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002 - Free like the Wind

Page 7

by Kira Mohn


  «The Greatest Showman.»

  «Das ist dieser Zirkusfilm, oder?»

  «Keine Ahnung. Rae hat ihn vorgeschlagen.»

  «Na, dann viel Spaß. Grüß Haven von mir.»

  «Mach ich. Bis später vielleicht.»

  Noch von meinem Zimmer aus habe ich mir ein Uber bestellt, und als ich jetzt zur Haustür heraustrete, wartet es bereits am Straßenrand. In dem Moment, in dem ich mich auf die Rückbank sinken lasse, startet der Fahrer den Motor.

  Noch immer angespannt sehe ich aus dem Fenster. Es ist halb zehn, und die Dämmerung beginnt, sich über Edmonton herabzusenken. Das Licht der Straßenlaternen scheint zu zittern, aber vielleicht ist es auch nur meine Unruhe, die diesen Eindruck auslöst.

  Was ist denn los mit mir?

  Doch die Sache mit Tessa?

  Nein, das ist es nicht, aber ich bekomme auch nicht ansatzweise zu greifen, was dieses nervöse, beinahe schon gereizte Gefühl verursacht, das mich seit Tessas Brief im Griff hat.

  Der Fahrer hält vor dem Knox mitten auf der Straße, und dass die Wagen hinter ihm hupend auf die andere Spur ausweichen, kümmert ihn nicht im Geringsten. Seelenruhig wartet er, bis ich der Rechnung per App noch das Trinkgeld hinzugefügt habe, und er steht immer noch da und redet mit irgendeinem Typen, als ich die schwarze Metalltür zum Knox öffne, wo mir Musik und Stimmengewirr entgegenschlagen.

  Es ist ein riesiger Laden mit einer endlos langen Bar, dunkelrotem Mauerwerk und Lederstühlen vor dem Tresen. Kerzen auf Theke und Tischen sowie jede Menge altmodischer Leuchter an den Wänden sorgen für eine gewisse Behaglichkeit, die tropfenförmigen Edelstahllampen dagegen, die sich über dem Tresen entlangziehen, verhindern, dass alles spießig wirkt.

  Sämtliche Tische sind besetzt, aber mein Ziel ist ohnehin einer der gepolsterten Barhocker, wo ich mich niederlasse und einen der Barkeeper auf mich aufmerksam mache.

  «Einen Tom Collins», ordere ich und lehne mich leicht zurück, um mich umzusehen. Die Wahl ist schnell getroffen, schneller noch, als der Drink vor mir steht. Ganz in meiner Nähe sitzen drei Frauen vor bonbonfarbenen Cocktails, lachen ein bisschen zu laut und flirten mit dem Barkeeper vor ihnen, der gerade dabei ist, mehrere Gläser mit zerstoßenem Eis aufzufüllen. Sie kämen alle drei in Frage, am besten gefällt mir jedoch die Frau mit den dunklen Haaren ganz links, und weil sie spürt, dass ich sie mustere, blickt sie jetzt in meine Richtung. Ebenso schnell wie ich zuvor sie taxiert sie nun mich, dann lächelt sie. Sie hat ein herzförmiges Gesicht und trägt eine auffällige, schwarze Brille, und mich reizt bereits jetzt die Vorstellung, diese Brille vorsichtig beiseitezulegen. Als mein Drink vor mir abgestellt wird, nicke ich ihr zu, bevor ich den ersten Schluck nehme, und sie greift nach ihrem Glas und nickt zurück. Nur Minuten später sagt sie etwas zu ihren Freundinnen, rutscht vom Barhocker und verschwindet. Die beiden Frauen, die zurückgeblieben sind, mustern mich interessiert, aber fürs Erste kümmert mich das nicht weiter. Ich bin ziemlich sicher, dass die Dunkelhaarige gerade einen Abstecher zu den Spiegelwänden vor den Toiletten unternimmt und anschließend nicht zu ihrem Platz zurückkehren wird.

  Warum mich jedoch plötzlich der Drang überfällt, wieder zu gehen, weiß ich nicht. Verflucht noch mal, gäbe es einen Schalter, um meinen blöden Kopf auszuschalten … ich bestelle einen zweiten Drink.

  «Hi, ich bin Emily. Bist du häufiger hier? Ich habe dich noch nie hier gesehen.»

  Ich hatte recht.

  «Hi, Emily.»

  So einfach. Es geht alles immer viel zu einfach, aber ist das überhaupt wichtig? Ist überhaupt irgendwas wichtig?

