Feen Buch 1: Der Weg nach Imanahm

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Feen Buch 1: Der Weg nach Imanahm Page 14

by Peter Singewald


  „Seid bloß vorsichtig damit, zu wem ihr freundlich seid. Die Priester werden immer gerissener und oft versteckt sich hinter einem freundlichen Gesicht ein unfreundliches Herz.“

  „Eine Weisheit, die man beherzigen muss, gewiss, die aber auch bereits kleine Kinder lernen.“ Lanei konnte sich kaum eines Lachens erwehren, so dass kurze Zeit später Ranwe, das ältere der beiden Kinder, mit verschlafenen Augen und müden Füßen in das Zimmer getapst kam, die Gäste kaum eines Blickes würdigte, um sich schließlich bei seiner Mutter auf dem Schoß zu kuscheln.

  „Wir sollten jetzt wohl langsam unser Lager aufschlagen, ihr müsst schließlich morgen wieder früh raus, genau wie wir. Es ist euch hoffentlich recht, wenn wir hier drinnen auf der Erde schlafen?“

  „Ein Gast wie du wird bei uns niemals auf der Erde schlafen. Du schläfst in unserem Bett und wenn ihr es einrichten könnt, auch deine beiden Begleiter. Und wir schlafen auf der Erde.“

  „Kommt nicht in Frage. Was sollen eure Kinder denken, wenn sie morgen früh aufwachen und uns neben sich finden. Außerdem sind wir schmutzig von der Reise und würden nur alles verdrecken.“

  „Ranwe und Hotre werden mit uns hier schlafen.“

  „Deine Frau ist Schwanger, das würde ich niemals zulassen.“ Und damit nahm Estron seinen Beutel aus der Ecke, in die er ihn geworfen hatte. Er setzte sich im Schneidersitz auf die Erde und begann seine Decke hervorzukramen und auszubreiten. „So jetzt schlaft gut. Es ist spät und wir müssen noch meditieren.“ Für ihn waren dies sehr endgültige Worte und er erwartete, dass auch niemand anders mehr über das Thema sprach. Lanei und Alvina ließen sich jedoch nicht so leicht abspeisen und so dauerte es noch gute zehn Minuten, bis Estron schließlich doch seinen Willen durchgesetzt hatte.

  Der nächste Morgen kam schnell, wie in allen Haushalten mit Kindern. Aber das Erwachen wäre auch so früh gekommen, denn noch vor dem Frühstück klopfte es an der Tür. Es war ein Bauer aus dem Dorf, der sofort aufgeregt hereingestürzt kam, nachdem Lanei ihm die Tür geöffnet hatte. Er blieb erstaunt stehen, als er die Gäste sah.

  „Guten Morgen Irol. Was bringt dich so früh zu unserem Haus?“ Lanei war freundlich, aber Estron konnte an dem Ton in seiner Stimme und auch an seiner Haltung erkennen, dass er Irol nicht besonders mochte.

  „Guten Morgen. Entschuldige, dass ich hier so hereingeplatzt komme. Ich wollte dir eigentlich nur sagen, dass Priester Veshtajoshs im Dorf sind. Wir brauchen deine Hilfe, um sie zu verköstigen und sie für diesen Tag und die kommende Nacht unterzubringen.“

  „Was wollen sie denn hier, dass sie einen ganzen Tag bleiben wollen?“

  „Sie wollen prüfen, ob die Ketzerei im Dorf Einzug gehalten hat.“ Nur ganz flüchtig streifte sein Blick dabei in die Richtung des Keinhäusers und seiner Gefährten.

  „Du kannst ja schon mal vorgehen und Bescheid sagen, dass ich gleich etwas mitbringe.“

  „Gut, sag ich. Bis dann Lanei. Grüß Alvina von mir.“ Und damit rannte er wieder aus der Tür und zurück zum Dorf.

  „Was wollte der Schwätzer?“ Alvina, die jetzt erst aus der Kammer kam, da sie dort gerade mit den Kindern gespielt hatte, kam ins große Zimmer.

