002 - Free like the Wind

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002 - Free like the Wind Page 16

by Kira Mohn


  Unter meinen Füßen knirschen die Steinchen des schmalen Pfades, und weder Cayden noch ich sagen auch nur ein einziges Wort, bis wir die Jasper House Lodge erreichen, offensichtlich eine Bungalowanlage.

  «Direkt gegenüber ist der Whistlers Campground», merkt Cayden an. «Der Wapiti Zeltplatz liegt noch ein Stück weiter.»

  Wegen mir könnten wir auch noch viel länger als nur ein Stück weitergehen. Ich fühle mich seltsam leicht, und der Rucksack auf meinem Rücken ist mir mittlerweile beinahe egal.

  «Wie lange würden wir noch gleich bis zum Wabasso Campingplatz laufen?», will ich wissen.

  «Ich schätze mal, etwa knapp drei Stunden. Mit den Rucksäcken vermutlich etwas länger.»

  Es ist halb drei. Ich sehe Cayden an. «Wollen wir?»

  «Lass uns lieber erst mal hier nach einem Platz fragen und die Zelte aufbauen. Wenn dann noch Zeit ist, können wir ja immer noch die Gegend erkunden. Ohne das Gepäck auf dem Rücken.»

  Er hat recht, wie ich zugeben muss.

  Immer wieder zweigen Trampelpfade von dem Wanderweg ab, auf dem wir uns befinden, und ich frage mich, wo die alle hinführen. Wie lange man wohl laufen würde, bevor die Pfade ihr unbekanntes Ziel erreichen? Haven würde es vermutlich wissen. Ich stelle mir vor, dass sie hier jeden Winkel und jeden Schleichweg kennt – sie an unserer Stelle hätte diesen Weg an der Straße garantiert längst verlassen und wäre jetzt irgendwo mitten im Wald unterwegs.

  Cayden zieht sein Smartphone hervor.

  «Was machst du?», frage ich, als er beginnt, etwas einzutippen.

  «Es gibt da eine App, die Jackson und ich letztes Jahr benutzt haben.»

  Er hält mir das Display unter die Nase, und im ersten Moment erkenne ich nichts außer einem lilafarbenen Netz, durchbrochen von einigen weißen Linien. «Was soll das darstellen?»

  «Das sind alles Wege abseits der Straßen. Jackson meinte gestern, es wären noch sehr viel mehr, wenn Haven an dieser App mitgebastelt hätte … auf jeden Fall zeigt sie einige Routen an, die man nutzen kann, wenn man keinen Bock hat, immer nur neben dem Icefields Parkway entlangzuspazieren. Jackson meinte auch, dass es die App wohl nicht mehr lange geben wird, weil die Ranger sie hassen und dagegen vorgehen, aber noch funktioniert sie.»

  «Die Ranger hassen sie?»

  «Ja, weil sie die Leute dazu bringt, quer durch den Wald zu stolpern.»

  Nachvollziehbar.

  «Hier müssen wir rein.»

  Während ich Cayden folge, der jetzt auf eine asphaltierte Straße einschwenkt, verliert sich mein beschwingtes Aufbruchsgefühl, und plötzlich spüre ich auch das Gewicht des Rucksacks wieder. Vor dem graugrünen Holzhaus, bei dem man offenbar einchecken muss, steht bereits ein Pick-up mit Wohnwagenanhänger, und kurz nachdem wir uns dahintergestellt haben, rückt uns ein Chrysler so dicht auf die Pelle, als wolle er uns gegen die Rückwand des Wohnwagens quetschen. Statt auszuweichen, tritt Cayden einen Schritt zurück. Sein Rucksack stößt gegen die Kühlerhaube des Chryslers, und der Fahrer setzt mit einer entschuldigenden Geste seinen Wagen etwas nach hinten.

  Ganz schön was los hier.

  Der Typ im Holzhaus starrt uns ein paar Minuten später an, als würden wir nicht in der Einfahrt zu einem Campingplatz, sondern ohne Auto vor einem Drive-in stehen.

  «Hi, ich bin Steven», begrüßt er uns. Er dürfte in unserem Alter sein. Sein weißes T-Shirt spannt über seiner kräftigen Brust, und er hat riesige Hände. «Kann ich euch irgendwie helfen?»

  «Wir würden gern ein paar Nächte bleiben, ist noch was frei?»

  «Wo steht euer Wagen?»

  «In Jasper.»

