Wir sind der Sturm

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Wir sind der Sturm Page 39

by Bichon, Sophie


  Krieg dich wieder ein! Komm darüber hinweg! Willst du nicht langsam wieder normal werden? Das waren Sätze, die mich inzwischen übervorsichtig machten. Damit angefangen hatte ausgerechnet Leah.

  Meine Freunde an der Highschool hatten nicht verstanden, dass das nichts war, worüber man einfach so hinwegkommen konnte. Als sie gemerkt hatten, dass ich nie mehr die Alte werden würde, schotteten sie sich von mir ab. Einer nach dem anderen. Irgendwann hatte nicht einmal mehr Leah angerufen. Und ich hatte mich zu sehr davor gefürchtet, mein Vertrauen erneut in andere Menschen zu setzen. Verliebt hatte ich mich auch nur ein einziges Mal. Aber im Nachhinein fragte ich mich, ob ich nicht einfach auf der Suche nach einer Ersatzfamilie gewesen war.

  »Hey, Louisa, hast du mir zugehört?«

  Schon wieder hatte ich mich in meinen Gedanken verloren, und als ich auf die Uhr sah, stellte ich erschrocken fest, wie spät es inzwischen schon geworden war.

  »Sorry, aber ich muss los!«

  Eilig packte ich meine Sachen zusammen, warf mir den Rucksack über die Schulter und winkte Trish im Gehen zu.

  Gerade als ich durch die Tür wollte, prallte ich unerwartet mit jemandem zusammen.

  Paul

  Ich trat einen Schritt zurück und …

  Heilige Scheiße ! Für Sekunden sah ich nichts als erschrockene eisblaue Augen und dunkle Wimpern. Ich dachte an die Tiefe von Seen und Ozeanen.

  Das Mädchen, das gerade gegen mich gerannt war, murmelte eine Entschuldigung, doch bevor ich etwas erwidern konnte, war sie schon weg. Ich sah nur noch wehende Locken, die die Farbe von Feuer hatten, und einen perfekten, runden Hintern. Oh fuck! Grinsend blickte ich ihr viel zu lange nach, als mich plötzlich ein nasses Geschirrtuch am Kopf traf.

  Trish stand kopfschüttelnd vor mir, konnte sich das Lachen aber nur schwer verkneifen. »Hör auf, meine Kollegin mit deinen Blicken auszuziehen!«

  »Deine Kollegin?« Normalerweise kannte ich alle, die im Firefly arbeiteten. Wenn Trish ihre Schichten hatte, hingen Aiden und ich ständig abends hier rum, manchmal kamen auch Isaac und Taylor mit. Aber meistens waren meine beiden Mitbewohner sowieso mit Kiffen oder einem ihrer Games beschäftigt.

  »Jap, seit heute.« Erleichtert sah sie mich an und strich ihre Schürze glatt. »Jetzt muss ich endlich keine Doppelschichten mehr schieben!«

  Ein unaufmerksamer Augenblick von Trish, und ich stürzte mich auf sie, hob sie hoch, bis sie quietschte und bettelte, dass ich sie gefälligst sofort runterlassen sollte. Seit Jahren unser Begrüßungsritual. Leider gehörten dazu auch ihre winzigen Fäuste, die ich aber nicht wirklich spürte.

  »Wollen wir anfangen?«, fragte ich, als sie wieder sicheren Boden unter den Füßen hatte und mich atemlos anfunkelte.

  Trish hatte Brian nach wochenlangen Überredungskünsten endlich davon überzeugen können, dass das Firefly neben der Website endlich auch auf Instagram und Facebook vertreten sein sollte. Und da sie wusste, wie froh ich über das zusätzliche Geld war, hatte sie mich als Fotografen vorgeschlagen. Ich scannte den Raum nach dem idealen Platz, nachdem Trish sich die Haare zurechtgezupft hatte. Beim Fotografieren kam es nicht nur auf den passenden Hintergrund an, das Wichtigste war immer das Licht. Und das gewisse Etwas. Etwas, das man nicht erwartete. Als ich die ideale Stelle vor einer der roten Wände gefunden hatte, forderte ich Trish auf, sich mit einem beladenen Tablett an einen der Tische zu stellen.