  „Genau weiß ich es auch nicht. Es sind wohl Priester ins Dorf gekommen, und wir müssen jetzt auch etwas zu Essen hinbringen.“

  „Ich denke, du hast recht mit deinem Zweifel, was seine Absicht angeht. Er wollte noch irgendwas anderes.“

  Estron setzte sich wieder hin und begann hektisch seine Decke zusammenzurollen. „Schnell, wir müssen weg von hier. Es ist unglücklich, dass er uns gesehen hat, aber es ist nicht mehr zu ändern. Wir müssen den Wald erreichen, bevor die Priester auf ihren Batagas sitzen.“

  Alvina ging sofort zu ihren Krügen und kramte etwas zu Essen hervor. „Meinst du, sie sind hinter euch her.“

  „Ich könnte mir nicht vorstellen, was sie sonst hier wollen könnten.“ Und als er hochsah, fügte er hinzu: „Lass die Sachen in den Töpfen, ihr werdet es noch brauchen. Die Priester und ihre Soldaten sind hungrige Leute und besser gelaunt, wenn sie gut verköstigt werden.“

  Es dauerte keine zwei Minuten, bevor sie alles zusammengeräumt und ihre Sachen geschultert hatten. Als sie sich umarmten stieß sogar Tro-ky ein hektisches, „es war schön bei euch“ hervor bevor er sich löste und mit den anderen beiden über das Feld hastete. Sie blickten nicht zurück.

  Alvina und Lanei verweilten nur einen kurzen Moment an der Tür bevor sie wieder hineingingen und ihre Kinder hineinzerrten. Lanei musste sich beeilen, und so packten sie schnell alles zusammen, was er mitnehmen sollte. Das Essen würde ihnen fehlen und sie waren froh, dass Estron jegliche Wegzehrung abgelehnt hatte. Sie konnten nur hoffen, dass Irol sie nicht schon angeschwärzt hatte.

  Gleich nachdem Estron, Kam-ma und Tro-ky den Wald erreicht hatten verschnauften sie für eine kurze Weile hinter einem Busch, von dem aus sie einen guten Blick in Richtung des Dorfes hatten. Es hatte keinen Sinn, Blind zu fliehen und überall Spuren zu hinterlassen. Estron sah die Angst in den Gesichtern seiner Schüler. So nah waren sie der Gefahr, gefangen genommen zu werden, noch nie gewesen. Deshalb konnte er es ihnen nicht verübeln, dass sie sich fürchteten. Er selbst konnte den dunklen Hauch der Angst spüren. Aber er fürchtete weniger um sein eigenes Leben, als vielmehr um das seiner Schüler und vor allem das der Familie, die sie zurückgelassen hatten, und er schalt sich einen Narren, dass er sie in Gefahr gebracht hatte. Sie hätten gleich beim ersten Klopfen in der hinteren Kammer verschwinden sollen. Das war unverantwortlich gewesen und wenn den beiden und ihren Kindern irgendein Leid zugefügt würde, würde er es sich nie verzeihen können, so dumm gewesen zu sein.

  Aber jetzt, nachdem er für einen Moment verschnaufen hatte können, war ihm eine Idee gekommen. Es war nicht ohne Risiko, was ihm da eingefallen war, denn er bedurfte dafür der Macht der Natur, und die konnte man nicht wirklich kontrollieren, aber es war vermutlich ihre beste Chance. Bevor es jedoch so weit war, mussten sie noch ein wenig in den Wald hineinlaufen, um ein paar Spuren zu hinterlassen. Bewusst liefen sie so dicht an Sträuchern und kleinen Bäumen vorbei, dass Zweige brachen und Blätter herunterfielen. Ein letztes Mal blickte Estron zur Hütte zurück und sah, dass die Priester mit ihren Schergen und auch einigen Suchhembi darauf zukamen. Die Suchhembi, armlange, schlanke, beinlose und vor allem dichtbepelzte Ratten, wurden von ihren Trainern getragen. Es hieß, sie könnten jeder Spur folgen, ob mit den Augen oder mit der Nase. Estron hatte jedoch einmal von einem Obalte, der einen Hembi als Wachttier einsetzte, erfahren, dass sie fast Blind und ihre Nasen auch eher schlecht waren. Allerdings hatte der Obalte zwischen viel Gegähne gesagt, dass sie Auren sehen würden und damit diese Unzulänglichkeiten mehr als wettmachten. Estron hatte damals noch nicht gewusst, was er sich darunter vorzustellen hatte, aber inzwischen war er in seinen Meditationen so weit fortgeschritten, dass er glaubte es zu verstehen.

  Die Suchhembi waren wohl das schlechteste, was ihnen hätte passieren können. Der Keinhäuser war sich nicht sicher, ob er ihre Aura mit Hilfe der Macht der Natur überhaupt verbergen konnte. Andererseits musste er es versuche, denn vor den berittenen Priestern konnten sie nur für sehr kurze Zeit erfolgreich fliehen, und selbst der Wald konnte sie nur unzureichend verbergen.