  «In Jasper? Ihr seid tatsächlich zu Fuß hierhergekommen?» Jetzt grinst er uns belustigt an. «Sportlich.»

  «Gibt es denn einen freien Platz, wo wir unsere Zelte aufstellen können?», werfe ich ein. Ich will jetzt den Rucksack loswerden, mein Zelt aufbauen und mich noch ein wenig umsehen.

  «Zwei kleine Zelte? Kein Wagen? Dann krieg ich euch auf jeden Fall unter. Wollt ihr was in der Nähe vom Fluss? Stromanschluss gibt’s allerdings keinen. Aber wenn ihr wollt, könnt ihr mir eure Smartphones gelegentlich vorbeibringen, ich kann die hier für euch aufladen.»

  Der Ort, den Steven uns auf einem Infozettel eingekringelt hat, liegt nur ein paar Schritte außerhalb des Waldes und ist keiner der offiziellen Stellplätze. Weder gehört ein Picknicktisch dazu, noch ist die freie Fläche wirklich groß. Aber es steht eine der metallenen Feuertonnen da, und der Athabasca River fließt nur einen Steinwurf entfernt. Einen Steinwurf von mir, das heißt nur wenige Meter.

  Cayden beginnt ohne Umschweife, sein Zelt aufzubauen. Ein wenig skeptisch zerre ich mein eigenes Bündel aus dem Rucksack.

  «Du musst erst die Stangen zusammenstecken», sagt Cayden, während er bereits damit beschäftigt ist, Planen zu entfalten. «Und dann fixierst du das Innenzelt mit den Heringen.»

  Von Heringen habe ich im Zusammenhang mit Zelten bereits gehört. Das ist dann aber auch schon alles.

  «Das Zelt hat Clips, du musst diese Teile hier nur zusammenstecken. Der Verkäufer meinte, das ginge schneller.»

  Zugegebenermaßen sieht es ziemlich professionell aus, was Cayden da macht. Versuchsweise lasse ich das Gelenk zwischen zwei Metallstangen einrasten.

  «Zusammenschieben, nicht zuschnappen lassen», erklärt Cayden. «Sonst kann es passieren, dass die Dinger kaputtgehen.»

  «Hab ich doch.»

  Ich bin noch nicht mal fertig damit, das Gewirr an Stangen zusammenzubasteln, da steht Caydens Zelt bereits, und er kommt zu mir. Mit wenigen Handgriffen hat er den eingewickelten Zeltstoff auseinandergeschüttelt, und obwohl ich mir blöd dabei vorkomme, wie ein Girlie aus einem Petticoatfilm danebenzustehen, beschränken sich meine unterstützenden Tätigkeiten darauf, ein paar Clips zusammenzudrücken. Erst als Cayden die Außenhaut über das Zeltdach schwingt, geht es mit meiner Hilfe tatsächlich schneller.

  «Spannen», ruft Cayden.

  «Was?» Gerade habe ich mit einem Stein einen der Metallhaken in die harte Erde geklopft.

  «Du musst die Zeltschnüre nachspannen, wenn der Hering steckt.» Er geht um das Zelt herum und kniet sich neben mich. «Hier, so.»

  Cayden hat nicht darauf gewartet, dass ich zurückweiche, und seine Stirn berührt beinahe meine, als er sich jetzt über die meiner Meinung nach ausreichend gespannte Zeltleine beugt.

  Warum ich mich trotzdem nicht zurücklehne, könnte ich in diesem Moment nicht beantworten. Als Cayden aufsieht, trennen unsere Gesichter nur wenige Zentimeter. Unter seinen Augen liegen Schatten. Sein Blick begegnet meinem, und langsam atme ich ein. Eben hat er sich noch ganz auf die Zeltleine konzentriert, doch jetzt kann ich förmlich spüren, wie seine Aufmerksamkeit sich auf mich richtet. So nah war ich ihm noch nie. Zum ersten Mal entdecke ich winzige Einzelheiten, welche die Perfektion seines Gesichts durchbrechen. Eine hauchfeine Narbe dicht an seiner Unterlippe, eingebettet in ihrem Schwung, und noch eine zweite in seinem linken Augenwinkel. Es muss ausgesehen haben, als würdest du blutige Tränen weinen, Cayden … was ist da passiert?

  Er richtet sich auf, und um ein Haar zucke ich zusammen.

  «Okay, das wäre erledigt. Wollen wir uns noch ein wenig umsehen?»

