Wir sind der Sturm
Page 18
Zurück in der WG steuerte ich als Erstes die Küche an und schnappte mir ein Glas Wasser, das ich direkt gegen die Spüle gelehnt herunterstürzte. Ich war verschwitzt, erschöpft, ein vorübergehender Rausch an Endorphinen – die Gedanken aber blieben, so wie sie es immer taten.
»Morgen!« Isaac kam mit einem leeren Becher herein, schenkte sich Kaffee aus der Kanne auf der Küchenzeile nach und lehnte sich gähnend neben mich, die Beine überkreuzt.
»Hey«, murmelte ich abwesend und füllte das Wasserglas noch einmal auf, trank es begierig aus, bevor ich mir auch einen Kaffee einschenkte.
»Du und Lou …«, fing Isaac plötzlich an und mein verdammtes Herz setzte einen Moment aus. »Ihr seid also wieder zusammen?«
Ich zuckte zusammen. Oh fuck!
»Wie kommst du darauf?«, erwiderte ich schroffer als beabsichtigt. Gott, was für eine dumme Gegenfrage. Wir wohnten in einer WG, unsere Zimmer lagen direkt nebeneinander, natürlich hatte er bemerkt, dass jemand hier gewesen war. Und wahrscheinlich hatte er einfach nur eins und eins zusammengezählt. Immerhin hatten gestern ja alle mitbekommen, dass wir zusammen gegangen waren.
Isaac rückte seine Brille zurecht und lachte: »Erstens lagen eure Klamotten im ganzen Wohnzimmer verteilt, als Taylor und ich gestern Nacht zurückgekommen sind, und zweitens hab ich Lou vorhin gesehen, als sie gegangen ist. «
»Wir sind nicht wieder zusammen«, sagte ich hart, doch bei meinen Worten zog sich alles in mir schmerzhaft zusammen.
Als ich wenig später das Wasser in der Dusche aufdrehte und es heiß über mein Gesicht lief, traf ich eine endgültige Entscheidung: Ich würde ihr die Wahrheit sagen. Jetzt oder nie – weil eine Frau wie sie nicht nur eine Erklärung verdient hatte, sondern vor allem absolute Ehrlichkeit.
Louisa
Möglichst langsam und, wie ich hoffte, geräuschlos drehte ich den Schlüssel im Schloss herum, die Schuhe in der Hand und nur mit der Strumpfhose auf dem Boden – alles, damit Aiden mich möglichst nicht hörte, mich nicht sah: den zerknitterten Rock von gestern, meine zerzausten Haare, die verlaufene Mascara um meine Augen. Ein einziger Blick, und er hätte es gewusst. Wahrscheinlich ahnte er es ohnehin schon.
Erleichtert atmete ich aus, als ich aus dem Bad das Rauschen von Wasser hörte. Wenn ich mich beeilte, würde ich es wieder aus der Wohnung schaffen, bevor Aiden mich bemerkte – und könnte den Fragen entgehen, die er mir womöglich stellen würde. Doch für diesen einen, kleinen kurzen Moment ließ ich mich erschöpft auf mein Bett sinken, mich mit ausgestreckten Armen nach hinten fallen und starrte an die Decke.
Vor einer halben Stunde war ich in Pauls Armen aufgewacht, genauso, wie ich in ihnen eingeschlafen war, nachdem er sich wieder beruhigt hatte. Ich hatte mich sicher gefühlt und beschützt mit dem regelmäßigen Heben und Senken seiner Brust unter meinen Händen, mit diesem vertrauten Geruch nach Wald und Paul und Sicherheit, mit seiner warmen, nackten Haut so eng an meiner. Doch einfach zu gehen, ohne ihn zu wecken, war einfacher gewesen, als mir einzugestehen, dass ich gestern Nacht nicht ehrlich zu mir gewesen war. Denn wenn es um diesen Mann ging, dann war es für mich unmöglich, Sex und Gefühle zu trennen. Das eine ging ohne das andere nicht – nicht bei Paul. Ihm so nah gewesen zu sein, hatte mich tief berührt. Die Momente, in denen ich diesen sanften Ausdruck in seinen Bernsteinaugen zu sehen geglaubt hatte, hatten etwas in mir bewegt. Jeder Blick, jede Berührung – als wäre keine Zeit vergangen. Als wären da nur er und ich, die zusammen ganz waren. Und obwohl es das nicht sollte, flatterte mein Herz bei der Erinnerung. Gleichzeitig fühlte es sich seltsam leer an.