  Ich stehe auf, um Emily meinen Hocker zu überlassen.

  Letzten Endes spielt doch absolut nichts in meinem Leben irgendeine Rolle.

  5.

  Rae

  Die Frage ist vielleicht gar nicht, ob ich Lust habe, eine Weile aus allem rauszukommen.

  Die Frage ist wohl eher, ob ich mal eine Weile rauskommen muss.

  Ich habe The Greatest Showman oft genug gesehen, um meinen Gesichtsausdruck mühelos den einzelnen Szenen anpassen zu können. Es fällt deshalb nicht weiter auf, dass ich nicht wie Haven und Jackson der Handlung folge, sondern vor meinem inneren Auge etwas ganz anderes sehe. In Endlosschleife rattert der Kurzfilm von gestern Abend durch meinen Kopf. Wenn ich mich nicht im letzten Moment zurückgerissen hätte …

  «Die Musik ist toll!» Haven ist offensichtlich hingerissen. Sie umarmt gerade ein Kissen und hat sich weit nach vorn gelehnt, als wolle sie gleich vom Sofa hüpfen und sich wie ein Kind direkt vor den Fernseher setzen. Jackson betrachtet sie mit diesem Blick, bei dem mein Herzschlag immer langsamer zu werden scheint, weil so viel Glück und so viel Liebe herauszulesen sind. Heute allerdings drängeln sich sofort wieder andere Gedanken dazwischen.

  Zanes entgeisterte Miene und diese Wut in mir … oh Gott, ich war so voller Wut, selbst jetzt kann ich sie noch spüren.

  Als ich die Therapie damals abgebrochen habe, dachte ich, es sei letzten Endes ganz allein meine Sache, wie ich mit allem klarkomme, aber vielleicht stimmt das gar nicht.

  Vielleicht ist vielmehr wichtig, wie die Welt mit mir klarkommen kann. Und ob überhaupt.

  Vielleicht sollte ich wirklich einfach ein paar Schritte zurücktreten, untertauchen, und zwar so lange, bis ich weiß, wie ich weitermachen will.

  Und ob ich weitermachen kann.

  Jetzt gerade habe ich Angst, es nicht zu können. Manchmal ist man vielleicht zu zerbrochen. Nicht alles lässt sich kitten, und wenn das eigene Innere aus Milliarden Scherben besteht, ist es schlichtweg unmöglich, kleinste Splitter wieder zusammenzufügen. Ich habe es versucht, ernsthaft versucht, doch in jedem einzelnen Fragment ließ sich Leahs Gesicht erahnen.

  Oder war es meins?

  «Rae?» Haven mustert mich.

  Ich bemühe mich um ein Lächeln. «Ja?»

  «Wir haben uns gerade gefragt, ob wir uns heute noch einen zweiten Film ansehen, oder wird es dir dann zu spät?»

  Das ging mal wieder an mir vorbei, sowohl Havens Frage als auch die Tatsache, dass bereits der Abspann läuft, aber der Film war offenbar so gut, dass Haven meine Unaufmerksamkeit darauf schiebt. Ich werfe einen Blick auf die Uhr. Kurz nach Mitternacht. Mum beginnt gerade, sich Sorgen zu machen.

  «Du könntest hier übernachten, wenn du magst», bietet Jackson an. «Es gibt ein Gästezimmer. Sogar mit Bad.»

  «Ich weiß nicht … Ich müsste das mal eben zu Hause klären.»

  «Klar, frag deine Mutter», erwidert Haven mit größter Selbstverständlichkeit. Der überraschte Ausdruck, der kurz auf Jacksons Gesicht zu sehen ist, entgeht mir nicht. Im Gegensatz zu Haven, die immer alles mit ihrer Tante abspricht, verschwendet er im Allgemeinen keinen Gedanken an seine Eltern, wieso auch? Und vermutlich hat er bis gerade eben angenommen, dass ich das auch nicht tun würde. Ich stehe auf, um in der Küche ungestört telefonieren zu können.

  «Warte.» Jackson erhebt sich ebenfalls. «Ich zeig dir mal das Gästezimmer.» An der Küche vorbei führt er mich in einen weiteren Flur und öffnet dort eine der Türen. «Das Bad ist direkt daneben.» Ein verlegenes Grinsen, dann lässt er mich allein. Vermutlich erkundigt er sich jetzt bei Haven, warum ich erst meine Mutter fragen muss, ob ich hier übernachten darf. Dazu wird sie ihm nicht viel erzählen können. Irgendwann rede ich mit Haven über alles, über wirklich alles. Glaube ich. Wenn nicht mit ihr, dann mit niemandem.

