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Silver Crown - Forbidden Royals (German Edition)

Page 22

by Johnson, Julie


  Scham? Mitleid? Angst? Hoffnung? Verlangen? Trauer ?

  Ich sitze hier in vollkommener Dunkelheit. Mein Körper ist wie gelähmt, während mein Verstand Purzelbäume schlägt und ich es jeder einzelnen Textzeile erlaube, sich wie ein Metallsplitter in mein Herz zu bohren.

  I’m torn from the truth that holds my soul …

  Nur vage wird mir bewusst, dass Tränen über meine Wangen laufen. Ich kann nicht mal genug Willenskraft aufbringen, um sie wegzuwischen. Meine ganze Aufmerksamkeit ist fest auf die Musik gerichtet … und auf den Mann, der sie für mich abspielt.

  Ganze vier Minuten lang höre ich zu.

  Und weine.

  Und warte.

  Ich suche nach Antworten, finde aber keine.

  Das Lied verstummt.

  Das Bluetooth-Gerät gibt erneut einen Laut von sich, als er die Verbindung trennt.

  Und dann herrscht im Zimmer nur noch Stille. Aber mein Verstand – oh, und mein Herz brüllen so laut, weil sie so viele Fragen haben, und ich weiß, dass nicht die geringste Chance besteht, dass ich in dieser Nacht noch Schlaf finden werde.

  Was für ein Spiel spielst du, Carter?

  18. KAPITEL

  Ich werde mich übergeben.

  Der Krönungstag ist offiziell angebrochen und mit ihm ist eine Übelkeit gekommen, wie ich sie noch nie zuvor verspürt habe. Ich stehe in ein Korsett geschnürt in meinem Schlafzimmer. Es ist so eng zusammengezogen, dass ich kaum atmen kann – ganz zu schweigen von essen.

  Vermutlich ist es so am besten. Ich würde mich nur ungern vor Würdenträgern aus zwölf Ländern und allen anderen Personen aus der caerleonischen Gesellschaft, die einen Titel tragen, übergeben.

  Das Summen meines Handys ist eine willkommene Ablenkung. Ich gehe zum Nachttisch und spüre, wie ich blass werde, als auf dem Display das Wort ZUHAUSE aufleuchtet. Jemand ruft mich von dem Festnetzanschluss in meinem Haus in Hawthorne aus an. Das Haus, zu dem niemand außer mir einen Schlüssel hat.

  Meine Finger zittern, als ich auf eine Taste drücke, um den Anruf entgegenzunehmen.

  »Hallo?«

  »Ems – leg bitte nicht auf.«

  Ich seufze. »Owen, ich habe dich um Abstand gebeten …«

  »Bitte!« Er klingt verzweifelt. »Wenn du nach diesem Telefonat nie wieder mit mir redest, ist das in Ordnung. Aber du musst mir jetzt zuhören. Kannst du mir diesen Gefallen tun?«

  »Bist du bei mir eingebrochen, um mich anzurufen?«

  Eine Pause entsteht.

  »Oh Gott, du bist tatsächlich bei mir eingebrochen! Was zum Teufel soll das, Owen?«

  »Du hast meine Anrufe nicht entgegengenommen«, blafft er. »Ich hatte keine andere Wahl.«

  »Die Wahl bestand darin, mir Abstand zu gewähren , worum ich dich gebeten hatte. Du weißt schon, nachdem du der ganzen Welt meine Identität verraten und mein Leben ruiniert hast. Erinnerst du dich?«

  »Ems …« Die Traurigkeit in seiner Stimme kratzt an der Stahlwand, die ich an dem Tag, an dem er mich verriet, um mein Herz herum errichtet habe. »Ich weiß, dass es keine Entschuldigung ist, aber an jenem Tag … Hör zu, ich bin nicht stolz darauf. Ich war betrunken. Ich war aufgebracht. Gott, du bist der wichtigste Mensch in meinem Leben, und ich konnte nur noch spüren, wie du mir zu entgleiten drohtest und … es hat mir verdammt große Angst eingejagt. Ich bin einfach ausgerastet.«

  »Das ist keine Rechtfertigung für das, was du getan hast.« Meine Stimme wird leise. »Du sagst, dass ich der wichtigste Mensch in deinem Leben und deine beste Freundin bin … Aber das sind nur Worte, wenn du dich nicht entsprechend verhältst und handelst …«

