Paul rieb sich über den Bart, und die Verzweiflung in seinen dunklen Augen wurde von Sekunde zu Sekunde größer. Noch immer verstand ich nicht, wieso er mir diese Dinge erzählte. Und die Unruhe in mir wurde von Sekunde zu Sekunde größer, weil das hier nur die Ruhe vor dem Sturm sein konnte. Einem Impuls folgend griff ich nach seiner Hand, wollte meine Finger mit seinen verschränken, ihm Halt geben bei diesen Dingen, die auszusprechen ihm so offensichtlich schwerzufallen schien. Vielleicht aber wollte ich mich auch nur selbst irgendwo festhalten, weil sich langsam ein flaues Gefühl in meinem Bauch breitmachte.
Paul zuckte unter meiner Berührung zusammen, sah mich mit einem Blick an, der mich erschreckte. Und ich verstand ihn und die Welt noch ein Stück weniger.
»Paul«, wisperte ich zusammen mit dem Rauschen der Tannen im Wind. »Was ist passiert?«
Ich wollte endlich Gewissheit haben über das, was ihn so um- und uns auseinandertrieb, und gleichzeitig hatte ich Angst vor dem, was er mir gleich eröffnen würde.
Paul hatte sich von mir abgewandt, ich erkannte nur sein Profil mit den ausgeprägten Wangenknochen und dem dunklen Bart. Sein Blick schien nicht den Rand des Waldes zu sehen, sondern Erinnerungen, die sich wie ein Film vor seinen Augen abspielen mussten .
»Ich bin zusammen mit Heather nach Sacramento gefahren, damit sie sich dort die California State University ansehen konnte«, fing Paul wieder zu sprechen an. Seine Stimme klang tonlos, als wäre er nicht mehr mit mir auf dieser Lichtung, sondern weit weg an einem anderen Ort in der Vergangenheit. »Ich hab ihr zwar von Anfang an gesagt, dass ich auf ein College nahe New Forreston gehen möchte, um in Lucas Nähe zu sein, aber ich dachte, dass wir eines dieser Paare sein könnten, bei denen die Entfernung keine Rolle spielen würde. Dass wir das schon irgendwie hinkriegen würden.« Paul lachte verbittert auf. »Bescheuert, ich weiß. Aber damals war ich mir sicher, dass dieses Leben in Kalifornien ihr ganz großer Traum wäre, und wieso hätte ich dann versuchen sollen, sie davon abzuhalten? Also wollte ich Heather zumindest eine Freude machen, indem ich sie begleite, als sie sich den Campus anschauen wollte. Ich dachte, wir könnten daraus einen Road Trip machen mit geiler Musik und eben nur wir zwei, und ich hab das in dem Moment echt gern für sie gemacht. Und auch wenn es schwierig geworden wäre, wäre ich bereit gewesen, es mit einer Fernbeziehung zu versuchen. Nur …« Paul zögerte und sah mich an, und ich glaubte, dieser Mann hatte nie schöner und zeitgleich gebrochener ausgesehen. Mein Herz hämmerte inzwischen unfassbar laut und fast schon schmerzhaft. Inzwischen hatte ich wirklich richtige Angst. Da war so ein Gedanke in mir, ein Gefühl, eine Warnung.
»Wir sind auf dem Rückweg gewesen, die Stimmung war gut, das kalifornische Lebensgefühl war irgendwie ansteckend. Nur dann hat Heather gesagt, dass sie will, dass ich mich auch in Sacramento bewerbe und dass wir es ansonsten ja gleich lassen könnten, wenn ich das nicht einmal in Betracht ziehen würde. Sie hat es so gesagt, als wäre das keine große Sache, sich deshalb zu trennen. Und dann habe ich mich ihr gegenüber richtig scheiße verhalten. Ich habe angefangen, Heather in diesem Auto anzuschreien, ich war wirklich gemein zu ihr, richtig fies. Und die meisten Dinge, die ich gesagt habe, hätte ich wenige Minuten später am liebsten wieder zurückgenommen. Irgendwann hat sie angefangen, zu weinen, und ich habe einfach immer weiter gemacht. Keine Ahnung … ich war so wütend, enttäuscht, hab mich so verraten gefühlt. Ich konnte einfach nicht mehr damit aufhören, selbst als sie mich darum gebeten hat. Und dann ging plötzlich alles so verdammt schnell.« Paul atmete tief ein und aus, schluckte und suchte schließlich meinen Blick, den er ewig festhielt, bevor er weitersprach. »Ich weiß immer noch nicht genau, wie es eigentlich passiert ist, vielleicht waren es die Straßenverhältnisse, vielleicht wollte Heather kurz an den Rand fahren, um das zwischen uns in Ruhe zu klären, vielleicht hat sie einfach so die Kontrolle über den Wagen verloren. Und ich … ich … oh Scheiße.« Pauls Stimme bebte. »Wir kamen ein Stück von der Straße ab, auf die andere Fahrbahn, und dann hab ich ihr ins Lenkrad gefasst, um das Auto herumzureißen, doch da war es schon zu spät. Bis heute kann ich nicht sagen, ob mein Eingreifen richtig gewesen ist oder alles nur noch schlimmer gemacht hat. Aber dann kam schon dieses andere Auto auf uns zugerast. Es hatte angefangen, zu regnen, draußen hat es gestürmt, und die Lichter sind immer näher gekommen. In diesem Moment wusste ich, dass ich absolut nichts mehr ändern konnte … Dann hat es gekracht, und irgendetwas hat Feuer gefangen.«
Eine eiserne Faust begann, sich um mein Herz zu schließen, drückte von Wort zu Wort fester zu. Und das Zittern fing in meinen Fingerspitzen an, breitete sich von dort ausgehend auf meinem gesamten Körper aus.