  Schon nach den ersten Minuten raufte ich mir die Haare. »Summers, du siehst aus, als würdest du in einem Horrorfilm mitspielen!« Ich ließ mich entnervt in einen der grünen Sessel fallen, nachdem ich an der Theke zwei Bier geholt hatte, und machte uns beiden erst mal die beiden Flaschen auf. Jedes Mal, wenn Trish bemerkte, wie sich die Linse meiner Kamera auf sie richtete, wurde aus ihrem sonst so herzlichen Lachen eine Grimasse wie aus einer Stephen-King-Verfilmung. Die meisten Leute verkrampften, wenn sie möglichst natürlich wirken wollten. Und je mehr sie über ihre Pseudonatürlichkeit nachdachten, desto schlimmer wurde es.

  »Bei deinem Charme, Berger, ist es kein Wunder, dass du keine Freundin hast!« Sie ließ sich neben mir in die Kissen fallen und schnappte sich ihr Bier.

  Ich verdrehte die Augen. Das war kein Gespräch, das wir zum ersten Mal führten. »Ich bin Single«, sagte ich schließlich, »weil ich gerade echt genug zu tun habe. Meine Entscheidung!«

  »Oder auch nur, weil du unausstehlich bist!« Trish lächelte.

  »Verdammt, Summers«, knurrte ich genervt, »ich sage dir das jetzt noch ein einziges Mal, damit du mich endlich mit diesem scheiß Thema in Ruhe lässt: Ich. Will. Keine. Freundin. Ich habe keine Zeit für so etwas!«

  »Komisch, denn ausreichend Zeit für deine vielen Sexabenteuer scheinst du zu haben!« Der blonde Zwerg wusste genau, wie mich dieses Thema nervte. Als müsste sie sich verkneifen, was sie gerade noch hatte sagen wollen, biss Trish sich auf die Unterlippe und hob beide Hände. »Frieden!«

  Die beschissene Wahrheit war: Wenn man die Schuld und den Schmerz für etwas derart Schreckliches und Unverzeihliches mit sich herumschleppte, wie ich es seit Jahren tat, dann war man verdammt noch mal nicht unbedingt ein geeigneter Kandidat für eine Beziehung. Oder irgendeine Form von Nähe.

  Eine halbe Stunde später stürzten Trish und ich uns in den zweiten Versuch. Ich schloss mein Handy an der Anlage an und spielte grinsend den Soundtrack von High School Musical ab – ein dunkles Kapitel aus Trishs Vergangenheit, an das sie ziemlich ungern erinnert wurde: Nach Schulschluss hatten Aiden und ich die Nachmittage bei ihr zu Hause verbracht, und sie hatte uns Tag für Tag gezwungen, uns ihre nachgeahmten Tänze im Stil von Troy und Gabriella anzusehen.

  Lachend forderte ich Trish also auf, ihren Lieblingssong zu performen, und tatsächlich: Sie entspannte sich immer mehr.

  Nach einer weiteren Stunde waren um die fünfzig Bilder dabei, die verdammt gut waren. Einige zeigten sie an der Kaffeemaschine, dann mit einem vollen Tablett in der Hand und noch eins, auf dem sie sich mit zwei Gästen an einem Tisch im hinteren Bereich unterhielt. Das helle Blond ihrer Haare hob sich auf den Bildern extrem von der dunklen Wand ab, was eine hammer Wirkung hatte.

  Danach schlängelte ich mich durch den mittlerweile wieder gut gefüllten Raum nach hinten zu Brian, um ihm die Aufnahmen zu zeigen. Wir luden die Bilder auf seinen Rechner, suchten zusammen die besten aus, und ich versprach, ihm die bearbeiteten Fotos in der kommenden Woche vorbeizubringen.

  Und als ich loszog, um mich mit meinem Bruder Luca zu treffen, dachte ich plötzlich an ein Paar Augen aus arktikblauem Eis.

  2. KAPITEL

  Louisa

  »Sorry, dass ich zu spät bin. Ich zieh mich noch schnell um, dann können wir los!«, rief ich in die Wohnung, während ich meinen Schlüssel achtlos auf die Kommode im Flur schmiss.

  Alles hier drin war winzig und beengt, aber ich mochte es, weil es mich an ein Haus am Waldrand und eine bessere Zeit erinnerte. Mein Zimmer lag am Ende des kleinen Flurs, links davon war Aidens Zimmer und rechts davon die Wohnküche, in der neben dem Esstisch sogar noch ein gemütliches Sofa Platz hatte.

  Ich holte mir eine Coladose aus dem Kühlschrank und ließ mich in meinem Zimmer erschöpft auf mein Bett fallen. Noch in der ersten Nacht hatte ich es direkt unter das große Fenster an der Stirnseite des Raums geschoben, weil ich mir von dort einen guten Blick auf die Sterne erhoffte. Der Anblick beruhigte mich, wenn meine Gedanken zu stark kreisten. Und trotzdem hatte ich am Abend zuvor unter den Blicken eines kopfschüttelnden Aiden fünf verschiedene Lichterketten kreuz und quer an der Decke befestigt – mein eigener Sternenhimmel, falls der vor meinem Fenster nicht reichen sollte.

