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002 - Free like the Wind

Page 13

by Kira Mohn


  «Es ist okay, wenn du bleibst, wie du bist. Zumindest was die Klamotten betrifft», füge ich unüberlegt hinzu.

  «Du meinst, ansonsten sollte ich lieber nicht so sein, wie ich bin? Okay.»

  Er richtet sich auf und nimmt die Hände aus den Taschen. Auf seinem Gesicht erscheint ein geradezu unfassbar liebenswürdiger Ausdruck. Allein sein Lächeln würde vermutlich die meisten Menschen dazu bringen, ihm jedes Geheimnis anzuvertrauen. Wenn er so vor meiner Mutter steht, muss ich mir keine Gedanken mehr über die Wandertour machen.

  Hat er letzte Nacht auch so gelächelt? Ich glaube nicht.

  «Wie heißt deine Mutter?», fragt er.

  «Was?»

  «Wie deine Mutter heißt?»

  «Ähm … sie heißt … meine Mutter heißt Bian. Meine Urgroßmutter kommt aus Vietnam», füge ich erklärend hinzu.

  «Also, dann … Bian.»

  Cayden sieht mich an, um sich zu vergewissern, ob er den Namen richtig ausspricht. Noch immer bin ich völlig perplex über die Veränderung, die sich gerade vor meinen Augen abgespielt hat.

  «Hi, Bian, ich bin Cayden.» Er kommt auf mich zu und streckt mir mit einem so herzlichen Lächeln die Hand entgegen, dass ich sie automatisch ergreife. Warm schließen sich seine Finger um meine. «Ich freue mich, dich kennenzulernen, das war längst mal überfällig, oder? Rae und ich kennen uns ja schon eine Weile, aber für dich ist es bestimmt wichtig zu wissen, wer da abends das Zelt deiner Tochter aufbaut. Wow, ein tolles Haus übrigens.»

  Erst nach einigen Sekunden wird mir bewusst, dass ich mit geöffnetem Mund dastehe. Und dass meine Hand noch immer in Caydens liegt. Hastig ziehe ich sie zurück.

  «Ich kann mein Zelt selbst aufbauen», erwidere ich schwach. «Und du musst nicht so dick auftragen. Sei einfach ganz normal.»

  Das Ding ist, dass sogar ich gerade Schwierigkeiten hatte, ihm nicht jeden Satz abzunehmen. So vertrauenerweckend und charmant hat er noch nie auf mich gewirkt, er war so unfassbar … sympathisch.

  Gruselig.

  Was für ein begnadeter Schauspieler. Darüber, dass in dieser Sekunde der übliche leicht spöttische Ausdruck in sein Gesicht zurückkehrt, bin ich tatsächlich dankbar. Da weiß ich doch zumindest, woran ich mit ihm bin. Oder?

  Weiß ich das?

  Himmel, kann man das bei einem Menschen wie Cayden jemals wirklich wissen?

  «Was denn jetzt?», unterbricht er meine Gedanken. «Soll ich wie immer sein, oder soll das mit dieser Tour was werden?»

  «Du sollst …»

  «Das war doch toll!»

  Dass Haven noch zusammen mit Jackson am Tisch sitzt, habe ich in den letzten Minuten glatt vergessen.

  «Ich fand das jedenfalls sehr nett.»

  «Absolut», stimmt Jackson zu. «Und nachdem deine Mutter ja nicht weiß, dass Cayden normalerweise so ungefähr das Gegenteil von nett ist, Rae, wird sie bestimmt begeistert von ihm sein.»

  «Wieso bin ich nicht nett? Ich finde mich ziemlich nett.» Cayden hat wieder seine vorhergehende Pose eingenommen und lehnt mit den Händen in den Taschen an der Arbeitsplatte, doch noch immer sehe ich ihn vor mir, wie er mich anlächelt; auf eine Art anziehend, die völlig neu für mich war. Das muss ich mir merken. Wie perfekt dieser Mann sich verstellen kann.

  «Klärt ihr das mit deiner Mutter also jetzt?» Haven beginnt damit, die restlichen Teller zusammenzustellen. Sie mustert erst mich, dann Cayden.

  «Wegen mir können wir das gleich erledigen», sagt der, und ich atme einmal tief durch.

  «Okay, dann los.»

  Ich bin nicht mit dem Auto da, also nehmen wir Caydens Wagen. Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich in einem Sportwagen sitze, und es ist um Längen bequemer, als ich mir das vorgestellt habe. Das weiche Leder scheint sich richtiggehend an mich heranzukuscheln. Man sitzt allerdings so tief, dass man gefühlt kaum über den Bordsteinrand gucken kann.

