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002 - Free like the Wind

Page 21

by Kira Mohn


  «Du bist so schön, Ray», sagt sie, und fast muss ich lachen.

  Und du so betrunken, Gwenny, denke ich.

  «Du bist bestimmt der schönste Mann, den ich je gesehen habe … und es ist überhaupt so unglaublich schön hier … einfach alles so schön …»

  Ihre Sätze kommen unzusammenhängend und zunehmend atemloser.

  «Ray», flüstert sie und beginnt, an meiner Hose zu nesteln.

  Oh nein, das nicht.

  Wieso nicht?

  Weil … deshalb. Einfach nein.

  Offenbar bin ich selbst betrunken genug, um der hitzigen Diskussion in meinem eigenen Kopf zuzuhören, während Gwen, durch meinen Griff um ihre Hände gebremst, den Versuch aufgibt, den Knopf meiner Hose zu öffnen, und sich wieder ganz auf sich konzentriert. Sie wippt vor und zurück, und ich muss schon wieder an ihre Knie denken, die morgen bestimmt ziemlich malträtiert aussehen werden. In dieser Sekunde ist ihr das allerdings egal.

  «Oh Gott, Ray», flüstert sie, und jetzt erst fällt mir auf, dass sie nicht nur Ray statt Cay sagt, sondern dass sie … na ja, dass sie eben Ray sagt.

  Fuck.

  Schlagartig fühle ich mich nicht mehr amüsiert, sondern ziemlich ernüchtert. Diese Frau, die es sich auf meiner Hand gerade mehr oder weniger selbst besorgt, ist mir völlig egal, warum verfickt noch mal sitze ich überhaupt hier? Wieso funktioniert bei mir offenbar nur Sex, Sex, Sex? Gibt’s eigentlich noch irgendwas anderes in meinem Leben, das mir wichtig wäre?

  Und was genau habe ich verbrochen, dass nicht einmal Sex in dieser Sekunde, in der Gwen ihre Hände in meine Schultern krallt und ihr Gesicht stöhnend gegen meinen Hals presst, irgendeine verfluchte Bedeutung hat?

  Ich will es nicht an Gwen auslassen, die nichts dafür kann, dass mein bescheuertes Hirn mitten in einer Nummer den Rückwärtsgang einlegt, aber ich bin mehr als erleichtert, als sie sich langsam aufrichtet und vorsichtig nach hinten rutscht.

  «Autsch, meine Knie», jammert sie.

  Okay, wenn sie das jetzt schon bemerkt, wird das morgen kein Spaß für sie. Gut, dass sie und ihre Freundin ihre Wandertour bereits beendet haben.

  Gwen erhebt sich und lässt ihren Rock hinabgleiten, bevor sie sich mit unsicheren Bewegungen wieder neben mich setzt.

  «Das war … ziemlich gut.» Alkohol oder Müdigkeit lassen ihre Stimme ein wenig verwaschen klingen. «Aber du hast nicht viel davon gehabt, oder, Ray?»

  Ich wünschte, sie würde aufhören, mich ausgerechnet Ray zu nennen.

  «Ich heiße Cayden», entgegne ich und lasse zu, dass sie den Kopf gegen meine Schulter lehnt, obwohl es mir lieber wäre, sie würde jetzt gehen. «Langsam muss ich dann mal zurück.»

  «Okay … Cayden.» Gwen seufzt. «Entschuldige, dass ich so … so egoistisch war, aber seit ich dich vorhin gesehen habe, also … ich hab mir den ganzen Abend vorgestellt …»

  «Schon okay», unterbreche ich sie. «Es war gut.»

  War es nicht. Blöde Lüge. Es war vollkommen sinnlos, zumindest für mich. Wenn das Rae gehört hätte, der gegenüber ich heute Nachmittag noch so großspurig behauptet habe, ich würde immer genau das sagen und tun, was ich sagen und tun will.

  Könnte Rae mich jetzt sehen.

  Ich stehe auf und bewahre im nächsten Moment Gwen davor, zur Seite zu fallen.

  «Sorry, ich … ich glaube, ich hab ein bisschen viel getrunken.» Gwen schlingt mir die Arme um den Hals und lässt sich hochziehen. «Ich hätte mich sonst nicht getraut», setzt sie hinzu.

  «Findest du allein zurück?»

  «Ja, bestimmt, also …» Sie rückt ein Stückchen ab und starrt in die Finsternis, in der Lichtflecken dort auszumachen sind, wo Zelte stehen. «Also, glaube ich.»