Pauls Autounfall in Kalifornien, ausgerechnet Kalifornien, meine Heimat.
Wenn Paul damals siebzehn Jahre alt gewesen war, dann war das inzwischen fünf Jahre her.
Genau so lang wie Dads Tod.
»Es war die Interstate 80«, sagte Paul schließlich kaum hörbar, und das war der Moment, in dem ich begriff, ohne zu verstehen.
Paul, der bereits einen Autounfall gehabt hatte und sich selbst die Schuld für irgendetwas aus seiner Vergangenheit gab. Der mit seinen ganz eigenen Dämonen zu kämpfen hatte – wie schlimm tatsächlich, wusste ich spätestens seit diesen Stunden zwischen gestern Nacht und heute Morgen, als ich meine Arme um ihn geschlungen und ihn beim Weinen gehalten hatte. Die Tatsache, dass er mich seit diesem zweiten Unfall an Weihnachten mit allen Mitteln von sich zu stoßen versuchte. Der ernste und gequälte Ausdruck in seinen sonst so warmen Augen. Dass er immer der Meinung gewesen war, nicht gut genug für mich zu sein.
»Nein«, sagte ich und meine eigene Stimme klang seltsam fremd in meinen Ohren. »Nein, das kann unmöglich sein! Das ist nicht möglich.«
»Louisa …«
Blut rauschte in meinen Ohren, bis ich mehrere Wimpernschläge lang nur noch ein schrilles Pfeifen hörte. Ich war wie gelähmt. Dazwischen drangen nur noch Fetzen von dem, was Paul sagte, zu mir durch:
»… hab dich aus dem Auto gezogen … Tür hat geklemmt … hast dich geweigert rauszukommen«.
»… dein Dad … sofort tot.«
Ich versuchte, möglichst ruhig zu atmen, versuchte, genug Luft in meine Lunge zu ziehen, doch es fühlte sich an, als würde sie mir entweichen, bevor ich sie überhaupt hatte einatmen können. Inzwischen bebte mein ganzer Körper.
»… Krankenwagen gerufen …«
»… hast nicht mehr aufgehört, zu weinen und zu schreien … an mir festgeklammert … ich wusste nicht, was ich tun sollte.«
Erinnerungen holten mich ein, unaufhaltsam und alle auf einmal. So vieles, das ich vor fünf Jahren in die hintersten Ecken meines Verstandes geschoben hatte. Ein Teil von mir hatte dies bewusst getan, der andere, mein Unterbewusstsein, schien gewusst zu haben, dass es besser so war und ich die Bilder nicht ertragen hätte. Es waren verschwommene Erinnerungen wie hinter schmutzigem Glas, dann wieder klare Momente. Wie mein Lieblingslied im Radio gelaufen war und wie ich jedes Mal komplett schief mitgesungen hatte. Wie Dad mich angelächelt hatte, mit dem Mund inmitten eines von Grau durchzogenen Bartes, aber vor allem mit den freundlichen blaugrauen Augen. Dann hatte sein Blick sich verändert. Plötzlich spiegelte er nur noch blankes Entsetzen wider. Und Angst. Ein Krachen und Luft, die mir schmerzhaft aus den Lungen gedrückt wurde. Dad, dessen Kopf seltsam zur Seite hing und das blaue Grau, in dem das Licht erloschen war. Wie ich an ihm gerüttelt hatte, weil ich nicht glauben wollte, dass er tot war. Doch Dad, der sonst immer so energiegeladen gewesen war, hing schlaff in seinem Gurt. Dann die Tür, die von irgendjemandem aufgerissen wurde, jemand, der versuchte, mich nach draußen zu ziehen, obwohl ich das doch gar nicht wollte. Jemand, der mich festhielt, als ich weinte und schrie und um mich schlug. Und jemand, der mir wahrscheinlich das Leben gerettet hatte. Aber wieso lebte ich, wenn Dad es nicht mehr tat? Wieso hatte es für mich eine Chance gegeben? Wieso ich und nicht er , das war in dieser Nacht einer meiner wenigen Gedanken gewesen. Das Schlimmste war jedoch gewesen, dass Mom mir dieselbe Frage gestellt hatte und es wahrscheinlich bis heute tat.