  «Es gibt also nichts, was ich besser noch wissen sollte?», fragt Cayden, ohne den Blick von der Straße zu nehmen. «Irgendetwas, das ich auf keinen Fall erwähnen darf, zum Beispiel?»

  «Nein. Du musst nur sagen, dass du dabei bist, mehr nicht.»

  «Und sollte deine Mutter von der ganzen Idee trotzdem nichts halten, ist die Sache gestorben?»

  Gestorben. «Genau», erwidere ich gepresst und habe plötzlich fast zu wenig Luft für dieses einzelne Wort.

  Cayden wirft mir einen prüfenden Blick zu, und ich versuche mich an einem möglichst gleichmütigen Gesichtsausdruck. Was Schauspielerei betrifft, ist Cayden mit Sicherheit nicht zu schlagen, aber ich bin auch nicht schlecht.

  «Warum?», fragt er jetzt.

  «Wie – warum?»

  «Warum würdest du alles knicken, nur weil deine Mutter nicht einverstanden ist?»

  Er betont das Wort Mutter auf eine Art, die mich stört.

  «Na ja, es ist nun mal meine Mutter. Mir ist es wichtig, dass es ihr damit gutgeht, auch wenn dir so was eher egal zu sein scheint.»

  Ich stelle mich auf eine sarkastische Erwiderung ein, doch die bleibt aus.

  «Hier jetzt rechts, die Straße fast ganz runter,und dann noch mal rechts. Da kannst du dann gleich halten», sage ich schließlich.

  Kurz darauf steige ich aus, bevor Cayden mir die Tür öffnen kann, und mustere ihn unauffällig, während er um den Wagen herum auf mich zutritt. Er trägt ein helles Shirt über einer grauen, perfekt geschnittenen Hose, sein Interesse gilt in diesem Moment unserem Haus, und er bekommt nicht mit, dass ich gerade abzuwägen versuche, wie er wohl auf Mum wirken wird. Er sieht locker aus und trotzdem auf eine ganz natürliche Art elegant. Vertrauenswürdig. Ein Typ, der mit sich und der Welt im Reinen ist.

  Wobei ich glaube, dass Letzteres nicht stimmt.

  Warum will Cayden mich eigentlich bei dieser Tour begleiten? Er hat nur gesagt, er würde gern mitkommen, aber ich habe ihn nicht gefragt, wieso eigentlich.

  «Nette Gegend.»

  «Mich musst du von nix überzeugen.»

  «Ich meine das so.» Er tritt die Stufen zur Veranda hinauf und schaut sich nach mir um, als ich ihm nicht gleich folge. «Also?»

  Plötzlich entschlossen, dränge ich mich an ihm vorbei. Letzten Endes kann mir völlig egal sein, warum es Cayden für mehrere Wochen in einen Wald zieht. Vielleicht treibt ihn nur die Langeweile.

  In dem Moment, in dem ich die Haustür aufschließe, wird mir bewusst, dass ich Mum vielleicht auf dieses Treffen hätte vorbereiten sollen. Abgesehen von Haven habe ich schon seit Ewigkeiten niemanden mehr mit nach Hause gebracht, und einen Typen schon gar nicht. Früher haben mich meine Freundinnen ganz selbstverständlich ohne jede Ankündigung besucht, aber diese Zeiten sind lange vorbei.

  «Mum?», rufe ich. «Ich bin wieder da – ich habe jemanden mitgebracht.» Verdammt – wie klingt das denn? Als hätte ich einen Hund von der Straße aufgelesen.

  Cayden bemerkt die Unnatürlichkeit dieser Äußerung ebenfalls. Überrascht schaut er mich an. «Das machst du nicht so oft, oder?», fragt er.

  Im nächsten Moment erscheint meine Mutter im Hausflur und enthebt mich dadurch einer Antwort.

  «Hallo.» Auch ihr ist die Überraschung anzusehen, wodurch sie Caydens Bemerkung bestätigt. «Damit hätte ich jetzt nicht gerechnet.»

  Okay, jetzt ist es offiziell – ich bringe niemals Freunde mit.

  «Tut mir leid», höre ich neben mir.

  Er tut es wieder. Cayden hat sich in jemanden verwandelt, der meiner Mutter mit einem Lächeln, in dem ein Hauch Reue mitzuschwingen scheint, die Hand entgegenstreckt.