  Außer dem Bett hatte ich für wenige Dollar auch den schmalen Schreibtisch, die dunkle Holzkommode mit den bunten Griffen an der gegenüberliegenden Wand und das Regal daneben ablösen können. Es standen immer noch jede Menge Kisten auf dem Boden, und mir fehlte ein weiteres Regal für all meine Bücher, die sich überall auf dem Boden stapelten, aber ein bisschen fühlte es sich schon wie ein Zuhause an.

  »Hey!« Mit vor der Brust verschränkten Armen lehnte Aiden im Türrahmen meines Zimmers. Ein kurzer Blic
k auf das Handtuch in seiner rechten Hand und die zerzausten blonden Haare, die sein weißes Shirt mit dem Berglöwen im runden Redstone-College-Logo volltropften, und mir entfuhr ein Seufzen. Hätte ich vorher gewusst, dass Aiden sich nach seiner Bandprobe so viel Zeit beim Duschen lassen würde, hätte ich mich weniger beeilt und wäre im Firefly nicht in diesen Kerl hineingerannt.

  Es war nur ein flüchtiger Blick gewesen: auf ein markantes Kinn mit einem dunklen Bart, der mich für Sekunden an meiner Schläfe gekitzelt, ein Mund, der sich unwillkürlich zu einem Grinsen verzogen, und ein intensiver Blick aus braunen Augen, der mich einen Moment zu lange festgehalten hatte – genau wie die raue Hand, die mich vor dem Stolpern bewahrt hatte. Ich hatte gespürt, wie der Typ mir hinterhergesehen hatte. Und ich hatte es tatsächlich genossen.

  »Wie war dein erster Arbeitstag?«, wollte Aiden mit einem selbstzufriedenen Grinsen wissen, während er sich die nassen Haare mit dem Handtuch trocken rubbelte. Seine blauen Augen blitzten.

  »Ehrlich gesagt«, erwiderte ich und blickte ihn mit zusammengekniffenen Augen an, »wusste ich erst nicht, ob ich dir an die Gurgel gehen oder dankbar sein sollte.«

  Aiden musterte mich skeptisch, doch das Grinsen auf seinen Lippen verrutschte kein Stück.

  Ich beugte mich über eine der unausgepackten Kisten, die noch immer am Fußende meines Bettes standen, und wühlte nach meiner Spardose, um das großzügige Trinkgeld von heute darin zu verstauen. Aiden kommentierte mein Schweigen mit erhobener Augenbraue.

  Als die Dose im Regal stand, erbarmte ich mich schließlich. »Aber …« Ich zog das Wort mit Absicht in die Länge und drehte mich wieder zu ihm um. »Ich habe beschlossen, dankbar zu sein, weil ich wirklich dringend einen Job gebraucht habe.«

  »Hab ich doch gerne gemacht!« Zufrieden stieß Aiden sich vom Türrahmen ab. »Du kannst mir später danken, Lou«, fügte er noch hinzu und steuerte sein Zimmer an.

  »Bilde dir ja nichts darauf ein!«, rief ich ihm hinterher.

  Aber er lachte nur.

  »Was hältst du von dem hier?«, fragte Aiden mich eine Stunde später, als wir bei Harper & Bishop vor einem weiß lackierten Holzregal standen.

  In einem seiner Räume verkaufte der Laden am Stadtrand gebrauchte Möbel. Und auch wenn ich seit heute einen Job hatte, wollte ich für ein neues Bücherregal nicht mehr Geld ausgeben als notwendig. Hier hinten standen Stühle, Regale, Tische und Kommoden wild durcheinander. Ich liebte gemütliches Chaos und trotzdem war ich bisher noch nicht fündig geworden.

  »Hmm … ich weiß nicht.« Ich legte den Kopf schräg und ging einmal um das Regal herum. »Das sieht so leblos aus!«

  »Wie kann ein Regal leblos aussehen?«, fragte Aiden mich und schob die Hände in die Hosentaschen seiner schwarzen Jeans.