»… als der Krankenwagen ka
m … natürlich zu spät …«
»… das letzte Mal gesehen … du … plötzlich weg … mitgenommen.«
»… mit meiner Mom gesprochen … sicher gehen.«
Ich bekam immer noch nicht richtig Luft, und die Panik überrollte mich in immer heftigeren Wogen, während Bild um Bild auf mich niederprasselte. Erbarmungslos. Schonungslos. Unaufhaltsam.
»Ich will das nicht hören«, sagte ich leise. Pauls Arm berührte meine Schulter, und ich zuckte erschrocken zusammen, wich erst vor ihm zurück und sprang dann auf. Atmen. Ich musste atmen. Ein und aus. Ein. Aus. Einen Schritt nach hinten, noch einen. Schritt um Schritt, immer näher heran an den Rand der Lichtung.
»Ich will das nicht hören«, wiederholte ich, lauter dieses Mal. »Verdammt, ich will nichts davon hören! «
»Louisa, du musst atmen«, sagte Paul leise und ruhig. Auch er war inzwischen aufgestanden und hatte beide Hände erhoben, als er jetzt langsam auf mich zukam.
Jeder einzelne Atemzug tat weh. Die Wahrheit tat weh, und dieser Blick aus seinen braunen Augen tat es noch mehr.
»Ich …« Meine Stimme brach. Ein zweiter Anlauf: »Ich kann das jetzt nicht! Bitte!«
Paul nickte kaum merklich. Ich lief zum Rand der Lichtung, zu den Tannen. Dann rannte ich. Und ich rannte und rannte und rannte durch den Wald, Hauptsache weg. Doch die Gedanken blieben bei jedem Schritt, das Wissen blieb. Mein Herz schrie und hämmerte gegen meine Rippen, obwohl ein Teil von mir sich seltsam unbeteiligt und taub fühlte. Betäubt und leer. Als würde das alles jemand anderem passieren, doch nicht mir. Mein Herz … es tobte, es flehte, es schrie, es weinte. Es schlug nicht nur, nein, es schlug um sich. Und trotzdem war es im Auge des Sturms einfach nur still. Mit mir, meinen Erinnerungen und dem, was ich jetzt wusste.
Paul
Louisa stürmte davon, und innerhalb von Sekunden verschwanden ihre orangefarbenen Locken zwischen den Bäumen. Obwohl alles in mir mit einer quälenden Verzweiflung danach schrie, ihr hinterherzurennen und mich zu vergewissern, dass sie klarkommen würde, stand ich wie versteinert da und tat nichts weiter, als ihr hinterherzusehen. Allein wegen ihres bittenden Blickes versuchte ich nicht, sie einzuholen, weil es mir in diesem Moment wichtiger als alles andere war, dass Louisa den Raum bekam, den sie brauchte – Raum ohne mich. Doch die Sorge um sie schnürte mir die Luft ab, hielt mich mehr gefangen als alles andere, was gerade passiert war .
Der Blick in Louisas Augen, als die Wahrheit langsam zu ihr durchgedrungen war, würde sich für immer in mein Gedächtnis einbrennen. Das Blau ihrer Augen war Stück für Stück gefroren, je mehr sie verstanden hatte, je mehr der Puzzleteile sie zusammengesetzt hatte. Zwei tiefblaue Seen mit einer matten, undurchdringlichen Schicht Eis darüber.
Ich hatte gedacht, dass ich auf irgendeine Art und Weise erleichtert sein würde, doch ich war nur leer und ausgebrannt. Nichts daran fühlte sich richtig an, denn Louisa war weg, und ich hatte keine Ahnung, ob sie okay war – so weit zumindest, wie es in diesem Moment möglich war.