»Hey.«
Ich zuckte zusammen und setzte mich auf. Aiden lehnte im Türrahmen meines Zimmers, zwei große Becher mit Kaffee in der Hand. Wasser tropfte aus den blonden Haaren auf sein Shirt und hinterließ dunkle Flecken auf dem Stoff, als er den Kopf schief legte und den Blick über mich gleiten ließ, mit einer in die Höhe gezogenen Augenbraue. Seufzend stieß er sich von dem Türrahmen ab, um sich mir gegenüber auf meinen Schreibtischstuhl zu setzen.
»Es tut mir leid, dass ich so überstürzt gegangen bin und euren Auftritt verpasst habe«, sagte ich, doch Aiden winkte bloß ab.
Stattdessen drückte er mir einen der beiden Becher in die Hand. »Du siehst aus, als könntest du den jetzt brauchen!«, meinte er.
»Vielen Dank für das Kompliment, Aiden«, sagte ich trocken, nahm den Kaffee aber dankbar entgegen.
Er zwinkerte mir grinsend zu. »Also, ich persönlich finde ja, ein guter Walk of Shame muss mit richtig viel Kaffee enden. Das macht alles viel erträglicher!«
»Na, du scheinst auf jeden Fall zu wissen, wovon du sprichst«, lachte ich und genoss das wärmende Gefühl unter meinen Fingern.
»Habt ihr wenigstens auch miteinander geredet?«, sagte Aiden plötzlich doch ernst.
Ich schwieg.
Ein Stirnrunzeln. »Ich hoffe, du weißt, was du da tust.« Er musterte mich, und in seinen sonst so sonnigen Augen lag ein Ausdruck, als gäbe es da etwas, das er mir am liebsten sagen würde. Und auch der Unterton in seiner Stimme, den ich nicht deuten konnte, entging mir nicht. Da war wieder dieser merkwürdige Blick, mit dem er mich bedachte, seit er mit dem blauen Auge nach Hause gekommen war.
Gestern Nacht hatte ich tatsächlich gedacht, ich wüsste, was ich tat, doch heute im grellen Licht eines neuen Tages war ich mir da nicht mehr so sicher. Nur noch ein letztes Mal , hatte ich mir eingeredet, mich aber davongeschlichen, weil Paul im Schlaf so friedlich und auf eine rohe Art schön ausgesehen hatte, die Gesichtszüge markant, aber entspannt. Weil die Erinnerung an seinen gequälten Gesichtsausdruck mir auch heute wieder das Herz brach. Und weil ich unter gar keinen Umständen bereit für Sätze wie Das war ein Fehler oder Das hatte nichts zu bedeuten gewesen war.
Ich sah Aiden an und sagte leise: »Wenn ich ehrlich bin, dann habe ich keine Ahnung.«
Professor Brown war im Begriff, die breite Flügeltür zu schließen, als ich auf den Hörsaal zurannte und gerade noch so durch die Tür huschte. Er hasste es, wenn jemand zu spät zu seinen Vorlesungen zur Elementary Linear Algebra kam, und hatte deshalb schon einige Studenten für den Term aus der Vorlesung geschmissen. Erleichtert ließ ich mich in der letzten Reihe auf einen freien Platz sinken.
In der nächsten halben Stunde versuchte ich, seinen Ausführungen und den schnell geschriebenen Ziffern auf der dunkel schimmernden Tafel zu folgen und das Wichtigste mitzuschreiben. Doch ich war unkonzentriert. Die Zahlen und Gleichungen auf meinem Block verwandelten sich in Wörter, sobald meine Gedanken von dem eigentlichen Thema der Vorlesung abwichen. Minuten später starrte ich auf das Blatt, auf das, was ich da so hingekritzelt hatte, und seufzte auf, weil die Erinnerungen an vergangene Nacht so unausweichlich schienen .
Bernstein.
Mond.
Zwischen gestern und morgen.
Regenschauer.
Herz an Herz.
Haut an Haut.
Baby.
Licht.
Gemeinsam einsam.
Zusammen ganz.
Mit den Fingerspitzen fuhr ich die Ecken und Kanten meiner Schrift nach. Ich war aufgewühlt. Ich war verwirrt. Ich wusste beim besten Willen nicht, was ich denken sollte.