  Seltsam verwirrt erhebe ich mich ebenfalls. Das war … schräg. Ein irgendwie schräger Moment.

  «Okay, ich …» Noch immer etwas durcheinander mustere ich unsere nebeneinanderstehenden Zelte. «Hey. Dein Zelt ist ja viel größer als meins.»

  Cayden

  «Ich bin ja auch viel größer als du.»

  Rae verschränkt die Arme vor der Brust. «Du bist aber nicht doppelt so groß.»

  «Okay, hast recht. Hat natürlich nichts mit der Körpergröße zu tun. Ich hab mir ein Männerzelt besorgt. Du hast ein Frauenzelt.»

  Einen kurzen Moment huscht Verwirrung über Raes Gesicht. «Was? Es gibt Männer- und Frauenzelte?»

  Als ich sie statt einer Antwort angrinse, verpasst sie mir mit dem Ellbogen einen Stoß in die Rippen, marschiert zu meinem Zelt und wirft einen prüfenden Blick hinein.

  «Das ist das Zweimannzelt von
Jackson und mir aus dem letzten Jahr», erkläre ich. «Ich dachte, eigentlich wäre es doch bescheuert, noch ein Zelt zu kaufen, wenn das nun mal schon da ist.»

  Ich habe meine Isomatte und den Schlafsack darin ausgerollt, und es ist tatsächlich um Längen geräumiger als Raes kleines Zelt, in dem man kaum die Arme ausstrecken kann.

  «Mein Zelt sieht neben deinem wie eine Hundehütte aus!»

  Ich muss lachen, als sie mich jetzt anfunkelt, und zum Teil lache ich auch deshalb, weil dieser Moment von gerade eben noch in mir nachhallt. Sie hat mal wieder ihre Haare zu einem wirren Knoten zusammengebunden, doch die blauen Strähnen, die ihr schmales Gesicht umrahmen, betonen ihre grüngrauen Augen, und wenn ich mich noch ein paar Zentimeter weiter vorgelehnt hätte …

  Das ist jetzt schon das zweite Mal, dass ich mir vorstelle, Rae zu küssen. Ich würde es auf die Einsamkeit des Waldes schieben, wären wir nicht vor wenigen Stunden erst angekommen.

  Beim ersten Mal habe ich mich gefragt, ob sie beim Küssen wohl die Augen schließt. Jetzt glaube ich zu wissen, dass sie das nicht tun würde, jedenfalls nicht gleich. Aber wie würde sich der Ausdruck in ihnen verändern? Würde ihr Blick, mit dem sie so spielend leicht bis in mein Innerstes zu sehen scheint, weicher werden? Und wie würde sie mich ansehen, liefe alles noch etwas weiter …?

  Fuck, ich bin ein sexgeiler Freak.

  Diese Gedanken müssen raus aus meinem Kopf.

  Nicht. Mit. Rae.

  Wenn jemand wie Rae mit einem Typen ins Bett steigt, dann nur weil sie Gefühle für denjenigen hat, und will ich nach Edmonton zurückfahren und Jackson erklären, dass Rae mich jetzt übrigens hasst? Will ich das Haven erklären?

  Danke, nein.

  Genau deshalb gibt es Regeln, was Bettgeschichten betrifft, und im Allgemeinen fällt es mir nicht sonderlich schwer, die einzuhalten.

  Mir wird bewusst, dass Rae noch immer in meine Richtung sieht, dass wir uns jetzt seit Minuten unverwandt anschauen und keiner von uns beiden lächelt.

  Irritiert schließe ich die Augen, und als ich sie wieder öffne, hat Rae sich abgewendet, um den Schlafsack aus ihrem Rucksack zu zerren. Ich sehe ihr dabei zu, wie sie ihn zusammen mit der Isomatte in ihrem Zelt ausbreitet, sich wieder aufrichtet und nach einem letzten prüfenden Blick den Reißverschluss des Eingangs hochzieht.

  «Okay», sagt sie. «Drehen wir noch eine kurze Runde?»

  «Klar.» Ich bücke mich nach meinem eigenen Rucksack und krame eines der Dinge hervor, die ich für Rae noch besorgt habe. «Hier, fang.»

  Geschickt fängt sie die kleine Flasche auf. «Was ist das?»

  «Bärenspray.»

  «Bärenspray? Das ist …» Rae grinst. «Es ist ein Pfefferspray.»