Sich ausgerechnet hier im Wald mit ihr zu treffen, um ihr alles zu erzählen, war offensichtlich eine richtig dumme Idee gewesen. Ich konnte nicht einmal sagen, wieso ich diesen Ort vorgeschlagen hatte. Es war ein Impuls gewesen, ein Gefühl. Vielleicht weil einem auf dieser Lichtung inmitten des Waldes, umgeben von einem Ozean aus Grün und dem Licht, das sich in den Blättern brach, alles andere seltsam unwirklich erschien. So, als wäre die Realität hier weniger erschütternd. Auch jetzt hätte ich am liebsten ewig hier gestanden und dem Wald so lange beim Atmen zugesehen, bis ich mich darin aufgelöst hätte.
Irgendwann bewegten meine Beine sich doch und trugen mich in langsamen Schritten zurück zum Campus. Ich begann, eine Nachricht an Aiden zu tippen, rief ihn dann aber doch an. Erst beim dritten Mal ging er ans Telefon, und ich fasste so kurz wie möglich zusammen, was passiert war. Wenn schon ich mich nicht versichern konnte, dass es Louisa gut ging, sollte jemand anderes nach ihr sehen, und Aiden war der Einzige, dem sie vertraute und der die ganze Wahrheit kannte. Meine Eifersucht, als ich erfahren hatte, dass die beiden sich geküsst hatten, erschien mir mit einem Mal unendlich weit weg. Nichts war von Bedeutung, nichts wichtig, als dass es diesem Mädchen aus Feuer irgendwie wieder gut ging.
Louis a
Die Kälte war mir unter die Haut gekrochen, und mit zitternden Fingern sperrte ich die Tür auf. Ich brauchte mehrere Anläufe, bis der Schlüssel im Schloss steckte.
Sobald ich den kleinen Eingangsbereich betrat und mir die Schuhe von den Füßen streifte, trat Aiden mit dem Handy am Ohr aus der Küche. Als er mich sah, ließ er das Telefon sofort sinken und legte ohne ein weiteres Wort auf.
»Lou«, stieß er erleichtert aus, »da bist du ja endlich. Ich …«
»Wusstest du es?«, unterbrach ich ihn tonlos. Stille. Das Knarzen von Holz, als ich auf den Ballen leicht hin und her wiegte. Meine Augen brannten schon die ganze Zeit, seit Stunden, in denen ich erst aus dem Wald hinaus und dann ziellos über den Campus gelaufen war, den Blick auf den Weg vor mir gerichtet und gleichzeitig in die Ferne. So, als wüsste ich, was ich jetzt tun sollte, als wüsste ich, was ich fühlte. Alle um mich herum waren zu sehr mit ihrem eigenen Leben beschäftigt, um zu bemerken, dass meins plötzlich still stand. Die ganze Zeit hatte ich die Tränen gespürt, die in mir aufzusteigen drohten, aber ich konnte nicht weinen. Und ich hätte es gewollt, ich hätte schreien wollen und toben und mir all den Schmerz und die Wut auf das Leben von der Seele weinen. Aber es ging nicht, es tat einfach nur weh …
Ich stand ganz still und leise da, blickte Aiden abwartend an. Er sah mich an und ich ihn. Er presste die Lippen aufeinander, öffnete sie, doch nur, um sie im nächsten Moment erneut zu schließen. Helle Augen vor dunklen Schatten. Ich wartete, doch Aiden sagte kein Wort. Und sein Schweigen war Antwort genug.
Übrig blieb nur ich. Und mein Schockherz.
12. KAPITEL
Paul
Es war verrückt. Ich konnte mir beim besten Willen nicht erklären, wieso ich hier tatsächlich saß. Oder wie zur Hölle ich mich dazu hatte überreden lassen können. Doch hier war ich und wartete. Natürlich hätte ich theoretisch einfach aufstehen und wieder gehen können, schließlich hatte ich bisher noch nicht einmal etwas bestellt. Ich könnte wieder zurück nach Redstone fahren, und wenn meine Mutter in wenigen Minuten das Café betreten würde, wäre da nur der leere Tisch links neben dem Eingang mit den Kaffeespuren auf dem lackierten Holz. Keine Spur von mir, keine Spur von ihrem Sohn, der gegen alle Vernunft eingewilligt hatte, sie zu treffen.