Als Professor Brown die Vorlesung zehn Minuten früher beendete, stieß ich erleichtert Luft aus. Ich hätte heute genauso gut zu Hause bleiben können, ich hatte sowieso kaum etwas mitbekommen, konnte das Thema der heutigen Sitzung mit Müh und Not gerade so umreißen. Langsam packte ich meine Sachen zusammen und lief dann über den Campus Richtung AMC , um Bowie von ihrem Theater-Kurs abzuholen. Wir wollten uns im Firefly einen Kaffee holen und dort unsere Pause zusammen verbringen. Ich hoffte inständig, dass sie mich nicht danach fragen würde, was gestern Abend passiert war. Ich konnte und wollte noch nicht darüber sprechen. Und dann, zwischen den vereinzelten Bäumen und all den Leuten, die allein oder in Grüppchen an mir vorbeieilten, vibrierte mein Handy.
Wir müssen reden.
Mitten auf dem Weg blieb ich stehen. Ich achtete nicht auf die anderen Studenten, die die Augen verdrehten und um mich herumgehen mussten. Noch während ich
verwirrt auf das starrte, was Paul mir geschrieben hatte, leuchtete mein Handy erneut auf.
Können wir uns sehen ?
Er wollte mit mir reden, wollte mich sehen. Er schrieb mir, obwohl ich mich heute morgen aus Angst vor seiner Reaktion rausgeschlichen hatte. Vielleicht, ganz vielleicht … wollte Paul mich fragen, ob ich bleiben würde. Bei ihm. Erst überlegte ich, welche Worte die richtigen wären, doch dann tippte ich einfach los. Denn das zwischen uns war lange schon kein Spiel mehr, und ich hoffte, Paul würde die Karten dieses Mal offen auf den Tisch legen.
Du hast recht, wir sollten reden , schrieb ich deshalb.
Dann: Mein letzter Kurs ist um drei vorbei, danach könnten wir uns treffen.
Und noch in derselben Sekunde begann auch Paul, wieder zu schreiben.
Die Lichtung?
Okay.
Also um halb vier auf der Lichtung.
Yes. Halb vier auf der Lichtung.
Paul
Mit dem Rücken zu mir saß Louisa auf dem Stein in der Mitte der Lichtung. Sonnenlicht fiel durch die Tannen auf ihre grellen Locken, ließ sie fast golden glänzen. Ich blieb stehen und gab mir diesen einen letzten Moment, sie so zu sehen, bevor ich alles kaputt machen würde. Wahrscheinlich hatte Louisa die Augen geschlossen und lauschte auf den Wind, der durch die kahlen Bäume fuhr. Einmal, als wir hier zusammen gesessen hatten, hatte sie mir mit diesem typischen Funkeln in den Ozeanaugen erzählt, dass das eines ihrer Lieblingsgeräusche wäre. Direkt nach dem Rascheln von Buchseiten, wenn man über diese strich und sie umblätterte, und dem leisen Knistern von Marshmallows, die über ein Lagerfeuer gehalten werden. Weil all das nach Glück und Freiheit klingt, hatte sie ernst und fast schon feierlich erklärt .
Ein Ast knackte unter meinen Schuhsohlen und Louisa drehte sich zu mir um. Das Lächeln, das sich ganz langsam auf ihren Lippen ausbreitete, als sie mich am Rand der Lichtung stehen sah, brach mir das Herz. Es war ein vorsichtiges Lächeln, ein ängstliches, aber auch ein durch und durch ehrliches. Eines, das sagte, dass sie die letzte Nacht nicht bereute, dass sie trotz meines beschissenen Verhaltens nach wie vor etwas für mich empfand. Es war ein hoffnungsvolles und vor allem wunderschönes Lächeln, weil es mein Feuermädchen war, das so lächelte. Ich versuchte es zu verinnerlichen, mir jedes Detail davon einzuprägen, weil es, das letzte Mal war, dass sie mich so ansehen würde. Ein Foto gemacht mit meiner Kopfkamera. Ein Moment, der jetzt schon eine Erinnerung war.