  Sie waren bereits über einige Minuten gelaufen, als Estron stehen blieb und seine Schüler anwies, noch ein kleines Stück weiter zu einem dichten Gebüsch zu laufen. Sie waren wohl zu aufgeregt, um ihm zu wiedersprechen, warfen ihm dennoch besorgte Blicke zu.

  Nachdem er gesehen hatte, wie Kam-ma und Tro-ky im Gebüsch verschwunden waren, setzte sich Estron auf die Erde, kreuzte die Beine und begann sich auf seine Umgebung zu konzentrieren. Inzwischen gelang es ihm sehr schnell, Kontakt zu der Energie aufzunehmen, die damals die Mörder von Lesigo und Unie vernichtet hatte. Meist begnügte er sich damit, sie nur zu spüren und nur in ganz seltenen Fällen leitete er die Energie einem Nutzen zu, so zum Beispiel, wenn er die Felder segnete oder ein Kind heilte. Er wusste nicht, wie viel Energie er dafür benötigte, sie alle drei unsichtbar zu machen, aber so lange er Zeit hatte, wollte er sie heranfließen lassen.r />
  Schließlich, eine Ewigkeit oder auch einen Augenblick später, spürte er die Verfolger näherkommen. Dreißig. Bewaffnet. Batagas, erschöpft und gereizt von der Nähe der Hembis, deren strenger Geruch auch für viele Mitglieder der verschiedenen Feenrassen schwer zu ertragen war. Vorne weg ein Priester mittleren Alters in dem das Feuer des Glaubens nur noch als kleine Glut brannte, erstickt vom Eis der Macht.

  Estron bedauert ihn, denn er spürte seinen eigenen Glauben in sich brennen wie einen Vulkan.

  Es wurde Zeit.

  Er dachte daran, was die Natur für ihn tun könnte. Und sie tat es. Vom einen Moment zum anderen war es geschehen. Er konnte kein Ergebnis sehen, aber er wusste, dass es getan war. Er hätte nicht einmal sagen können, warum er es wusste.

  Eilig stand er auf und lief zu seinen beiden Schülern. Diese kauerte verängstigt im Gebüsch. Kam-ma versuchte ihm zuzulächeln. Ihr gelang jedoch nur, einen verzerrten Mund zu ziehen. Estron hockte sich zwischen sie und nahm beide in die Arme. Er zog ihre Köpfe an seine Brust und warf einen Blick in die Richtung, aus der er die Verfolger kommen spürte. Auch er hatte immer noch Angst. Dabei wusste er doch eigentlich, dass sie unsichtbar für ihre Feinde waren.

  „Es wird uns nichts geschehen.“

  Manchmal sagt man Dinge, nur um sich selbst Mut zuzusprechen. Deswegen schwieg er nun und wartete.

  Sie brauchten nicht lange zu warten, denn schon bald brachen die Batagas hinter Bäumen und Büschen hervor. Auf ihnen saßen die stolzen und befehlsgewohnten Priester und ihre Hauptleute. Vorne weg sah Estron zwei Männer mit Suchhembis auf dem Arm. Hinter den Batagas liefen noch einige bewaffnete und gerüstete Krieger. Die Hembis drehten und wendeten ihre Köpfe. Der Trupp kam zu der Stelle, an der Estron gesessen und meditiert hatte. Die Hembiführer ließen die Tiere auf die Erde, aber auch so schienen sie keine neue Spur aufnehmen zu können. Der Reiter, der offensichtlich der Anführer war, schrie die beiden verzweifelten Hembiführer an, die sich vor ihm auf den Boden warfen und versuchten ihre Verwirrung zu erklären. Nach einem kurzen Augenblick der Besinnung schickte der Priester seine Untergebenen aus, damit sie versuchen sollten, die Spur erneut aufzunehmen. Sie strömten aus. In alle Richtung. Zwei gingen direkt auf den Busch zu. Dabei stocherten sie mit ihren Speeren in jedem noch so kleinen Strauch. Estron wurde sich klar, dass er immer noch den Kopf hochhielt und sie ihn inzwischen eigentlich hätten entdecken müssen, wenn er nicht für sie unsichtbar gewesen wäre. Diese Erkenntnis brachte ihm aber gerade in diesem Moment keine Erleichterung, denn auf die Schnelle wollte ihm nichts einfallen, was er gegen die Speere hätte tun können, ohne sie alle zu verraten.