Ihr Anruf war gestern gekommen. Drei Tage, nachdem ich Louisa offenbart hatte, welches Geheimnis unsere beiden Leben miteinander verband, und ich sie das letzte Mal gesehen hatte. Meine Mutter hatte am Telefon nicht viel gesagt, nicht viel erklärt, nur, dass sie mich treffen wollte.
Nachdenklich fuhr ich mit den Fingern die Rillen im Holz nach, zeichnete unsichtbare Bilder auf die Tischplatte. Von Aiden wusste ich, dass Louisa ihn gefragt hatte, ob ich ihn eingeweiht hätte. Scheinbar hatte er sie nicht anlügen können, verdammt, ich hätte es auch nicht gekonnt. Und dann hatte sie ihre Sachen gepackt und war verschwunden. Aus der Wohnung, vom Campus, vorerst aus meinem Leben. Gott, ich machte mir so viele Sorgen, weil ich einfach absolut nicht wusste, was in ihr vorging. Niemand von uns wusste es. Das Einzige, was wir mit Sicherheit sagen konnten, war, dass sie bei Mel war. Sie hatte Trish geschrieben, damit wir uns keine Sorgen machten. Das einzige Lebenszeichen.
Immer wieder sah ich diesen völlig ausdruckslosen Blick in Louisas blauen Augen vor mir, der mir auch als Erinnerung jedes Mal aufs Neue das Herz brach. Einen Moment zuvor hatten noch Gefühle darin getobt.
Dabei ging es mir nicht um sie und mich, nicht um das zwischen uns, was jetzt noch viel weniger sein durfte, sondern darum, dass ich mir nichts mehr wünschte, als dass es Louisa gut ging. Ich wusste, wie stark sie war, doch jeder Mensch hatte irgendwo seine Grenzen, und ich wusste, dass ich sie mit der schonungslosen Wahrheit nicht nur dazu gebracht hatte, ihre Grenzen ungewollt zu überschreiten, sondern sie völlig aus der Bahn geworfen hatte.
Vielleicht hatte ich deshalb d
em Treffen mit meiner Mutter zugestimmt: Weil die letzten Wochen mich schwach gemacht hatten, die Tage nach der Nacht mit Louisa weich und nachgiebig. Trotzdem hatte ich darauf bestanden, dass wir uns nicht in der Villa, sondern außerhalb trafen. An einem Ort, der Teil meiner Welt war.
Ein verhaltenes Räuspern und ich hob den Blick. Meine Mutter stand plötzlich vor mir. Und mit ihr eine vertane Chance, denn jetzt konnte ich nicht mehr einfach verschwinden.
»Danke, dass du gekommen bist, Paul«, sagte sie statt einer Begrüßung. Nett. Höflich. Distanziert. Ich nickte und sie setzte sich auf den Stuhl mir gegenüber, die Beine elegant übereinandergeschlagen, die Hände im Schoß gefaltet. Meine Mutter wirkte völlig fehl am Platz in der bunt zusammengewürfelten Einrichtung mit dem gemütlich-chaotischen Charme und der lockeren Atmosphäre.
Das Café war nur zehn Gehminuten von der New Forreston High entfernt. Aiden, Trish und ich hatten hier mehr Pausen verbracht, als ich zählen konnte, und jeden Dienstag und Donnerstag nach der Schule waren wir zusammen hierhergegangen, um Waffeln zu essen, bis uns schlecht wurde .
Ich bestellte mir einen Cappuccino, meine Mutter einen Kaffee. Schwarz, mit einem Glas Leitungswasser. Und wir schwiegen erneut. Sie hatte um dieses Treffen gebeten, also war es auch an ihr, mir zu sagen, was ich hier tat. Doch stattdessen blätterte sie durch die Karte, die nur aus handbeschriebenen Seiten bestand. Auf der linken Seite waren sie mit einer roten Schnur und einer Schleife zusammengebunden.
»Kannst du etwas empfehlen?«, fragte sie und steckte eine Strähne ihres honig blonden Haars zurück in den tiefsitzenden Dutt. Das Gold ihrer Ringe glänzte dabei im Licht. Und als Mom mich anblickte und sich an einem Lächeln versuchte, sah ich für einen Moment Unsicherheit in ihren grünen Augen aufblitzen. Diese kleine Gefühlsregung genügte, um sie menschlicher und so viel greifbarer wirken zu lassen. Es machte sie mehr zu der Frau, die ich aus meiner frühesten Kindheit kannte. Die Frau, die über Grandpas Witze gelacht und mich getröstet hatte, wenn ich hingefallen war.
Wir sind der Sturm Page 19