Am liebsten wäre ich wieder umgedreht, doch ich schuldete Louisa die Wahrheit. Ich hatte mir eingeredet, ich würde sie beschützen, indem ich ihr verschwieg, dass und vor allem unter welchen Umständen wir beide uns vor fünf Jahren schon einmal begegnet waren, doch weiß Gott, eigentlich hatte ich damit nur mich selbst schützen wollen – das wurde mir in dem Moment klar, als ich langsam auf sie zuging. Vor ihrem Schock, vor ihrem Schmerz und der Tatsache, dass sie mir niemals würde vergeben können. Ich hatte das Richtige tun wollen, sofern das überhaupt noch möglich war, und war letztendlich einfach nur verdammt egoistisch gewesen.
Louisa stand auf, immer noch mit dem leisen Lächeln auf den Lippen, kam mir entgegen. Einen Schritt. Zwei Schritte. Dann zögerte sie, und ihr Blick ruhte nachdenklich auf meinem Gesicht. Vielleicht wusste sie nicht, wie sie mich begrüßen sollte. Vielleicht wusste sie nicht, was sie sagen sollte. Ich hatte doch selbst keine Ahnung, weil Louisa die erste Frau war, die mich in manchen Momenten meine Selbstsicherheit vergessen ließ, mich sogar nervös machte. Und weil es jetzt sowieso keine Rolle mehr spielte.
»Hey«, sagte sie dicht vor mir. Und ich tat es ihr gleich, die Hände in meine Jackentaschen geschoben, bevor sie noch auf die Idee kamen, sie zu berühren.
»Okay, lass uns …«, sagte ich und schluckte schwer, »… lass uns reden.«
Ich schob mich an ihr vorbei und setzte mich auf den großen Stein, wartete, bis auch Louisa sich wieder neben mir niedergelassen hatte. Schulter an Schulter. Ich hatte keine Kraft, weiter an den Rand zu rücken. Vielleicht war ich nach wie vor ein egoistisches Arschloch, aber ich wollte in den letzten Minuten, in denen ich für sie nur diese eine Version meiner selbst war, die sie kennengelernt hatte, so viel von ihr in mir aufnehmen, wie ich nur konnte.
»Ich … ich habe dir einmal gesagt, dass ich etwas getan habe, von dem du wissen solltest«, fing ich an. »Etwas, das die Art, wie du mich siehst, für immer verändern könnte.«
Keine unnötige Einleitung, kein langsames Herantasten. Sie sollte direkt wissen, worum es ging.
Louisa nickte. »Ja, aber …«
Doch ich gab ihr nicht die Gelegenheit, etwas zu erwidern – noch nicht.
Also unterbrach ich sie. »Und als du mir in der Nacht von deinem Geburtstag, als wir draußen auf der Ladefläche von meinem Pick-up saßen, gesagt hast, dass das für dich keine Rolle spielt und nichts an deinen Gefühlen für mich ändern wird, wollte ich dir so gerne glauben, Louisa. Wenn ich ehrlich zu mir selbst bin, habe ich es mir damit einfach nur leicht gemacht. Ich hätte es ja schließlich noch einmal probieren können. Ich hätte noch einmal den Versuch unternehmen können, dir alles zu erzählen«, sprach ich es aus und konnte nicht verhindern, dass ein verbittertes Lachen meine Lippen verließ. »Doch das habe ich nicht. Das da auf dem Pick-up war ein echt beschissener Versuch, dir die Wahrheit zu sagen.«
»Die Wahrheit?«, wiederholte Louisa und sah mich verunsichert an. Inzwischen war das Lächeln endgültig aus ihrem Gesicht verschwunden und hatte einem viel zu ernsten Ausdruck Platz gemacht. »Paul, so wie du mich gerade ansiehst …Du machst mir Angst«, sagte sie leise.
Scheiße! Ich würde nichts lieber tun, als den Arm um sie zu legen und ihr zu sagen, dass alles gut werden würde. Verzweifelt rieb ich mir über das Gesicht, wusste beim besten Willen nicht, wo ich anfangen sollte. Also fing ich ganz am Anfang an. An dem Punkt, ab dem alles schiefgelaufen war.