  Ich zuckte mit den Schultern. »Na ja, so wie das hier eben!«

  Aiden lachte. »Das besteht aus toten Bäumen! Natürlich sieht das nicht gerade lebendig aus.«

  Und genau in dem Moment, in dem ich ansetzte, etwas zu erwidern, entdeckte ich aus dem Augenwinkel ein großes Holzregal in der Farbe von Kaffeebohnen und mit verschnörkelten Ornamenten an den Rändern der einzelnen Bretter. Zielstrebig lief ich darauf zu und bedeutete Aiden, mir zu folgen. »Das hier zum Beispiel sieht lebendig aus«, sagte ich zufrieden und strich mit beiden Händen liebevoll über die dunkle Holzmaserung.

  »Ich weiß ja nicht«, murmelte Aiden und beäugte kritisch die teilweise abgebrochenen Kanten der Ornamente und die Risse im Holz.

  Die Skepsis in seinen blauen Augen entlockte mir ein leises Lachen. »Das ist ein bisschen so wie mit Büchern«, erklärte ich, während Aiden einmal um das Regal herumging. Dann sah er mich abwartend an. »Ich liebe es, wenn man sieht, dass sie nicht nur gelesen, sondern auch geliebt wurden. Mit Knicken und Notizen am Rand. Das macht sie für mich erst lebendig und einzigartig«, fügte ich nachdenklich hinzu und strich ein weiteres Mal über das dunkle Holz. »Und so ist es auch bei Möbeln. Ich mag es, wenn sie alt und unperfekt sind. Jede Unregelmäßigkeit erzählt eine eigene Geschichte. Diese abgebrochene Ecke hier zum Beispiel«, ich beugte mich nach vorn und deutete auf eine Stelle am untersten Regalbrett, »vielleicht hat eine betrogene Ehefrau im Streit ihre Lieblingsvase nach ihrem Mann geworfen und −«

  Unwillkürlich biss ich mir auf die Unterlippe. Schweigen ist Gold , sagt man. Und das hat seinen Grund, denn Reden ist gefährlich. Gerade waren mir Aiden gegenüber mehr Wörter über die Lippen gekommen als in den letzten 53 Stunden zusammen.

  Er sah mich überrascht an, als spürte er, dass ich gerade fast meine selbst auferlegte Grenze überschritten hatte. Behutsam strich er dann über die abgebrochene Kante und lächelte mich an. »Du bist wirklich eine Träumerin, Lou. Aber auf eine gute Art.«

  Du bist eine Träumerin, Louisa. Immer hast du den Kopf in den Wolken.

  Und schon war da wieder dieses enge Band um meine Brust und machte mir das Atmen schwer. Ich war wie eine zerbrochene Vase, die man halbherzig zu kleben versucht hatte. Ich hatte erleben müssen, wie es war, sein Herz an die falschen Menschen zu hängen. Und seitdem verbarg ich meine Emotionen tief in meinem Innersten, wo mich nichts und niemand verletzten konnte. Instinktiv schien Aiden das zu spüren, denn er hatte meine persönliche Grenze in der kurzen Zeit, die wir uns kannten, bisher nicht überschritten – und das war ungewöhnlich, wo sie doch so extrem schnell erreicht war.

  Ich wusste, dass Aiden Musik im Hauptfach studierte. Ich wusste, dass er zusammen mit seinem besten Freund nach Redstone gezogen war und dass Trish den beiden ein Jahr später gefolgt war. Ich wusste, dass er am liebsten Dr Pepper trank, seine Geschwister Ally, Andrew, Anthony und Alex hießen und er der Älteste war. Was Aiden über mich wusste? Dass ich keine Fragen mochte, Game of Thrones dafür umso mehr. Und dass ich ziemlich sarkastisch sein konnte. Sonst war da nichts.

  »Lou?« Ein besorgter Ausdruck trat in Aidens Gesicht. Und für einen kurzen Moment lag seine Hand schwer auf meiner Schulter. »Sollen wir das Regal nehmen?«, fragte er.

  Zwanzig Dollar stand auf dem kleinen handbeschrifteten Preisschild. Ich zwirbelte eine meiner Locken nachdenklich um den rechten Zeigefinger und nickte dann. Und war dankbar dafür, dass Aiden nicht wissen wollte, wieso ich gerade mal wieder so weggetreten gewesen war.

  Auf der Rückfahrt sah ich immer wieder auf mein Handy. Schon wieder kreisten meine Gedanken um Mel.