  »Es tut mir leid, Ems. Es tut mir so verdammt leid. Du verstehst nicht …«

  »Oh doch, ich verstehe! Sehr wohl sogar.« Meine Kehle schnürt sich zusammen. »Aber du solltest nicht der Mensch sein, der mich schlimmer als jeder andere verletzt. Du solltest der einzige Mensch sein, auf den ich mich wirklich noch verlassen kann. «

  »Wenn du mir einfach zuhörst, schwöre ich, dass ich es wieder in Ordnung bringen werde …«

  »Ich lege jetzt auf, Owen.«

  »NEIN!« Sein Brüllen ist so laut, dass ich vom Telefon zurückzucke. »Du musst mir zuhören. Ich habe nicht viel Zeit. Die Dinge könnten bereits in Gang gesetzt worden sein, und ich bin mir nicht sicher, ob ich sie aufhalten kann.«

  »Wovon redest du?«

  Er flucht leise. »Nachdem du weg warst, diese letzten paar Wochen … habe ich an Veranstaltungen der Monarchiegegner auf dem Campus teilgenommen.«

  Ich verspüre einen schmerzhaften Stich im Herzen. »Warum erzählst du mir das? Um mich noch mehr zu verletzen? Um mir das Messer noch tiefer in mein Herz zu rammen? Hat es dir nicht gereicht, der Welt zu verraten, wer ich bin – willst du den Leuten jetzt auch noch mitteilen, wie sehr du mich hasst?«

  »Nein! Du verstehst das alles völlig falsch, Ems. Ich habe mich den Gruppen nur angeschlossen, weil ich dachte, dass ich dort Antworten in Bezug auf …« Er senkt die Stimme, als hätte er Angst, die nächsten Worte zu laut auszusprechen. »In Bezug auf das Feuer finden würden.«

  Die ganze Welt hört auf, sich zu drehen.

  »Was? Du meinst das Feuer hier im Palast?«

  »Ja«, murmelt er. »Ems … Nicht alle Gegner der Monarchie geben sich damit zufrieden, friedliche Protestmärsche abzuhalten, Plakate hochzuhalten und Streiks zu organisieren. Ein paar von ihnen sind bereit, noch weiter zu gehen.«

  »Was meinst du damit?«

  »Letztes Jahr hörte ich bei einer der Versammlungen, wie ein paar der Jungs sagten, dass die einfachste Lösung für das Problem die Beseitigung der Ursache sei: Wenn es keine Lancasters mehr gäbe, gäbe es auch keine Thronfolger mehr … und damit auch keine Monarchie.«

  »Willst du damit das sagen, was ich denke?« Meine Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern. »Owen …«

  »Ich sage, dass ich mich diesen Gruppierungen wieder angeschlossen habe, nachdem du in dieses Leben hineingezogen wurdest, weil eins klar ist: Wenn auch nur die Chance besteht, dass diese Jungs nicht bloß groß dahergeredet haben …« Er atmet aus. »Ich konnte dich nicht mit einer Zielscheibe auf dem Rücken herumlaufen lassen. Nicht wenn ich wusste, dass ich etwas tun konnte, um dich zu beschützen.«

  Meine Brust schmerzt. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich weiß ja momentan kaum noch, wo oben und unten ist. Alles fühlt sich schräg an, so als wäre die Welt in Schieflage geraten.

  »Ems? Bist du noch dran?«

  »Ja, bin ich.« Ich zwinge mich, tief einzuatmen – was in diesem Korsett nicht ganz leicht ist. »Meinst du … hältst du es tatsächlich für möglich, dass sie für das Feuer verantwortlich sein könnten?«

  »Ich habe noch keine eindeutigen Hinweise gefunden. Sie vertrauen mir bis zu einem gewissen Grad – vor allem nachdem sie in den Nachrichten gesehen haben, wie mich die Königsgarde vor Wyndsor Abbey festgenommen hat, weil ich deine Identität vor der Presse preisgegeben habe. Aber ich werde nicht in alle ihre Pläne eingeweiht. Ich brauche schlicht und ergreifend mehr Zeit. Aber da heute Abend die Krönung ansteht …«

  »Du denkst, dass etwas passieren könnte.«

  »Jeder in Caerleon, in dessen Adern auch nur ein Tropfen Lancaster-Blut fließt, wird in diesem Schloss sein. Hinzukommen weitere hochrangige Mitglieder zahlreicher anderer Monarchien. Es wäre ein perfektes Ziel.«

  Entsetzen überkommt mich. Er hat recht .