Louisa
»Im vorletzten Highschooljahr«, fing Paul plötzlich zu erzählen an, »habe ich Heather kennengelernt. Okay, was heißt kennengelernt, wir kannten uns, wir waren immerhin im selben Jahrgang. Aber in diesem Jahr mussten wir zusammen nachsitzen und haben danach angefangen, Zeit miteinander zu verbringen. Sie war bei den Cheerleadern und schien auf den ersten Blick einem Klischee zu entsprechen, aber so war sie nicht. Sie war zwar schön, aber null oberflächlich. Heather war witzig, hatte einen ganz speziellen Humor und hat mich damit immer wieder zum Lachen gebracht. Außerdem war die Situation mit ihren Eltern ähnlich. Nicht unbedingt, was das Geld anging, aber die Erwartungen. Sie hat mich verstanden und wusste, wie es sich anfühlt, wenn versucht wird, einem die Möglichkeit einer eigenen Wahl zu nehmen. Und dabei war sie einer von diesen unfassbar optimistischen Menschen, die so viel Energie haben, dass am Ende des Tages immer viel zu viel davon übrig ist. Sie hat mich damit angesteckt, mit dieser Suche nach dem Unvorhergesehenen und dem nächsten Abenteuer. Mit ihr zusammen war alles so leicht und gleichzeitig aufregend. Manchmal war Heather auch egoistisch und nicht wirklich bereit, Kompromisse einzugehen, nicht wenn sie selbst dafür zurückstecken musste. Aber Gott, ich war sechzehn Jahre alt. Was wusste ich schon über Liebe oder Beziehungen? Ich war verknallt, ich fand sie toll und sie mich, und das war in diesem Moment alles, was für mich wichtig war.«
Paul hielt inne, und ich blinzelte, konnte mir keinen Reim darauf machen, wieso er mir ausgerechnet von seiner Ex-Freundin erzählte. Bis jetzt hatte ich nicht einmal ihren Namen gehört, nicht einmal gewusst, dass da mal jemand gewesen war, auch wenn es mich natürlich nicht überraschte. Ich dachte an das erste Mal, als Paul und ich auf dieser Wiese auf dem Campus gestanden und miteinander gesprochen hatten, vor einem halben Jahr. Als ich ihn damit aufgezogen hatte, dass er auf den ersten Blick allen Bad-Boy-Klischees entsprechen würde. Seine Gegenwart hatte mich so ungewohnt nervös gemacht, mich aufgewühlt, und ich hatte versucht, das mit einem spöttischen Lächeln und einem Witz zu überspielen.
Und lass mich raten: Du hast eine tragische Vergangenheit. Etwas Schlimmes, das die Frau, die du geliebt hast, dir angetan hat … Und deshalb kommt keine Frau mehr an dich und dein geschundenes Herz heran, hallten meine e
igenen Worte in meinem Kopf wider.
Damals hatte ich geglaubt, einen Schatten über sein Gesicht huschen zu sehen. Hatte ich am Ende doch recht gehabt? Hing das mit dieser Sache zusammen, die er mir nie erzählt hatte? Die hinter diesem oftmals zu ernsten dunklen Ausdruck in seinen Augen steckte? War das der Punkt, an dem unsere Geschichte ihr Ende finden würde, an dem Paul mir nach all den Wochen der Ungewissheit einen Schlusssatz gab?
Er sah mich an, wich meinem Blick dann wieder aus. Er schien nervös zu sein auf eine Art, die ich noch nie an ihm gesehen hatte. Und wie Wellen schwappte dieses Gefühl auf mich über, ergriff Besitz von mir. Ich wusste nicht, was ich hätte sagen sollen, nickte nur und sah Paul abwartend an.
»Für Heather …«, er zögerte und schluckte schwer, ehe er fortfuhr. »Für sie war es keine Option, nach dem Abschluss in New Forreston zu bleiben oder so wie Aiden, Trish und ich nach Redstone zu ziehen. Sie wollte unbedingt raus aus Montana und etwas von der Welt sehen, wenigstens in einem anderen Bundesstaat leben und dort studieren, und natürlich hat sie sich gewünscht, dass ich mitkomme. Zu dem Zeitpunkt waren wir ungefähr ein Jahr zusammen, ich siebzehn, Luca erst zehn. Und das absolut Letzte, was ich wollte, war, ihn mit unseren Eltern allein zu lassen. Ich meine, wie hätte ich denn verdammt nochmal so richtig für ihn da sein sollen mit Tausenden Meilen zwischen uns? Grandpa und Grandma waren tot, und unsere Eltern haben uns behandelt, als wären wir nur irgendwelche Mittel zu ihren ganz persönlichen Zwecken. Das ist kein Umfeld, in dem man seinen kleinen Bruder zurücklassen kann, das … fuck!«