  Die Speerträger kamen immer näher. Jedes Mal, wenn die drei in ihrem Busch hörten, wie ein Speer auf Holz traf, zuckten sie zusammen. Schließlich erreichte einer ihren Busch. Als der Speer hineinstieß, konnte Estron die Spitze in seine Richtung gleiten sehen. Wie im Traum nahm er wahr, dass die Klinge an seinem Gesicht vorbei fuhr. Erneut stieß der Mann zu, diesmal tiefer. Wie durch ein Wunder traf er zwischen Kam-mas Beine und zerschnitt nur ein wenig Stoff. Sie presste sich die Hand in den Mund, um nicht vor Angst aufzuschreien.

  Ein drittes Mal Glitt die Klinge an der Spitze des Stabes auf die drei zu. Diesmal fand sie Fleisch. Sie bohrte sich in Estrons Hüfte. Der Keinhäuser war immer noch in seiner Trance, was vielleicht ein Glück war. Der Stich schmerzte entsetzlich und auch als die Spitze wieder herausgezogen wurde hätte er am liebsten geschrien. Aber im Traum schreit man nur selten, selbst wenn er noch so entsetzlich ist. Estron schrie nicht. Auch wenn ihm klar war, dass jetzt alles vorbei sein musste, denn das Blut an seiner Speerspitze konnte der Mann unmöglich übersehen, selbst wenn er den besonderen Widerstand, den das Fleisch bot, ignoriert hatte. Aber nichts geschah. Die Männer stocherten weiter in Büschen herum und bald würde das Blut von Sand und Blatt abgewischt werden.

  Das Blut pumpte aus der frischen Wunde heraus. Estron konnte es pulsieren fühlen. Seine beiden Schüler zitterten in seinen Armen, aber er wurde immer ruhiger. Der Traum war vorbei und nur der Schmerz blieb zurück. Aber mit Schmerz wusste er umzugehen. Er machte sich Sorgen wegen der Blutvergiftung, die ihn heimsuchen konnte, oder dass die Wunde zu groß war, um von allein mit Bluten aufzuhören. Aber die Schmerzen waren kein Problem für ihn. Er wusste, dass die Macht der Natur ihn schützte, wenn er nur sein Vertrauen groß genug war. Alles andere war in diesem Moment unwichtig.

  *

  Owithirs Bescheidenheit hatte in den letzten sieben Jahren abgenommen, war er doch inzwischen zum Subdiakon geweiht und zum Stellvertreter des Hohen Priesters Vorlaheen bestellt worden. Aber auch die sieben Jahre, die er im großen Tempel verbracht hatte, hatten das ihre dazu beigetragen, dass er besser erkannt hatte, was ihm eigentlich zustand. Er wusste inzwischen, wie wertvoll die Gabe war, die ihm Aemavheas zuteil hatte werden lassen. Allzu oft musste er sie einsetzen.

  Nichtsdestotrotz war in all den Jahren der nagende Zweifel an seiner eigenen Würdigkeit in ihm geblieben. Er hatte inzwischen so viele bessere und gläubigere Menschen kennen gelernt, dass er sich einfach nicht davon abbringen konnte, an sich selbst zu zweifeln. Er kannte sich und seine eigene, stille Ungläubigkeit, jene Zweifel, die ihn immer wieder an den Werken seines oder irgendeines anderen Gottes zweifeln ließen. Immerhin war es doch schon Blasphemie, dass er an seiner eigenen Würdigkeit zweifelte. Wenn ihm der Eine und Obere tatsächlich diese Gabe geschenkt hatte, so musste es seinen Sinn und seine Richtigkeit haben und er hatte gerade als Priester, als einer, der den Göttern immer diente, kein Recht, an diesem Sinn zu zweifeln, indem er an sich selbst zweifelte.

  Dass er inzwischen so viel mehr erfahren und gelernt hatte, machte es für ihn nicht leichter. Wenn man ein Kind ist, dann kann man Glauben, ohne sich zu fragen, welchen Sinn die Worte und die Gebote der Priester haben. Ist man jedoch erwachsen und kann seine eigene Unzulänglichkeit erkennen und viel mehr den Sinn von Anweisungen und Reden in Frage stellen, dann ist der Glaube eine Wand aus morschem Holz, die man jeden Tag aufs Neue ausbessern und stützen muss, damit sie nicht zerbröckelt.