  Das Zimmer ist für die Verhältnisse dieser Villa eher klein. Ein Doppelbett mit hellgrauen Laken steht vor der riesigen Fensterfront, die auch hier mal wieder die halbe Wand einnimmt. Sicher, alles ist hell und luftig dadurch, aber die Nachbarhäuser stehen echt nah – für mich wäre das nichts, auch wenn ich von hier aus nicht direkt in ein anderes Zimmer gucken kann.

  Ich tippe Mums Nummer an und setze mich auf die Bettkante.

  «Rae, hallo – wieso rufst du an? Ist alles okay?»

  «Ja, sicher. Ich wollte dir nur Bescheid sagen, dass ich heute woanders übernachte.»

  Ein kurzer Moment der Stille. «Woanders? Wo denn?»

  «Bei Jackson. Havens Freund. Haven ist auch hie
r.»

  Mum hat Jackson noch nicht kennengelernt, aber das ist wahrscheinlich nicht der einzige Grund, weshalb ich noch immer ihr Zögern spüren kann. Sie erträgt es einfach nicht, mich nicht unmittelbar um sich zu haben.

  «Okay», sagt sie jetzt trotzdem, «dann wünsche ich dir noch viel Spaß – was macht ihr gerade?»

  «Wir haben uns einen Film angesehen.»

  «Ach ja, richtig. Dann also – wann bist du morgen wieder da?»

  «Irgendwann nach dem Frühstück.»

  «Gut. Gut, viel Spaß, Rae», wiederholt sie noch einmal. «Ich hab dich lieb.»

  «Ich dich auch, Mum», erwidere ich und lasse Sekunden später das Telefon in meinen Schoß sinken. Wo bist du? Was machst du? Wann bist du wieder zu Hause? Ich hab dich lieb, ich dich auch.

  Wahrscheinlich hätte ich dieses Gespräch problemlos im Beisein von Haven und Jackson führen können, doch irgendwie befürchte ich, dass man die Dringlichkeit und die Angst, die hinter jeder von Mums Fragen steht, sogar dann herausspüren kann, wenn man ihre Stimme nicht hört.

  Wäre ich wirklich in der Lage gewesen, zuzutreten? Im letzten Moment habe ich mich gebremst, und es wäre schön, daran glauben zu können, dass ich zu so etwas gar nicht fähig wäre, aber … was, wenn doch?

  Ich sollte Mum einfach von Zane erzählen und daraufhin für den Rest meines Lebens Hausarrest kriegen. Oder eben vielleicht …

  Es klopft, und Haven steckt den Kopf durch die Tür. «Und? Bleibst du noch?»

  «Ja … hör mal, Haven …» Ich stehe auf und zwinge mich sofort zum nächsten Satz. Jetzt keinen Rückzieher machen. «Du hast vielleicht recht mit dem, was du neulich gesagt hast. Ich glaube, ich muss wirklich mal eine Weile aus allem raus, und … würdest du mir helfen, so eine Wandertour zu organisieren?»

  «Natürlich! Ich kann gleich morgen Vormittag meinen Vater anrufen. Wann willst du los? Wenn du nicht vor Ende Juli planst, könnte ich auch mitkommen.»

  «Nein, ich will das allein durchziehen. Es ist … du verstehst das nicht falsch, oder? Ich hab das Gefühl, es wäre gut, mal niemanden um mich zu haben, weil ich sonst …» Ich gerate ins Stocken.

  «Weil du sonst wieder abgelenkt wirst?»

  Obwohl es das nicht ganz trifft, nicke ich einfach. Keine Ahnung, warum ich wirklich allein sein will. Ist ja auch nicht wichtig.

  Nebeneinander kehren wir zum Wohnzimmer zurück. Jackson blickt uns entgegen, er hat die Popcornschale aufgefüllt.

  «Okay, was wollen wir gucken?» Haven lässt sich neben ihn fallen und zieht die Beine unter sich. «Rae bleibt noch. Wir könnten aber auch gleich ein wenig planen, wenn du willst.»

  «Ähm …» Das geht mir jetzt zu schnell.

  «Was können wir planen?», wirft Jackson ein.

  «Raes Wandertour durch den Jasper National Park», erklärt Haven, und eine Sekunde lang wundere ich mich darüber, wie schnell aus einer vagen Idee plötzlich ein konkretes Vorhaben geworden ist.