  «Ja, genau. Man kann es nur einmal benutzen, und du darfst es nicht gegen den Wind …»

  «Keine Sorge, damit kenne ich mich aus.»

  «Ach.» Verdutzt sehe ich sie an.

  «Meine Mutter besteht auf so was. Was ist mit Glöckchen?»

  «Bärenglöckchen? Der Ranger letztes Jahr meinte, das sei mehr so ein Touristending. Aber ein Bärenspray hatte er auch.»

  «Na dann.» Sie steckt das Spray in ihre Jackentasche. «Wollen wir los?»

  Der Wapiti Campingplatz liegt mitten im Wald und wird auf der einen Seite vom Fluss, auf der anderen vom Icefields Parkway begrenzt, links und rechts von ihm befinden sich in unmittelbarer Nähe Bungalowanlagen, für die die Bäume an diesen Stellen etwas gelichtet wurden. Es gibt dort Restaurants, doch Rae schüttelt den Kopf, als ich ihr vorschlage, heute Abend in einem von beiden zu essen.

  «Wieso nicht? Solange wir die Möglichkeit dazu haben?»

  «Ich hab einfach keine Lust. Erstens ist es da sauteuer, und irgendwie … ich will ja gerade eben nicht alles genauso machen wie in Edmonton.»

  «Du gehst in Edmonton jeden Abend essen?»

  «Nein, aber …»

  Rae läuft vor mir her, mittlerweile auf einem der Pfade, den wir über die App ausgewählt haben. Er führt direkt durch den Wald, eine nahezu unsichtbare Trampelspur, der wir bereits so weit gefolgt sind, dass wir den Campingplatz beim Zurückblicken nicht mehr sehen können, weil uns das Buschwerk von allen Seiten eingeschlossen hat.

  Noch immer sucht Rae nach den passenden Worten. «Ich würde eigentlich lieber viel weiter von allem weg. Statt abends in einem Restaurant zu essen. Als ich über diese Tour zum ersten Mal nachgedacht habe, wollte ich … na ja, ich wollte einfach allein sein. Nix gegen dich.» Sie lächelt mich kurz an. «Und ich will das immer noch. Jetzt sogar noch stärker.»

  Sie bleibt stehen und macht eine Handbewegung, die so ziemlich alles umfasst. «Es ist hier wirklich unglaublich, ich fühle mich … also … ich fühle mich … Geht es dir nicht genauso?» Hoffnungsvoll sieht sie mich an.

  «Wie denn?»

  «Hast du nicht auch das Gefühl, hier irgendwie anders zu atmen? Wenn du hier stehst, und alles, was du siehst, sind Bäume und Sträucher, und es riecht nur nach … na ja, nach Wald?»

  Ernsthaft versuche ich, ihren Gedankengängen zu folgen. «Du meinst, keine Luftverschmutzung und so?»

  «Nein! Also doch, auch, aber nein, eigentlich meine ich das nicht. Es ist mehr, als würde ich hier nur noch das sein, was ich bin. Hier gibt es absolut niemanden, der Erwartungen an mich stellt, niemanden, der mich brauchen würde, nichts, das ich tun müsste; es ist eine Welt, die sich überhaupt nicht um mich dreht, kein winziges bisschen. Und es ist wunderschön hier», fügt sie hinzu.

  Ich nicke. Den letzten Satz habe ich in verschiedenen Varianten damals schon Jackson sagen hören, und ihn habe ich genauso wenig verstanden. Es ist eben ein Wald. Bäume. Noch mehr Bäume. Mag sein, dass er von oben gewaltig aussieht, aber steht man irgendwo mittendrin, sieht man halt nur … Bäume. Um ehrlich zu sein, finde ich es eher etwas beklemmend.

  «Du kannst es nicht nachvollziehen, oder?» Rae seufzt. «Egal. Ich esse hier jedenfalls in keinem Restaurant.»

  «Gut. Dann eben Tütensuppe mit Nudeln.»

  «Du kannst auch ohne mich dort essen.»

  Je nachdem, wie lange wir uns noch auf diesem Campingplatz aufhalten, will ich das nicht ausschließen, aber heute, am ersten Abend … «Man soll ja Tütensuppen verarbeiten, solange sie noch frisch sind.»

  Rae grinst, und als sie mir jetzt einen Stoß versetzt, fällt dieser sehr viel sanfter aus als vorhin, nachdem sie unsere Zelte miteinander verglichen hat.

  «Nimmst du eigentlich auch manchmal etwas ernst? Tagsüber, meine ich?»