  In meinen Hosentaschen befinden sich zwar weder Flaschenöffner noch Bärenspray, aber immerhin eine dünne Stabtaschenlampe, die ich jetzt hervorziehe. «Ich bring dich. Komm.» Vorsichtig umfasse ich ihre Taille.

  Gwen bewegt sich unbeholfen, und wir kommen nicht besonders schnell voran. Zu allem Überfluss hat sie ganz offenbar auch noch völlig die Orientierung verloren, und es dauert ewig, bis wir ihren Zeltplatz endlich gefunden haben. In dem Kuppelzelt brennt noch Licht, doch kein Geräusch lässt darauf schließen, dass Sarah noch wach ist, als Gwen mich jetzt noch einmal umarmt und mir einen Kuss auf die Wange verpasst, der eigentlich meinen Mund hätte treffen sollen, wäre es mir nicht gelungen, den Kopf rechtzeitig zur Seite zu drehen.

  «Gute Nacht», flüstert sie. «Schade, dass wir morgen schon fahren.»

  Darauf erwidere ich nichts, lasse mir nur ihre Umarmung gefallen und streiche kurz über ihren Rücken, bevor ich einige Schritte zurücktrete.

  Fuck.

  Fuck.

  Fuck.

  Viel mehr denke ich nicht, während ich auf dem Weg zurück zu meinem eigenen Zelt über Wurzeln stolpere.

  Fuck.

  Verflucht.

  Warum bin ich eigentlich so ein Arsch?

  Und wieso halte ich mich überhaupt für einen Arsch? Kann ich nicht rummachen, wann und mit wem ich will? Ich bin kein Arsch. In letzter Zeit scheint nur alles, was mit Sex zu tun hat, irgendwie nicht mehr so berauschend zu sein. Vielleicht hatte ich eine Art Überdosis.

  Beim Waschhaus halte ich an. Fünf Millionen Falter fliegen gegen das kalte Licht der Neonröhren, und eine Million Spinnen freuen sich über ein reichhaltiges Abendessen. Ich halte die Hände unter eiskaltes Wasser und klatsche mir einen gehörigen Schwung ins Gesicht, obwohl die Kälte mit feinen Nadeln meine Haut durchsticht.

  Zur Strafe. Weil ich doch ein Arsch bin.

  Warum auch immer. Es reicht, dass ich weiß, dass es so ist.

  14.

  Rae

  In den nächsten Tagen verhalten Cayden und ich uns, wie zwei Leute sich eben verhalten, die zufällig miteinander im Urlaub sind, ansonsten aber nicht viel miteinander zu tun haben. Wir frühstücken und tauschen dabei kurze Sätze über das Wetter aus. Darüber, dass es heute wärmer ist als gestern und ob es wirklich zu einem Kälteeinbruch kommen wird. Wir packen unsere Rucksäcke und wandern die Umgebung ab. Wir entscheiden uns abends für irgendein tütensuppenaromatisiertes Abendessen und reden dabei über oberflächliche Nichtigkeiten.

  Was die ganze Zeit über in Caydens Kopf vorgeht, weiß ich nicht. Ich zumindest denke an Leah, und es macht mich fertig. Als Cayden am Sonntagabend einfach so verschwand, ist in mir irgendein Zahnrädchen sorgfältig in ein anderes eingerastet und hat etwas in Gang gesetzt. Dieses Etwas läuft jetzt, und ich bekomme es nicht mehr ausgeschaltet.

  Leah.

  Hätte ich dich doch nicht allein gehen lassen.

  Hätte ich dich doch gebeten, dich zu melden, sobald du angekommen bist.

  Hätte ich doch früher reagiert.

  Aber ich habe einfach mein Leben weitergelebt, Schulkram abgearbeitet, während du gestorben bist.

  Es kostet mich jeden Funken Energie, den ich aufzubringen vermag, um so zu tun, als sei alles wie immer, und ich will mir gar nicht erst vormachen, dass Cayden nichts davon mitbekommt.

  Natürlich kriegt er das mit, doch er fragt nicht nach. Vielleicht weil es ihn nicht interessiert, vielleicht weil er spürt, dass ich nicht darüber reden will. Vielleicht hat er selbst genug mit seinen eigenen Dämonen zu tun, keine Ahnung. Sonderlich entspannt sieht auch er nicht aus.