  »Ich weiß nicht, was ich deiner Ansicht nach mit dieser Information anfangen soll. Linus wird die Krönung niemals absagen – nicht ohne eine handfeste Bedrohung. Und ich werde den Feierlichkeiten unter keinen Umständen fernbleiben können.«

  »Ich weiß.« Er hält inne. »Sei … sei bitte einfach vorsichtig. Wenn dir etwas zustoßen sollte, würde ich mir das nie verzeihen.«

  Eine unaufhaltsame Träne rinnt aus meinem Augenwinkel und fällt auf den glänzenden Parkettboden. »Ich werde vorsichtig sein. Versprochen.«

  »Gut«, sagt er mit rauer Stimme. Ich weiß, dass er seine Gefühle streng unter Kontrolle hält. »Könntest du … Meinst du, dass du mich danach anrufen könntest? Damit ich de
ine Stimme hören kann und weiß, dass es dir gut geht?«

  »Klar«, flüstere ich. »Und, Owen?«

  »Ja?«

  »Danke. Dafür dass du auf mich aufpasst, auch wenn es zwischen uns gerade etwas kompliziert ist.«

  »Du musst mir nicht danken, Ems. Pass einfach nur auf dich auf.«

  Wie vorauszusehen war, stoßen meine Warnungen bezüglich der Sicherheit auf taube Ohren.

  Linus ist offensichtlich viel zu beschäftigt, um mit mir zu sprechen, also ist Simms derjenige, der sich meinem ebenso panischen wie besorgten Wortschwall stellen muss. Er steht im kleinen Wohnzimmer meiner Suite und hat die Arme vor einem zu engen Smoking verschränkt, während sein Doppelkinn wichtigtuerisch schwabbelt.

  »Eure Hoheit, ich versichere Ihnen, dass Sie absolut sicher sein werden. Die Königsgarde ist auf alle Eventualitäten bestens vorbereitet. Das Schloss ist sicher.« Er mustert mich von Kopf bis Fuß, wobei mein Bademantel und meine nackten Füße eindeutig auf seine Missbilligung stoßen. »Und nun muss ich mich um unsere erlauchten Gäste kümmern, und Sie müssen sich fertig machen – es sei denn, Sie haben vor, in diesem Aufzug bei der Zeremonie zu erscheinen.«

  Ich verdrehe die Augen. »Nein, Simms.«

  »Sehr gut, Prinzessin. Dann werde ich gleich die Leute vorbeischicken, die sich um Ihre Haare und Ihr Make-up kümmern, damit sie Ihnen bei den letzten Vorbereitungen zur Hand gehen können. Bitte trödeln Sie nicht – die ersten Gäste treffen bereits ein, und man erwartet Sie noch innerhalb dieser Stunde im Thronsaal.«

  Er verschwindet mit einem Schnauben und lässt eine Wolke seines aufgeblasenen Egos zurück, die in der Luft hängt wie der Geruch eines scheußlichen Rasierwassers.

  Vierzig Minuten später betrachte ich mich im Spiegel und erkenne die Frau, die mich daraus ansieht, kaum wieder. Das Ballkleid ist wahrlich ein Kunstwerk – champagnerfarbener Satin und Tüll mit kunstvoll gestickten Spitzenapplikationen, die beide Ärmel bedecken und in schimmernden goldenen Wellen nach unten verlaufen. Das Mieder liegt eng an meinem Körper an und betont meine Kurven dank des straffen Korsetts wie nie zuvor. Der Rücken ist tief ausgeschnitten, um den Großteil meiner Wirbelsäule zu enthüllen, und geht dann fließend in einen voluminösen Rockteil über, an dem eine sechzig Zentimeter lange Schleppe hängt.

  In diesem Kleid sehe ich tatsächlich wie eine Prinzessin aus.

  In diesem Kleid … fühle ich mich beinahe wie eine Prinzessin .

  Ich bin absolut überzeugt, dass die Damen, die sich um meine Haare und mein Make-up kümmern, magische Fähigkeiten besitzen, denn keine gute Fee hätte das besser hinbekommen können – nicht mal mit einem Zauberstab. Meine Augen sind mit Schwarz und Gold umrandet, was ihr Grün optimal hervorhebt. Meine Lippen haben einen tiefroten Beerenton bekommen, der irgendwie schimmert, ohne klebrig zu sein. Und meine wilden Locken wurden gezähmt, in glänzende mahagonifarbene Spiralen verwandelt und zu einer Hochsteckfrisur geformt, die passend zur Krone entworfen wurde.