  «Eine Tour durch Jasper?» Jackson sieht mich an, als wundere er sich ebenfalls, und ich recke das Kinn vor. Kein Grund, mich erstaunt anzugucken. Warum sollte ich das nicht hinkriegen?

  «Du könntest dir einiges an Zeug von mir ausleihen», fährt Jackson jedoch fort. «Falls dir noch was fehlt.»

  «So ziemlich alles, fürchte ich», gebe ich zu. «Eventuell komme ich darauf zurück.»

  Bevor Jackson antworten kann, sind Schritte auf der Wendeltreppe zu hören, und im nächsten Moment erscheint Cayden auf der Bildfläche. Mist, den habe ich ganz vergessen. Vielleicht war das mit der Übernachtung doch keine gute Idee.

  «Hi.» Er stockt in der Bewegung, als er uns sieht, dann bringt er die letzten Stufen hinter sich.

  «Hi», erwidert Jackson. «Mit dir hätte ich so früh nicht gerechnet.»

  «Es ist nach Mitternacht», bemerkt Haven.

  Cayden reagiert weder auf Jacksons noch auf ihren Kommentar. Er mustert uns mit einem Blick, bei dem ich mich unwillkürlich frage, was genau sich in dieser Sekunde wohl in seinem Kopf abspielt. Irgendwie sieht er sehr … jung aus, finde ich. Verwirrt. Ist er überrascht, uns alle hier vor dem Fernseher vorzufinden? So ungewöhnlich ist das ja wohl nicht.

  «Willst du dich zu uns setzen?», fragt Haven. «Es gibt noch Popcorn.»

  Kurz scheint er zu überlegen, doch als er nur seltsam steif den Kopf schüttelt, wird mir klar, dass er einfach dem Gespräch ein wenig hinterherhinkt. Ist er betrunken?

  «Ich glaube, ich bin zu fertig», sagt er, woraufhin Jackson, der sich gerade zur Chipsschüssel vorgebeugt hat, aufsieht und ein Seufzen von sich gibt. «Dann penn dich lieber aus.»

  So vorsichtig, wie er gerade noch den Kopf geschüttelt hat, durchquert Cayden das Wohnzimmer. Sorgfältig setzt er einen Schritt vor den anderen und wirkt dabei angespannt und konzentriert. Höchstwahrscheinlich ist er wirklich betrunken.

  Unmittelbar vor dem Sofa gleitet sein Blick noch einmal zu uns, bleibt an mir hängen, und ich atme langsam ein. Bisher kannte ich Cayden nur selbstsicher, spöttisch, unnahbar, doch jetzt sind seine Augen schwarze Löcher hinter weißblonden Haarsträhnen, und er wirkt seltsam verletzlich. Als würde er gleich auf die Knie sinken. Jeder Muskel in mir spannt sich an, ich bin kurz davor, aufzuspringen und ihn zu stützen, da geht er einfach weiter, verschwindet in dem Flur zu seinem Zimmer, ohne sich noch einmal umzudrehen.

  Im Zurücklehnen atme ich aus.

  Jackson scrollt sich durch das Streaming-Angebot, während Haven mich mustert. «Dir geht’s gut, oder?»

  «Ja, aber …»

  Aber was? Aber hast du dir Cayden gerade mal genauer angeschaut? Warum sollte ich das jetzt ansprechen? Nur weil ich ein paar Sekunden lang dachte, er sei … er sei …

  «Also, planen wir jetzt deine Wandertour, oder gucken wir uns noch einen Film an?», fragt Jackson.

  «Film», sage ich sofort. Solange ich nicht mit meiner Mutter gesprochen habe, kann ich mir jede Planung schenken.

  «Wie wäre es mit einem Marvelstreifen?»

  «Nein, lieber was Lustiges», entgegnet Haven.

  «Die sind alle lustig.»

  Ich sehe ihnen zu, wie sie beide lachend versuchen, die Fernbedienung an sich zu bringen, doch meine Gedanken sind noch immer bei Cayden.

  Hätte ich Haven auf ihn ansprechen sollen, weil ich ein paar Sekunden lang dachte, in seinem Blick etwas zu lesen, das ich nur zu gut kenne? Weil es mir so oft im Spiegel entgegenschimmert?

  Sollte dieser Eindruck nicht täuschen, kommt Cayden jedenfalls bei weitem nicht so gut mit sich klar, wie es für gewöhnlich den Anschein hat.

  Cayden

  Das Mädchen mit den blauen Haaren saß gestern Nacht auf dem Sofa, und sie hat mich angesehen, als wüsste sie, wer ich wirklich bin.