  Dass es trotzdem Momente gibt, in denen der Druck ein wenig nachlässt, verdanke ich der Tatsache, hier und nicht in Edmonton zu sein. In Edmonton vergrabe ich mich in solchen Phasen normalerweise in meinem Zimmer. Dort liege ich im Bett und kämpfe einfach nur ununterbrochen mit mir selbst, bis ich irgendwann Mums wachsende Sorge nicht mehr aushalten kann und zum Frühstück runterkomme. Mum hat Angst, dass diese Tage sich irgendwann zu einer Depression verdichten könnten, und ich habe auch Angst davor. Was, wenn dieses erstickende Gefühl irgendwann einfach nicht mehr verschwindet?

  Hier dagegen zieht mich der Wald an. Ich verspüre trotz meiner Anspannung nicht das Bedürfnis, nur in meinem Zelt zu bleiben, ich will raus, ich will über leicht federnde Wege laufen, Harz und Erde riechen, und manchmal fühle ich mich dabei sogar besser. Mal nu
r eine Minute lang, wenn ich ein pelziges, kleines Tierchen beobachte, das zwischen Felsen aufgetaucht ist; manchmal auch länger, wenn Cayden und ich nebeneinander an einem Seeufer sitzen und den Panoramablick in uns aufnehmen. Schneebedeckte Gipfel, die schwarzen Silhouetten der Tannen, die spiegelglatte Oberfläche des Wassers. Was genau in solchen Momenten passiert, kann ich mir selbst kaum erklären. Ob es mir für wenige Augenblicke gelingt, mich von meiner Trauer zu lösen, oder ob ich noch tiefer versinke, bis dorthin, wo die Trauer sich noch nicht eingenistet hat. Es ist ein seltsames Gefühl, zu entdecken, dass es einen solchen Bereich überhaupt noch gibt, und ich bemühe mich jedes Mal, diesen zarten Frieden, der sich über meine Seele legt, zu bewahren. Doch umsonst.

  Verdammt, Leah. Du solltest hier sein, hier mit mir. Du solltest all das auch sehen, du würdest es so lieben. Wir sollten gemeinsam erleben, wie ein herabschießender Vogel die Ruhe des Sees für einen Augenblick zerstört, wie sanfte Wellen sich zu seinem Ufer hin ausbreiten und aufspritzendes Wasser und Flügelschlagen die Stille durchbrechen.

  Wir sollten abends am Feuer darüber reden, was uns heute am besten gefallen hat, und wir sollten im Zelt zusammen einschlafen und uns dabei auf den nächsten Tag freuen. Warum haben wir so etwas nie zusammen gemacht?

  Wir dachten, wir hätten noch so viel Zeit.

  «Ich geh noch ein bisschen spazieren.»

  Es ist Mittwochabend, als ich das zu Cayden sage, nachdem ich mit dem gespülten Geschirr zu unserem Zeltplatz zurückgekehrt bin. Den ganzen Tag waren wir unterwegs, vorbei am Marjorie Lake bis hin zum Caledonia Lake mit seinem smaragdgrünen Wasser, und die ganze Zeit war Leah mit dabei. Meine Beine schmerzen, doch noch immer ist mir nach Bewegung, als könne ich der unnachgiebigen Zange, die meinen Schädel mittlerweile fest im Griff hat, dadurch entkommen, als könne ich vor meinen eigenen Gedanken davonlaufen.

  Kann ich nicht, aber Stillstand macht es schlimmer.

  Heute hat sich kaum einmal die Sonne gezeigt. Der Himmel ist bedeckt, und es ist schwül. Wir sind beim Wandern viel schneller ins Schwitzen geraten als in den letzten Tagen, und mein T-Shirt klebt immer noch unangenehm feucht an meinem Körper.

  Vor wenigen Minuten dachte ich, ich würde heute nur noch duschen und mich anschließend ins Zelt verkriechen, jetzt jedoch marschiere ich an den anderen Zeltplätzen vorbei bis hin zu der Stelle, wo der Schleichweg beginnt, dem Cayden und ich an unserem ersten Abend hier gefolgt sind. Mein Bärenspray befindet sich in meiner Hosentasche, und ich will gar nicht lange weg, ich brauche nur etwas … Luft.

  Leah.

  Zwischen den hohen Stämmen ist es nicht so drückend, und es ist eine Erleichterung, weder Cayden noch sonst wem gegenüber eine neutrale Miene aufsetzen zu müssen.