  Der bloße Gedanke an das, was mir bevorsteht, sorgt dafür, dass ich den Mund zu einer ernsten Linie zusammenpresse und meine Hände nervös zittern.

  »Sie sehen bezaubernd aus, Eure Hoheit«, sagt die Friseurin und lächelt stolz. »Sind Sie bereit?«

  Nein.

  »Ja«, murmle ich und wende der Fremden im Spiegel den Rücken zu. »Gehen wir.«

  Mein Herz hämmert so heftig, dass ich das Gefühl habe, es könnte aus meiner Brust springen, während ich durch den Flur in Richtung Thronsaal schwebe. Vier Mitglieder der Königsgarde in vollem Ornat begleiten mich dabei auf Schritt und Tritt. Ich kann die anschwellenden Stimmen hören, als ich mich der großen Treppe nähere. Die Eingangshalle im Erdgeschoss kommt in Sichtweite, und ich muss mir große Mühe geben, um mir meine Angst nicht anmerken zu lassen.

  Am unteren Ende der polierten Steinstufen sitzen mindestens fünfhundert Untertanen und warten in eleganten Kleidern und Smokings auf ihren neuen König. Ich entdecke Carter und Chloe, die in der Reihe sitzen, die dem erhöhten Thronpodest am nächsten ist. Ein paar Reihen weiter hinten hat sich die Sterling-Familie versammelt. Ihre vier platinblonden Köpfe lassen sich in dem Meer aus Menschen leicht ausmachen.

  Die Anwesenheit von Freunden sollte beruhigend wirken. Stattdessen verstärkt sie meine Nervosität um ein Vielfaches. Als Lady Morrell und ich die Zeremonie gestern im leeren Thronsaal durchprobten, fühlte ich mich einigermaßen selbstsicher. Dieses Gefühl ist mir nun, da ich hier in einem Ballkleid stehe und einen Anblick abgeben soll, den die ganze Welt beurteilen wird, vollständig abhandengekommen. Der Gang wirkt von hier aus so viel länger, wie ein endloser Streifen aus marineblauem und goldenem Teppich, der mitten durch die Menge verläuft. Ich erschaudere angesichts der Vorstellung, ihn zu überqueren und auf den Thron zuzugleiten, während alle Augen auf mich gerichtet sind.

  Geh fünfundzwanzig Schritte nach unten.

  Einhundert Meter direkt geradeaus.

  Nimm deinen Platz auf der Bühne ein.

  Bleib stehen.

  Lächle.

  Atme.

  Simms wirft mir von der anderen Seite des Treppenabsatzes aus einen ostentativen Blick zu. Er ist voll und ganz darauf vorbereitet, mich der Menge vorzustellen … aber meine Füße sind wie angewurzelt. Ich kann mich nicht bewegen. Ich stehe in den Schatten, gerade so außer Sichtweite, und versuche erfolglos, die ersten Schritte die Treppe hinunter zu machen. Vor meinen Augen spielen sich in Endlosschleife Bilder davon ab, wie ich über die Schleppe meines Kleids stolpere und Hals über Kopf vor dem versammelten Hofstaat fünfundzwanzig Steinstufen hinunterpoltere.

  »Bist du nervös? «

  Die geflüsterten Worte sorgen dafür, dass ich den Kopf herumreiße. Ich erschrecke, als ich meinen Vater entdecke, der ein paar Schritte von mir entfernt steht. Er trägt den reich verzierten goldenen Umhang eines Königs. Seine Miene ist ernst und sein Blick durchdringend, als er ihn über mein Gesicht wandern lässt.

  Ich hebe das Kinn ein wenig an und schüttle den Kopf. Ich werde ihm keine Genugtuung verschaffen, indem ich ihn wissen lasse, wie viel Angst ich habe. Nach dem, was er getan hat, werde ich in seiner Gegenwart immer nur auf der Hut sein.

  »Du siehst bezaubernd aus, Emilia.« Seine grünen Augen, die meinen so ähnlich sehen, scheinen in der Dunkelheit zu glühen. »Du bist wahrhaftig die Prinzessin, für die ich dich immer gehalten habe.«

  »Ein schickes Kleid macht mich nicht zu einer Prinzessin«, gebe ich unwirsch zurück. »Ansonsten könnte ja jede Adlige dort unten im Raum sich ein Kleid maßschneidern lassen und sich als Königin bezeichnen.«

  »Damit hast du unrecht, meine Liebe. Der Adelsstand ist nicht mit Königtum gleichzusetzen. Das eine ist eine Gesellschaftsschicht, das andere ein Schicksal. Adlige können durch Geld oder Heirat, Gelegenheit oder Gunst im Rang aufsteigen … Aber niemand auf der Welt kann das Blut verändern, das durch deine Adern fließt, Emilia Lancaster.« Linus klingt ernster, als ich ihn je zuvor gehört habe. »Du verneigst dich vor niemandem, Eure Königliche Hoheit.«

  Wie schauen einander an – Vater und Tochter, König und Thronerbin –, und bevor ich mich davon abhalten kann, stelle ich eine Frage, die mich schon beschäftigt, seit ich von seiner Existenz erfahren habe.