  Gleißend hell breitet die Sonne ihre Strahlen über mein Bett, als dieser Gedanke so ungefähr das Erste ist, was das wattige Grau in meinem Schädel durchdringt.

  Rae. So heißt sie.

  Es ist gerade einmal kurz nach zehn, und ächzend strecke ich mich lang auf der Matratze aus. Mein Schädel pulsiert in Wellen.

  Angestrengt versuche ich mich daran zu erinnern, was gestern Abend noch passiert ist. Ich war im Knox, so viel weiß ich, und da war diese Frau, Emma, glaube ich. Wir haben uns unterhalten, wir haben getrunken, und … ich bin plötzlich gegangen. Einfach so. Irgendwas habe ich ihr erzählt, keine Ahnung mehr, was, und dann … bin ich mittendrin gegangen.

  Glasig mustere ich die Klamotten, die wirr neben meinem Bett liegen. Was habe ich mir dabei eigentlich gedacht? Nicht mehr viel, schätze ich. Ich bin ins Knox gegangen, um jemanden wie Emma kennenzulernen, aber letzten Endes habe ich mich nur mit Tom herumgetrieben. Zwei lächerliche Drinks, und das schießt mich so ab? Okay, es waren drei. Und außerdem gibt es da noch die drei Wodka Lemon, die du zu Hause getrunken hast, erklärt mir mein Hirn und klingt dabei ein bisschen wie Jax.

  Halt die Klappe, Hirn.

  Dann waren es eben ein paar Drinks zu viel, na und?

  Ich richte mich auf und sinke sofort wieder zurück, als sich ein violetter Schleier vor meine Augen legt. Gott. So hinüber war ich ewig nicht
mehr. Habe ich gestern eigentlich irgendwas gegessen? Eventuell nicht.

  Das sollte ich dann wohl jetzt gleich mal tun, auch wenn ich keinen Hunger verspüre. Und mir die Zähne putzen.

  Aber zuerst: das Projekt In die Senkrechte kommen angehen.

  Wenig später in der Küche, mit dem Geruch von Espresso in der Nase und einer trockenen Toastscheibe im Magen, fühle ich mich nicht mehr ganz so verkatert. Die Kopfschmerzen sind allerdings noch da, mit jeder Bewegung scheinen sie sogar an Intensität zu gewinnen. Ich schließe die Augen und beiße dabei in einen zweiten Toast. Am besten, ich nehme eine Tablette, damit mir nicht demnächst der Kopf explodiert. Vorsichtig kauen, vorsichtig schlucken, vorsichtig die Espressotasse an die Lippen setzen.

  «Guten Morgen», sagt jemand, und ich sehe auf.

  Vor mir steht Rae, mit ungekämmtem, blauem Haar und einem weiten Shirt, das ich von Jackson kenne. Sie trägt Sneakersocken, aber keine Hosen, der Saum des T-Shirts reicht ihr bis über die Mitte der Oberschenkel. Direkt vor dem Durchgang zur Küche ist sie stehen geblieben und scheint nicht recht zu wissen, ob sie hereinkommen oder wieder gehen soll.

  «Espresso?», frage ich.

  «Ist Milch da?»

  «Keine Ahnung.» Mit ein paar Schritten bin ich beim Kühlschrank. «Yep, du hast Glück.»

  «Kann ich mir einen Milchkaffee machen?»

  «Klar», erwidere ich und reiche ihr die Tüte.

  Raes Blick streift mich nur kurz. «Wo sind hier Töpfe?»

  «Hier.» Ich öffne eine Schublade in dem Schrank neben mir und schließe sie wieder, nachdem Rae einen Topf herausgeholt hat.

  Es piepst, als sie das Induktionsfeld aktiviert. Die Milch beginnt beinahe unmittelbar, Blasen zu werfen, und erst jetzt fällt ihr auf, dass sie sich im Vorfeld nicht um den Espresso gekümmert hat.

  «Ist noch Kaffee da?», fragt sie und zieht automatisch den Topf zur Seite, während sie den Herd ausschaltet.

  Wortlos nehme ich eine der kleinen Tassen, die kopfüber auf der Espressomaschine stehen, und rücke sie unter den Siebträger, den ich für meinen zweiten Espresso bereits wieder gefüllt hatte. Eine halbe Minute später stelle ich ihr erst das Tässchen mit dem dampfenden Inhalt und daneben eine noch größere Tasse hin, damit sie sich ihren Espresso-Milch-Mix machen kann.

 

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