  Cayden hat nur genickt, als ich gegangen bin, und nichts weiter dazu gesagt. Was sollte er auch sagen? Hey, geht’s dir gut? Alles okay? Kann ich dir helfen?

  Nein.

  Nein, geht’s mir nicht, nein, ist es nicht, nein, kannst du nicht.

  Mit gesenktem Kopf treibt es mich vorwärts, achtlos wische ich Zweige beiseite, die mir im Weg hängen.

  «Leah.» Ich sage es leise vor mich hin. «Ich vermisse dich. Ich vermisse dich. Ich vermisse dich.»

  Verdammt, Leah, warum? Warum? Warum? Warum musste das passieren, warum war ich nicht bei dir, warum konnte ich dich nicht retten, warum war ich so blind, so egoistisch, so gedankenlos?

  «Leah …»

  Zu Hause in meinem Bett würde ich mich jetzt zu einer Kugel zusammenrollen, mich so klein machen, wie es geht, und die Augen zusammenpressen, doch hier schlage ich im Vorüberhasten mit den Fäusten gegen grobe Baumrinde, trete Steine aus dem Weg, stolpere, stürze, komme wieder auf die Füße und laufe weiter.

  «Leah!» Verflucht. Verdammt. «Leah!»

  Leah, wo bist du? Warum gibst du mir kein Zeichen, du bist doch noch irgendwo, oder? Du hast mich doch nicht ganz allein gelassen, oder? Liebst du mich nicht mehr, Leah, weil ich nicht bei dir war? Hast du an mich gedacht, während du verblutet bist?

  «Leah!» Ich schreie ihren Namen in den Wald hinein, bis meine Stimme bricht, und dann weiter und immer weiter, bis mich plötzlich jemand an der Schulter packt und herumreißt.

  Ohne nachzudenken, hole ich aus, ein dumpfes Klatschen, ein unterdrücktes Aufstöhnen, und dann presst Cayden seine Arme so fest um mich, dass auf der Stelle jeder Widerstand in mir zusammenfällt.

  Es ist Cayden.

  Wie erstarrt stehe ich in seinen Armen, während mein Hirn zu verarbeiten versucht, was hier gerade passiert. Die Stirn gegen seine Schulter gelehnt, unterdrücke ich den aufflackernden Impuls, mich aus seinem Griff zu befreien und weiterzuwüten.

  Warum ist er hier? Warum ist er mir nachgegangen?

  Noch immer rast mein Herz so schnell, als wolle es jeden einzelnen Schlag meines Lebens noch heute tun, und wenn es das geschafft hat, werde ich Leah wiedersehen.

  «Erzähl mir von ihr», sagt Cayden.

  «Nein.»

  Ich kann nicht über Leah reden. Es geht nicht. Ich werde dann zerbrechen und mich nie wieder zusammensetzen können.

  Langsam dringt die Wärme von Caydens Umarmung zu mir durch. In der Sicherheit, die sie vermittelt, werde ich weicher und gleichzeitig wachsam, weil ich nicht weich werden will.

  «Leah war deine Schwester …» Cayden sagt das so, als wäre der Satz noch nicht zu Ende, seine Stimme übt einen Sog aus, der mich dazu bringen soll, fortzufahren, doch ich will nicht. «Deine jüngere Schwester?», fügt er schließlich hinzu.

  «Hör damit auf, Kilgrave», murmele ich.

  Ein paar Sekunden lang scheint es, als hätte ich Cayden mit meiner Antwort tatsächlich zum Schweigen gebracht. Dann jedoch strauchelt mein Herz mitten im rasenden Galopp, weil ich spüre, wie er sein Gesicht in meinem Haar vergräbt.

  «War sie deine jüngere Schwester, Rae?», fragt er leise.

  «Meine Zwillingsschwester.» Ich flüstere diese Worte, doch die Stille des Waldes ist tief genug, dass Cayden sie verstehen kann.

  Cayden reagiert nicht. Kein bestürzter Ausruf, kein Du Arme oder Das tut mir leid. Er atmet nur langsam weiter, ich kann das Heben und Senken seines Brustkorbs spüren, und auch ich beginne, ruhiger zu werden.

  «Leah ist gestorben. Vor drei Jahren.»

  Das sind simple Fakten, trotzdem presst es meine Lungen wieder ein Stück weit zusammen. Wenn ich diese Worte ausspreche, ist es, als würde ich damit Leahs Tod unterschreiben. Ihn akzeptieren. Aber das tue ich nicht.