  Ich hasste Streit. Und vor allem hasste ich Streit mit meiner Schwester. Eigentlich war es gar keine richtige Auseinandersetzung, diese Funkstille fühlte sich trotzdem so an. Auch wenn wir so unterschiedlich waren wie Tag und Nacht, waren wir doch immer mehr gewesen als bloß Schwestern. Sie war immer auch meine beste Freundin gewesen, trotz oder gerade wegen der neun Jahre zwischen uns. Wir hatten über die gleichen Dinge gelacht, in denselben Momenten angefangen zu weinen und uns auch ohne Worte verstanden. Als ich acht gewesen war, hatten wir uns sogar unsere eigene Geheimsprache ausgedacht, eine Kombination aus Farben und Zahlen, die nur wir beide entziffern konnten.

  Mehrere Minuten lang tat ich nichts anderes, als das Handy in meinen Händen anzustarren, während Aiden leise einen Song im Radio mitsang und dabei auf das Lenkrad trommelte.

  Bin gut angekommen.

  Ich wartete. Dann schrieb ich noch einmal.

  Ist es okay, wenn ich das Auto nächste Woche vorbeibringe?

  Das war meine Art zu sagen, dass ich sie liebte. Und dass mir mein überstürzter Aufbruch leidtat.

  So viel Mel mir auch bedeutete, ich konnte nicht verstehen, dass sie den Kontakt zu Mom aufrechterhielt. In dem Moment, in dem ich durch die dünnen Wände gehört hatte, wie die beiden miteinander telefonierten, war bei mir eine Sicherung durchgebrannt. Es hatte sich angefühlt wie Verrat. Ich hatte Mel nach dem Schlüssel für ihren Fiat gefragt, meine wenigen Sachen und meine Lieblingsbücher auf die Rückbank geschmissen und war losgefahren. Eine Woche früher als geplant und ohne ein weiteres Wort.

  Als wir vor dem Wohnheim parkten, vibrierte mein Handy. Endlich.

  alles klar. ich hab dich lieb.

  »Ich dich auch.«

  Paul

  Genervt
blickte ich durch die Windschutzscheibe nach draußen. Natürlich hatte ich wieder so geparkt, dass mich vom Haus aus niemand sehen konnte. Hier nach zwei Stunden Fahrt herumzustehen war trotzdem unangenehm. Ich saß in meinem gebrauchten Pick-up, von dem der dunkelgrüne Lack abblätterte, sodass man den feinen Rost darunter erkennen konnte.

  Mit dem Job in der Küche vom Luigi’s, den Aiden mir besorgt hatte, und den ganzen Fotoaufträgen, die ich hier und da bekam, arbeitete ich neben dem Studium mehr für meinen Unterhalt als andere. Fast mein ganzes Geld hatte ich in diese Karre gesteckt.

  Ich hatte den Pick-up absichtlich so weit wie möglich vom Haus entfernt abgestellt, denn eine Begegnung mit meinem Vater war wirklich das Letzte, was ich wollte. Vor allem nicht nach diesem beschissenen Anruf vor zwei Tagen, der für meinen Geburtstag sowieso zu spät gekommen war.

  Er war wieder ins Deutsche verfallen, wie immer, wenn er sich aufregte. »Hallo, Sohn!«, hatte er gesagt, als wäre die Tatsache des Sohn-Seins alles, was mich ausmachte. Verdammt! Was er mir zu sagen gehabt hatte, war das Gleiche wie sonst auch. Ob ich mit einem Jahr mehr Weisheit denn nun Vernunft angenommen hätte. Ob ich mein sinnloses Philosophiestudium jetzt endlich an den Nagel hängen würde, um meinen rechtmäßigen Platz bei Berger Industries einzunehmen. Dass ich doch nicht tatsächlich an meinen Erfolg glauben konnte. Jedes seiner Worte troff dabei vor Spott und Ablehnung, und mein Wunsch, auf irgendetwas einzuschlagen, war ins Unermessliche gestiegen.

  Dabei wusste ich selbst nicht, ob es das Richtige war. Aber genau darum ging es doch: Ich musste einfach für mich herausfinden, wer ich war und was ich wollte. Dass ich von meinen Fotografien allein nicht leben konnte, war mir klar. Aber ich hatte etwas zu sagen. Keine Ahnung, ob das wirklich von Bedeutung war. Aber wenn ich mit meinen Bildern und den Gefühlen, die sie beim Betrachter im Idealfall auslösten, eine Handvoll Menschen zum Umdenken bringen konnte, dann war es mir das wert: mehr Weltoffenheit, mehr Toleranz, mehr Vertrauen, mehr Verzeihen. Ich war kein Optimist und kein Pessimist. Und auch wenn das wenig Sinn ergab, bewegte ich mich unablässig irgendwo zwischen Idealismus und Realismus.

 

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