  «Es war eine ganz spontane Entscheidung. Ich bin Cayden Terrell.»

  «Freut mich, dich kennenzulernen, Cayden, ich bin Bian – ich wünschte, meine Tochter hätte mir vorher Bescheid gesagt, dann hätte ich …» Die Handbewegung, mit der sie jetzt auf alles und nichts zeigt, macht mir klar, wie überfordert sie gerade ist. Oder ahnt sie schon etwas? «Dann hätte ich ein wenig aufgeräumt.»

  Spätestens jetzt dürfte auch Cayden merken, dass meine Mutter ziemlich durcheinander ist. In diesem Haus ist immer alles aufgeräumt – genau genommen ist Putzen für meine Mutter nach Koc
hen und Backen seit fast drei Jahren zu ihrer Hauptbeschäftigung geworden, wenn sie zu Hause ist.

  «Aber nicht wegen mir.»

  Sein Lächeln ist jetzt verständnisvoll, fast schon freundschaftlich. Als würden meine Mutter und er sich schon ewig kennen. Und Mum … sie hat überhaupt keine Chance. Offensichtlich fasziniert lächelt sie zurück, und ich muss mich enorm zusammenreißen, um die Harmonie zwischen den beiden nicht durch irgendeine bissige Bemerkung zu zerstören. Ich will ja, dass Cayden sich Mühe gibt. Er soll Mum davon überzeugen, dass eine Wanderung mit ihm durch den Jasper National Park nichts wäre, über das man sich Sorgen machen müsste. Und trotzdem stört es mich, dass meine Mutter bereits angesichts seines ersten Lächelns zu kapitulieren scheint. Wenn sie wüsste, dass Cayden der größte Frauenaufreißer in der Geschichte Edmontons ist.

  «Wollt ihr nach oben, Rae? Oder was habt ihr vor?»

  «Wir gehen gleich hoch, aber eigentlich wollten wir vorher kurz mit dir sprechen.»

  Cayden ist nichts anzumerken angesichts der Tatsache, dass ich ihn gerade dazu verdonnert habe, nach dem Gespräch mit meiner Mutter noch mit auf mein Zimmer zu kommen. Aber er kann hier ja nicht nur aufkreuzen, meine Mutter bequatschen und wieder verschwinden.

  «Das habe ich mir fast gedacht.» In Mums Stimme schwingt ein leichtes Seufzen mit. Nicht einmal Cayden ist in der Lage, sie wundersamerweise all ihre Bedenken vergessen zu lassen. Beruhigend.

  «Setzen wir uns doch ins Wohnzimmer. Möchtest du etwas trinken, Cayden?»

  «Ein Wasser, wenn es keine Umstände macht.» Er löst sich von meiner Seite und folgt meiner Mutter ganz selbstverständlich in die Küche. «Leitungswasser reicht völlig.»

  Ich stehe neben den Garderobenhaken wie bestellt und nicht abgeholt. Aus der Küche höre ich Cayden noch etwas sagen, dann lacht meine Mutter, und ich möchte mir an die Stirn greifen.

  Wieso um alles in der Welt bemerkt sie denn nicht, dass er sie gerade mit Leichtigkeit um den Finger wickelt?

  Und warum stelle ich diese blöde Frage überhaupt – sogar ich habe vorhin einfach seine Hand ergriffen, obwohl ich von der ersten Sekunde an wusste, dass er eine Show abzieht.

  Ergeben gehe ich in unser Wohnzimmer, meine Mutter und Cayden folgen unmittelbar aus der Küche heraus. Er balanciert ein Tablett vor sich her und grinst mich an, als sei er der Kellner in einem Café. Hi, ich bin Cayden, was kann ich für dich tun?

  «Einfach auf den Tisch, genau.» Mum schiebt eine Zeitschrift zur Seite, um Platz für das Tablett zu machen. Ein Krug Wasser steht darauf, und es schwimmen sogar Limonenscheiben darin. Sie füllt die drei Gläser, die Cayden ebenfalls hereingebracht hat, und setzt sich dann auf einen der beiden cremeweißen Sessel. Cayden lässt sich mitten auf dem Sofa nieder, und ich entscheide mich für den Platz rechts neben ihm, statt den zweiten Sessel zu wählen. Sobald ich mich gesetzt habe, kommt mir das übertrieben vor – es geht hier ja nicht um einen Antrag, sondern nur darum, Cayden meiner Mutter als Wanderbegleitung vorzustellen. Allerdings wäre es bescheuert, jetzt den Platz noch mal zu wechseln.