  Ich weigere mich.

  Mir scheißegal, dass man das muss – ich muss gar nichts!

  Als ich die Treppe zur Haustür hinuntergestürzt bin, damals, als Mum zu schreien begann, da hat mein Vater nach meinem Arm gegriffen. Mum schrie noch immer an seiner Schulter, sie hatte die Hände zu Fäusten geballt, ihre Augen waren geschlossen, ihr Gesicht tränenüberströmt, und die Geräusche, die aus ihrem Mund kamen, haben mich wahnsinnig gemacht, weil ich bis zu dieser Sekunde nicht geahnt habe, dass es solche Laute überhaupt gibt.

  «Leah …» Die Stimme meines Vaters zitterte. «Rae, es ist Leah. Leah ist … sie ist … sie lebt nicht mehr?»

  Er hat es wie eine Frage formuliert, so als könne er es selbst nicht glauben, obwohl da diese Polizeibeamten standen, die sicher keine Unklarheiten in dieser Hinsicht gelassen haben.

  Ich weiß noch, dass ich auf die Uhr gesehen habe. Elf Uhr dreiundzwanzig. Es war nur etwas über vier Stunden her, seit ich sie zuletzt gesehen hatte – sie konnte nicht tot sein. Die Grenze zwischen der lebenden und der toten Leah schien so hauchdünn, kaum vorhanden. Es war, als müsse ich nur ein paar Schritte in der Zeit zurückgehen, die Seiten eines Buches zurückblättern, um ungeschehen machen zu können, was geschehen war. Eben noch da, und jetzt … nicht mehr?

  Noch immer unternimmt Cayden keinen Versuch, mich durch irgendeine Äußerung trösten zu wollen, und dafür bin ich ihm dankbar. Trostversuche, wo es keinen Trost geben kann, was soll das bringen? Immer wenn Leute versucht haben, mich durch irgendwelche Worte zu trösten, habe ich mich unfreiwillig bockig gefühlt – hier, schau, Trost. Und ich starrte immer nur
darauf, ohne damit etwas anfangen zu können.

  Etwas raschelt im Unterholz, irgendein kleines Tier, das vermutlich beschlossen hat, lange genug darauf gewartet zu haben, dass die blöden Menschen endlich verschwinden, und mir wird wieder bewusst, dass es ausgerechnet Cayden ist, mit dem ich hier rumstehe.

  «Warum bist du mir nachgegangen?», frage ich.

  Cayden hebt den Kopf, und als ich seinen Atem nicht mehr zwischen meinen Haaren spüre, winde ich mich plötzlich verlegen aus seinen Armen.

  «Du hast so gewirkt, als sollte man dich nicht allein lassen», erwidert er schlicht. «Ich war mir nicht sicher, ob es richtig ist, dich … zu unterbrechen, aber …» Er fährt sich durch die Haare, und ich bemerke die rote Stelle unter seinem Auge, wo ich ihn getroffen habe, knapp unterhalb des Wangenknochens.

  «War es richtig?»

  «Weiß ich nicht», erwidere ich ehrlich.

  Vielleicht hätte Weiterschreien auch irgendwann geholfen. So lange, bis ich vor Erschöpfung zusammengebrochen wäre. Muss das nicht so sein? In Filmen müssen alle immer erst einmal komplett zusammenbrechen, bevor es ihnen besser geht.

  Ich lausche in mich hinein. Der Schmerz ist noch da, natürlich ist er das.

  Aber Caydens Umarmung hat trotzdem etwas bewirkt. Ich fühle mich ruhiger, obwohl ich vor wenigen Augenblicken noch meilenweit entfernt davon war.

  Und ich habe über Leah gesprochen, zum ersten Mal, ohne dass mich meine Therapeutin dazu gezwungen hätte.

  Siehst du, Rae?, würde sie jetzt sagen. War das so schwer?

  Ja, war es. Und dabei habe ich nur das bestätigt, was Cayden ohnehin schon geahnt hat, und alles andere weggelassen.

  Ein plötzlicher Windstoß bringt Zweige und Blätter in Aufruhr. Es rauscht über unseren Köpfen, und ich sehe auf.

  «Schätze, der Wetterumschwung ist da», sage ich im selben Moment, in dem Cayden fragt: «Wie ist Leah gestorben?»

  Kälte umschließt mein Herz, das gerade erst zurück zu einem ansatzweise normalen Rhythmus gefunden hatte.

 

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