  «Wenn es sich lohnt.»

  «Wenn es sich lohnt? Wann lohnt es sich denn?»

  «Fast nie.» Das meine ich ausnahmsweise ernst.

  Rae scheint das mitzukriegen, denn diesmal lächelt sie nicht, sondern wirft mir nur einen abschätzenden Blick zu. «Wieso nicht?»

  «Weil man sich meistens nur viel zu viele Gedanken um alles Mögliche macht.»

  «Man kann Dinge doch auch ernst nehmen, ohne sich übertrieben viele Gedanken deshalb zu machen.»

  «Kannst du das?»

  «Ich denke schon.» Sie wendet sich von mir ab und geht langsam weiter. «Was ist mit deinem Studium? Nimmst du das ernst?»

  «So ernst, wie ich es eben ernst nehmen muss. Nicht wirklich.»

  «Dann … deine Freundschaft mit Jackson?»

  «Okay, das ist was anderes. Die nehme ich ernst. Auf eine gewisse Art.»

  «Was bedeutet auf eine gewisse Art?»

  «Dass ich sie ernst nehme, solange diese Freundschaft eben besteht.»

  «Aber du würdest nicht viel dafür tun, meinst du?»

  «Doch, natürlich.» Aber ich mache mein Leben nicht davon abhängig. Nur will ich das jetzt nicht laut aussprechen. «Was meinst du überhaupt damit, wenn du wissen willst, ob ich Dinge ernst nehme?»

  «Na ja, ob es auch irgendetwas gibt, über das du keine Sprüche reißt.»

  «Ach so. Okay, dann nehme ich die Freundschaft mit Jackson auch nicht sehr ernst.»

  «Siehst du, das meine ich.» Rae lächelt zwar, wirkt aber nachdenklich. «Durch genau solche Sprüche hat man das Gefühl, dir ist nichts besonders wichtig.»<
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  «Vielleicht ist das ja auch so, keine Ahnung. Was nimmst du denn ernst?»

  Auf diese Frage findet Rae nicht sofort eine Antwort. Eine Weile laufen wir schweigend nebeneinanderher, und alles, was man hört, ist ein gelegentliches Knacken, wenn einer von uns auf einen trockenen Zweig tritt, und das Zwitschern unzähliger unsichtbarer Vögel.

  «Ich nehme alles ernst, was mit meiner Familie zu tun hat», sagt sie schließlich.

  Jetzt könnte ich es tun. Ich könnte sie nach ihrer Schwester fragen. Es gibt kaum einen besseren Moment als jetzt und hier, mitten in diesem Wald, von dem Rae gerade noch behauptet hat, sie fühle sich darin irgendwie anders.

  «Was ist eigentlich mit deinem Vater?»

  Weniger dünnes Eis. Und das hat mich auch die ganze Zeit schon interessiert. Existiert der überhaupt? Oder hat er die Familie verlassen?

  «Der arbeitet viel», erwidert Rae. «Er ist meistens nur ein paar Tage zu Hause, dann muss er wieder los.»

  «Hört sich so an, als würde er das Thema Familie weniger ernst nehmen als du.»

  «Nein! Gar nicht.» Rae sieht mich nicht an, während sie das sagt. Konzentriert starrt sie auf ihre Füße. Ihre Wanderstiefel sehen ziemlich winzig aus.

  «Er ist einfach nur viel unterwegs, aber wir sind ihm wichtig, meine Mutter und ich. Wir sind uns alle wichtig.»

  Ja, das glaube ich. Vermutlich bekommt jedes einzelne Mitglied einer Familie noch einmal eine besondere Bedeutung, wenn jemand, der auch einmal dazugehört hat, plötzlich nicht mehr da ist. Ich könnte mir vorstellen, dass es dann so etwas wie neue Rollen gibt. Jemand, der sich trotz allem bemüht, optimistisch zu bleiben. Jemand, der sich darum kümmert, dass alles am Laufen bleibt. Jemand, der irgendwie versucht, das verlorene Familienmitglied zu ersetzen.

  Gerade als ich kurz davorstehe, mich doch nach Leah zu erkundigen, mir nur noch nicht völlig im Klaren darüber bin, wie ich die Frage formulieren will, bleibt Rae plötzlich stehen.

  «Es ist fast halb sieben. Wir sollten zurückgehen, wenn wir unsere Tütensuppe nicht im Dunkeln essen wollen.»

  «Okay.»

 

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