  »Warum hast du sie verlassen?« Ich balle die Hände zu Fäusten. »Warum hast du uns verlassen? «

  Er zuckt kaum wahrnehmbar zusammen, verweigert sich der Frage aber nicht. »Weil … sie mich darum bat.«

  »Was?«

  »Deine Mutter bat mich zu gehen.«

  Nein. Das ist eine Lüge.

  »Das ist nicht das, was sie mir erzählt hat.«

  »Nein, das hätte ich auch nicht erwartet. Ich bin mir sicher, dass sie dir erzählt hat, dass ich ein Schuft und ein Schwerenöter sei, ein Mann mittleren Alters, der eine Frau verführt hat, die für ihn mindestens zwanzig Jahre zu jung war.« Er seufzt. »Und das ist alles wahr. Allerdings ist das nicht die ganze Geschichte. Und es ist nicht der Grund dafür, dass ich dich nicht als meine Tochter aufgezogen habe.«

  »Was ist dann der Grund?«

  »Deine Mutter wollte mit dies
em Leben nichts zu tun haben. Weder mit mir noch mit den familiären Verpflichtungen oder der erhabenen Stellung oder dem Prunk und schon gar nicht mit den strengen Regeln und Beschränkungen, die ein solches Leben mit sich bringt. Sie wollte nichts von alldem wissen.« Er hält inne. »Sie war ein Freigeist. Eine Künstlerin. Sie hätte in der Rolle der Herzogin von Hightower unter den damit einhergehenden Beschränkungen gelitten. Ich bin sicher, dass du das verstehen kannst.«

  »Aber du hättest sie verlassen und trotzdem …«

  »Verantwortung für dich übernehmen können«, beendet er den Satz für mich. »Du hast recht. Das hätte ich tun können. Aber deine Mutter bat mich um eine saubere Trennung. Einen ›klaren Schnitt‹, wie sie es nannte. Sie wollte dir die Chance geben, ein vollkommen normales Leben zu führen, in dem das alles keinen Einfluss auf dich haben würde.«

  »Und du hast dem zugestimmt? Einfach so?«

  »Was auch immer du von mir denkst … Ich habe deine Mu tter sehr geliebt. Ich hätte alles getan, was sie von mir verlangte. Ich war sogar bereit, mich aus ihrem Leben zu entfernen. Und die Chance aufzugeben, mein Kind großzuziehen.«

  »Und ich gehe davon aus, dass du diese Entscheidung nie bereut hast, wenn man bedenkt, dass du nur ein paar Jahre später Octavia geheiratet und zwei nagelneue Stiefkinder bekommen hast, um diese vatermäßige Leere in deinem Leben zu füllen.«

  Er seufzt tief, und Bedauern verzerrt seine Züge. »Ich wünsche mir jeden Tag, dass ich mich damals anders entschieden hätte. Diese letzten paar Wochen … Ich habe die Frau gesehen, zu der du herangewachsen bist. Ich habe miterlebt, wie du dich einer vollkommen neuen Situation mit Anmut und Haltung gestellt hast. Eine geringere Person wäre unter dem Druck vermutlich zusammengebrochen … Das alles hat mich mit großem Stolz erfüllt und gleichzeitig tiefes Bedauern in mir ausgelöst. Ich hätte dich so gerne schon viel früher kennengelernt.«

  Ich atme erstaunt ein. Ich würde nur zu gern so tun, als hätten seine Worte keinerlei Wirkung auf mich, aber das kann ich nicht. Mein Vater steht vor mir und sagt Dinge, auf die ich mein ganzes Leben lang gewartet habe. Und vielleicht bin ich schwach, weil ich ihm überhaupt zuhöre, vielleicht ist es töricht von mir, ihm nach dem, was er in der Vergangenheit getan hat, auch nur ein Wort von dem, was er sagt, zu glauben …

 

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