  Während seiner Ausbildung, die sich noch zwei Jahre im großen Tempel fortgesetzt hatte, waren die Meister der Novizen immer wieder auf dieses Thema zurückgekommen. Sie hatten ihre Lehren in die Novizen geprügelt und keiner war von ihrer Häme und ihrem Spott verschont geblieben. Sie hatten so viel Zweifel in den Herzen der jungen Männer gesät, dass diese nur noch unsicher auf die religiösen Fragen zu antworten wussten. Und danach prügelten und straften sie den Zweifel wieder heraus. Nicht nur einer der Novizen war unter dieser Behandlung zerbrochen. Owithir hatte es in ihren Augen gesehen und deutlich gespürt, wenn sie nachts im Schlafsaal lagen und all ihre Angst und Verzweiflung auf ihn einströmte. Sie waren kälter und härter geworden, bereit, alles für ihren Glauben zu tun, was notwendig war, um ihn zu verbreiten und in sich selbst am Leben zu halten.

  Nur er, Owithir war auf wunderbare Weise immer verschont geblieben. Erst sehr viel später hatte er erfahren, dass der Hohe Priester Vorlaheen all seinen Einfluss zum Tragen gebracht hatte, um ihn zu schützen. Dadurch war er nicht beliebter bei den anderen Novizen geworden und die Aufnahme, die er bei dem Hohen Priester fand, erschien ihm wie eine Erlösung von den Qualen der Einsamkeit.

  In der verbliebenen Zeit des Noviziates war auch schließlich die volle Grausamkeit seiner Gabe über ihn gekommen. Hatte er, als er den Tempel zum ersten Mal betreten hatte, nur ab und zu die Gedanken und die tiefsten Wünsche der Menschen gespürt, die er berührt hatte, waren zwischenzeitlich die Fluten der Gefühle über ihn hereingebrochen, wenn er an den Messen teilnahm. Mühsam hatte er gelernt, sich vor den fremden Gedanken zu schützen, so dass er inzwischen sogar ganz ruhig in den Versammlungen sitzen konnte, ohne dass ihm der Schweiß von der Anstrengung aufrecht zu bleiben, den Körper hinunterlief. Aber die ersten Male, als die Volle Wucht der Gefühle auf ihn eingeschlagen hatte, war er zusammengebrochen und hatte laut geschrien. Andere Novizen hatten ihn aufheben müssen, um ihn zu seiner Pritsche zu tragen.

  Als der Meister der Novizen an diesem Abend zu ihm gekommen war, hatte Owithir sein
e Wut und seinen Hass auf ihn gespürt. Augenblicklich hatte er sich übergeben.

  Auch das Erbrochene war von den anderen Novizen aufgewischt worden.

  Als Owithir endlich hatte nichts mehr erbrechen können, hatte der Meister zu ihm gesprochen. Die hohen Priester waren von seiner offensichtlichen Verzückung im Gottesdienst sehr angetan gewesen. Man wollte ihn von diesem Moment an noch mehr fördern. Inzwischen wusste er nicht mehr, ob er darüber lachen oder weinen sollte, damals jedoch war ihm alles andere als wohl bei dem Gedanken gewesen, auch nur sein Bett zu verlassen. Als der Meister der Novizen endlich gegangen war, hatte er sich seine Decke und sein flaches Kissen über den Kopf gestülpt und gehofft, dass endlich diese fremden Gedanken verschwinden würden. Aber er hatte sie genau spüren können, wie die anderen Novizen immer voller Wut auf ihn getuschelt hatten, wie sie zu ihren Betten gegangen waren und wie sie all ihre Wut und ihren Kummer in seine Richtung gelenkt hatten.

  Die spezielle Aufmerksamkeit der hohen Priester hatte ihn schließlich nach zwei Tagen aus dem Schlafsaal der Novizen und wie er zuerst geglaubt hatte, aus der Hölle, herausgebracht. Aber was er jetzt täglich nicht mehr an Masse auszuhalten hatte, bekam er jetzt an Intensität zu spüren. Selbst wenn er jemals damit gerechnet hätte, dass ihn seine Gabe so aufnahmefähig für die Gefühle anderer machen würde, er hätte sich doch nie träumen lassen, solch tiefe Emotionen entgegengeworfen zu bekommen. Hatte ihn der Meister der Novizen seinen Mageninhalt leeren lassen, bei den hohen Priester war ihm das Essen im Hals stecken geblieben und er wäre während der ersten Kongregation beinahe erstickt. Aber auch daran hatte er sich schließlich gewöhnt. Die ersten Monate waren schmerzhaft und ekelerregend gewesen, aber schließlich war es ihm doch irgendwann gelungen, eine Sperre gegen all die Gefühle aufzubauen. Einer der Meister im Dienst der hohen Priester hatte ihm dabei geholfen, indem er ihm mit Meditationsübungen etwas mehr Selbstbeherrschung beigebracht hatte. Aber auch indem er ihm die ganze Zeit seinen Neid und seine Gier hatte entegegenstrahlen lassen.

 

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