt schien ihn zu beflügeln und alles andere in den Hintergrund zu drängen. Wie sollte ich ihm da ausgerechnet jetzt sagen, dass mit mir etwas ganz und gar nicht stimmte?

  »Bist du sicher, dass es dir gut geht?«

  »Nein«, sagte ich ehrlich. »Ich glaube, ich habe mir einen Virus eingefangen. Aber es ist bestimmt nicht so schlimm«, sagte ich schnell. »Ich lege mich einfach nach dem Konzert wieder ins Bett.«

  »Du musst es dir nicht anhören. Ich entschuldige dich beim General. Und du hast die einmalige Chance, dem anschließenden Empfang mit dem unsäglichen Geplapper zu entgehen. Eine meiner Schwestern ist gekommen. Es könnte sein, dass es unangenehm wird.«

  »Deine Schwester? Wo ist sie?« Mein Blick suchte unwillkürlich die Nähe des Generals.

  »Du wirst sie noch früh genug kennenlernen. Deshalb wäre es vielleicht besser, wenn du dich vorher ausruhst.«

  »Aber ich möchte dich so gerne spielen hören«, sagte ich und ließ mich von ihm zur Bank führen.

  Ich hatte mich danach gesehnt, Alexej zuzuhören. Er schenkte mir damit jedes Mal etwas von sich, was sich so sehr nach Liebe anfühlte. Und gerade in diesem Augenblick konnte ich das wirklich gut gebrauchen.

  Als ich mich in die Bank schob und Ewas kleine Hand na
ch meiner suchte, wurde ich ruhiger. Auch in der Kapelle wurde es still, dann applaudierten die Zuhörer, während Alexej und eine Frau im mittleren Alter, die eine Querflöte in der Armbeuge trug, ihre Plätze einnahmen.

  Langsam schreitend begann Alexej die Pavane zu spielen, und mein Herz flog ihm zu. Wie sollte es auch nicht, wo er seine ganze Empfindsamkeit in die Musik legte?

  Heiße Scham überflutete mein Gesicht bei der Vorstellung, wie ich ihm gleich gestehen würde, dass ich die Kompressen mit seinem Blut an ein Labor geschickt hatte. Ich kam mir vor wie eine Verräterin. Alexej hatte das nicht gewollt, und ich wusste nicht einmal genau, zu was Wassilij ihn alles gezwungen hatte, was er ihm alles angetan hatte. Und dann machte ich fast dasselbe hinter seinem Rücken? Zugegeben nicht, indem ich ihn folterte, aber es war trotzdem schrecklich hinterhältig.

  Das ganze Konzert über grübelte ich darüber nach, wie ich das Gespräch beginnen sollte. Und je länger es dauerte, umso mehr schaukelte sich meine Sorge hoch, und die Musik nahm ich kaum mehr wahr. Erst als der General einen erstickten Laut von sich gab, der verdächtig nach Empörung klang, holte mich das in die Wirklichkeit zurück.

  Dieses Lied. Alexej hatte tatsächlich seine Drohung wahr gemacht und weigerte sich, Debussy zu spielen. Stattdessen improvisierte er etwas, das mir mehr als bekannt vorkam.

  Neben mir wurde raschelnd das Programm aufgenommen, weil dem klassikverliebten Publikum das Stück sicher unbekannt war. Mir stockte der Atem. Hatte ich Alexej davon erzählt? Hatte ich ihm erzählt, dass Sergius genau dieses Lied so sehr mochte und wie sehr ich mich darüber gewundert hatte?

  Jemand klopfte mir von hinten auf die Schulter. Es war ein älterer Herr mit Fliege, der mich auf Tschechisch ansprach.

  »Es tut mir leid«, flüsterte ich, weil ich kein Wort von dem verstand, was er sagte.

  »Wie heißt dieses Stück?«, übersetzte seine Sitznachbarin und beugte sich vertraulich zu mir.

 

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