  «Also.» Mum seufzt bei dieser Eröffnung nicht noch einmal, sieht aber so aus, als würde sie gern. «Ich nehme an, ihr zwei werdet demnächst gemeinsam zum Jasper National Park aufbrechen.» Sie schaut zu mir. «Ich muss ehrlich sagen, ich hätte nicht gedacht, dass du so schnell jemanden auftreiben würdest, der bereit ist, mitzukommen.»

  «Es war ein Zufall.» Cayden sitzt entspannter da als meine Mutter und ich zusammen. «Ich hatte so eine Tour ohnehin mal wieder geplant – mit einem Freund zusammen war ich schon letztes Jahr im Jasper National Park, hab mir da aber den Fuß verstaucht und musste deshalb abbrechen.»

  «Das tut mir leid … wie ist das denn passiert?», will meine Mutter wissen.

  Mit hundertprozentiger Sicherheit wird Cayden jetzt keinen Bären erwähnen, also verfolge ich nur zunehmend beeindruckt, wie er meine Mutter mit jedem Satz mehr und mehr für sich einnimmt.

  Er erzählt, wie er morgens aus dem Zelt kam und noch im Halbschlaf über eine der Zeltschnüre stolperte. Kein Wort über Jackson, der drauf und dran war, die Klippen runterzuspringen, und auch nicht die leiseste Andeutung, dass die beiden verbotenerweise wild gecampt haben.

  Stattdessen erwähnt er beiläufig die Postkartenidylle des Horseshoe Lake und welchen Eindruck die Umgebung auf ihn gemacht habe. Diese Weite, diese Stille – meine Mutter nickt ein ums andere Mal, mittlerweile liegt ein leicht verklärter Ausdruck auf ihrem Gesicht.

  «Ein Elch ist uns auch noch begegnet – ich wünschte, ich hätte ein Foto davon. Aber ich war zu überrascht, und er war dann auch zu schnell wieder verschwunden.»

  «Ein Elch? Wirklich?», werfe ich ein. «Das hast du nie erzählt.»

  Noch während ich das sage, wird mir bewusst, dass Cayden und ich uns ja auch noch nie über seinen kurzen Aufenthalt im Nationalpark unterhalten haben – alles, was ich darüber weiß, habe ich von Haven oder Jackson erfahren.

  «Er stand nicht weiter von mir entfernt als von hier bis zur Haustür. Ich hab sogar noch mein Smartphone rausgeholt, aber er war so schnell wieder weg – eine solche Geschwindigkeit würde man so einem riesigen Tier gar nicht zutrauen.»

  «Neulich habe ich ein Dokumentation über den Jasper National Park gesehen», beginnt meine Mutter, und Augenblicke später unterhalten sie sich so angeregt über irgendwelche Seen und Wasserfälle und die unglaubliche Größe und Weite und Schönheit der Landschaft, als habe meine Mutter ihr Wissen nicht nur aus dem Fernsehen und Cayden die Wandertour im letzten Jahr nicht nach einem Tag abgebrochen.

  Er macht das gut. Hört zu und geht auf das ein, was Mum erzählt. Eindeutig keiner von diesen Leuten, die im Geiste bereits Sätze formulieren und nur darauf warten, dass ihr Gegenüber mal Luft holen muss, um das Gespräch wieder an sich zu reißen. Auch wenn das zu seiner augenblicklichen Rolle gehört – man muss das ja trotzdem erst einmal können.

  Mum scheint jedenfalls vorübergehend vergessen zu haben, warum Cayden in unserem Wohnzimmer sitzt. Wir bekommen selten Besuch, und es ist nicht zu übersehen, dass es ihr Spaß macht, sich einfach mal wieder unbeschwert mit jemandem zu unterhalten. Ich würde sagen, die Wandertour ist beschlossene Sache.

  «Also gut», fasst meine Mutter dann auch kurz darauf zusammen. «Ich muss zugeben, dass mir nicht wirklich wohl bei dem Gedanken war, dass Rae allein durch die Wildnis ziehen will. Es kann ja doch immer etwas Unvorhergesehenes passieren.» Sie sagt das zu Cayden, wendet sich dann jedoch mir zu, während ich noch dabei bin, die Gedanken abzuwehren, die aufgrund der unvorhergesehenen Dinge in mir aufsteigen wollen. «Aber wenn ihr diese Wanderung jetzt gemeinsam macht, ist das in Ordnung für mich.» Sie lächelt ein wenig unglücklich. «Auch wenn ich mir wohl trotzdem Sorgen machen werde.»

  «Würde es vielleicht helfen, wenn wir jeden Tag zu einer festen Zeit anrufen?», höre ich Cayden sagen, und der Blick meiner Mutter richtet sich wieder auf ihn. Ich sehe, wie sich ihre Finger ineinander verhaken, und weiß plötzlich, was sie als Nächstes sagen wird.

  «Mum …»

  «Das wäre nett, ja. Es tut mir leid, Cayden, ich wünschte, ich könnte in dieser Hinsicht gelassener sein, aber Rae hat dir ja sicher von Leah erzählt …»

  Oh Gott, nein, ich habe niemandem von Leah erzählt! Und Cayden schon gar nicht!

  «… und es fällt mir immer noch schwer …»

  «Mum, es ist okay. Wir müssen nicht darüber reden.» Ich springe auf, ohne zu wissen, was ich als Nächstes tun soll. Meiner Mutter den Mund zuhalten vielleicht.

  Mum starrt mich an, dann senkt sie den Kopf und scheint ihre Hände zu mustern, deren Fingerknöchel sich weiß abzeichnen. Ganz kurz nur sehe ich Cayden an, und wenn ich noch einen letzten Beweis gebraucht habe, dass er jederzeit in der Lage ist, die perfekte Maskerade aufrechtzuerhalten, dann bekomme ich ihn jetzt. Nur für den Bruchteil einer Sekunde erkenne ich einen Hauch Verwirrung auf seinem Gesicht, vielleicht nur weil ich dieses Gesicht mittlerweile so oft zu analysieren versucht habe, dann ist darin nicht mehr zu lesen als Verständnis. Mitgefühl.

  Fuck, Cayden, du hast keine Ahnung, was hier ger
ade abgeht, aber du siehst aus, als wärest du der engste Vertraute meiner kaputten Familie!

  Mum räuspert sich. «Nein», sagt sie und schüttelt leicht den Kopf. «Nein, du hast recht, Rae, entschuldige. Wir müssen darüber an dieser Stelle selbstverständlich nicht reden.»

  Sie lächelt tapfer und macht eine unbekümmerte Handbewegung, als schiebe sie alles zur Seite. Im Gegensatz zu Cayden, der für seine Leistung gerade den dritten Oscar erhält, ist sie eine hölzerne Laiendarstellerin, und ich liebe sie gerade so sehr, dass meine Brust zu schmerzen beginnt.

  «Wann wolltet ihr denn aufbrechen?», fragt sie.

  In meinem Kopf ist zu viel Chaos, um antworten zu können, aber selbstverständlich übernimmt Cayden.

  «Nächstes Wochenende. Das Meiste, was wir brauchen, haben wir schon, es fehlen nur noch ein paar Kleinigkeiten, die wir besorgen müssen.»

  «Gut, dann …» Meine Mutter erhebt sich, Cayden ebenfalls. Zu dritt stehen wir um den niedrigen Tisch herum, und ich weiß, dass meine Mutter jetzt irgendwohin gehen und weinen will. «… ist ja fürs Erste alles geklärt», beendet Mum ihren Satz. «Cayden, bleibst du später zum Essen?»

  «Nein, so lange hat er leider keine Zeit», werfe ich dazwischen, weil ich absolut keine Ahnung habe, wie Cayden diese Frage beantworten würde. Aber mit Sicherheit will ich nicht mit ihm und Mum später zusammen essen. Genau genommen möchte ich in dieser Sekunde nicht mal, dass er noch mit in mein Zimmer kommt, aber das wird sich wohl nicht verhindern lassen.

  «Gut, dann … es war sehr schön, dich kennenzulernen.» Mums Augen schwimmen mittlerweile in Tränen, doch ihr ist anzuhören, dass dieser Satz nicht nur eine Floskel ist. Sie fand es wirklich schön. Weil ich so nette Freunde habe, die ich sogar mit nach Hause bringe, und weil diese netten Freunde im Wald auf mich aufpassen werden und weil Cayden einfach so verflucht perfekt ist.

  Keine Ahnung, warum, aber in diesem Moment bin ich kurz davor, ihr zu sagen, dass Cayden alles andere als ein guter Freund von mir ist. Plötzlich frage ich mich, ob diese ganze blöde Tour es überhaupt wert ist, sie das glauben zu lassen.

 

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