Sein Finger.
Meine Lippen.
Mein Herz rast und pocht so heftig, dass ich befürchte, er könnte es hören. Ich beobachte, wie der Puls in seinem Hals schlägt, und frage mich, ob er ebenso schnell geht wie meiner.
»Du solltest nicht allein da raufgehen«, murmelt Carter schließlich. Seine Stimme ist rauer als sonst. Er hat immer noch nicht die Hand von meinen Lippen genommen, also berührt jedes meiner Worte seine Fingerspitze, als es mir endlich gelingt, eine Erwiderung hervorzubringen.
»Dann komm mit mir.«
Ich bin mir nicht sicher, warum ich das sage – vielleicht bin ich immer noch high. Vielleicht bin ich aber auch einfach nur verrückt. Denn es gibt absolut keinen Grund, warum ich Carter Thorne auffordern sollte, mit mir mitten in der Nacht auf den höchsten Turm des Schlosses zu steigen. Und es gibt absolut keinen Grund, warum er einwilligen sollte – nicht wenn man bedenkt, wie die Dinge aktuell zwischen uns stehen. Nicht wenn alles so unterkühlt und angespannt und kompliziert ist.
Und doch …
Die prompte Ablehnung, die ich erwartet habe, bleibt aus. Er steht einfach nur da und schaut mich mit unschlüssiger Miene an. Ich kenne den inneren Kampf, den er austrägt – Selbstkontrolle gegen Selbstsabotage. Ich kenne ihn, weil ich nun schon seit einer ganzen Weile den gleichen Kampf austrage.
Und verliere , wie ich hinzufügen sollte.
Bevor er mir geradeheraus eine Abfuhr erteilen kann, trete ich einen Schritt zurück, wende mich dem Wandteppich zu und schiebe ihn erneut zur Seite. In der Dunkelheit taste ich nach dem Türknauf. Als ich die Tür aufschiebe, halte ich kurz inne, bevor ich durch die Öffnung hindurchschlüpfe.
»Ich werde da raufgehen, mit dir oder ohne dich«, flüstere ich und wünschte, dass meine Stimme nicht so zittern würde. »Wenn du mitkommen willst, schön. Wenn nicht, tja … Ich brauche keinen Babysitter. Ich bin durchaus in der Lage …«
»Oh, hör schon auf zu reden.«
Sein tiefes Knurren dringt an meine Ohren. Eine Sekunde später spüre ich seine Brust an meinem Rücken, und bevor ich weiß, wie mir geschieht, schiebt er mich in Richtung Treppe. Meine Füße geraten auf dem unebenen Steinboden ein wenig ins Stolpern. Carter stützt mich automatisch, indem er sanft meinen Oberarm packt. Irgendwie spüre ich diese Berührung bis in jeden Winkel meines Körpers. Dabei entgeht es mir nicht, dass er seine Hände ein wenig länger an meinem Arm verweilen lässt, als es unbedingt nötig wäre, bevor er mich loslässt. Oder vielleicht bilde ich mir das auch nur ein.
Die Tür schwingt zu und schließt uns in der engen Kammer ein. Ohne das schwache Licht der Wandleuchten aus dem Flur ist es stockdunkel. Ich kann die Treppenstufen vor mir nicht sehen, ganz zu schweigen von dem Mann, der immer noch dicht hinter mir herumlungert.
»Hast du vielleicht darüber nachgedacht, so etwas wie eine Taschenlampe mit auf dein halsbrecherisches Abenteuer zu nehmen?«, fragt er leise.
Ich wühle in den Taschen meiner Jacke herum, aber sie sind leer.
Mist!
Wie zum Teufel konnte ich eine Taschenlampe vergessen?
Meine Wangen brennen vor Verlegenheit, und plötzlich bin ich dankbar dafür, dass es so dunkel ist, dass er mein Gesicht nicht sehen kann. »Tja … Ich …« Ich schlucke schwer. »Ich kann zurück in mein Zimmer laufen und …«
Er seufzt tief. »Vergiss es.« Seine Hitze an meinem Rücken verschwindet, und ich rechne damit, dass er einfach kehrtmacht … bis ich höre, wie er mit den Händen über die Wand streicht und nach etwas tastet. »Vielleicht ist sie noch hier …«
»Wonach suchst du?«
»Es ist eine Weile her, seit ich sie hier versteckt habe …«
»Seit du was versteckt hast?«
»Ah.« Ich höre das unverkennbare Kratzen eines Steins, der herumgedreht wird. »Hier ist sie.«
Eine Sekunde später blinzle ich, als er ein Streichholz anzündet und eine helle Flamme aufflackert. Der scharfe Geruch von Schwefel erfüllt den schmalen steinernen Durchgang und hüllt uns ein. Carters Gesicht ist eine Impression aus Licht und Schatten, während er die Flamme an den Docht einer Kerze hält.
»Es werde Licht«, murmelt er, als die Kerze hell lodert.
»Woher wusstest du, dass sie dort ist?«
»Ich bin derjenige, der sie dort versteckt hat.«
»Also bist du schon mal dort oben gewesen?« Ich deute vage mit dem Kinn in die entsprechende Richtung.
Er schnaubt. »Was glaubst du, wer diesen Ort entdeckt hat? Der Turm war mein Versteck, lange bevor Henry oder Alden ihn für sich beanspruchten.«
»Oh. Das wusste ich nicht.«
Er hat die Augen wieder auf meine gerichtet. »Es gibt einiges, was du nicht über mich weißt.«
Ich öffne den Mund, bringe aber nur ein zitterndes Ausatmen zustande.
Carter seufzt. »Steig einfach die Treppe hoch, Emilia. Wir haben eine Menge Stufen vor uns, und ich habe nicht die ganze Nacht Zeit für diesen Zirkus.«
Ich nicke, wende ihm den Rücken zu und drehe mich in Richtung der mit Spinnweben verhangenen Wendeltreppe. Die Luft ist abgestanden, weil hier nie gelüftet wird, und es riecht ein wenig modrig. Diese Wände sind nicht isoliert, also ist es hier kälter als in einem Kühlschrank. Selbst durch die dicken Steinmauern höre ich das sanfte Pfeifen des Windes, der draußen um das Schloss fegt, und sofort wird mir klar, dass es oben an der Spitze noch kälter sein wird.
Carters Murmeln klingt spöttisch. »Das ist die letzte Gelegenheit, umzukehren …«
Ich ignoriere seine Stichelei, straffe die Schultern, hole tief Luft und mache die ersten Schritte. Die Stufen sind alt und uneben und sogar bei guter Beleuchtung tückisch. Da wir nur eine flackernde Kerze als Lichtquelle haben, geht unser Aufstieg quälend langsam vonstatten.
Wir reden nicht. Ich weiß nicht, was Carter denkt, und wage es nicht, ihn anzuschauen, um seine Miene zu deuten. Ich stehe immer noch unter Schock, dass er mir von meiner Suite aus gefolgt ist und vor allem dass er eingewilligt hat, mit mir auf den Turm zu steigen. Normalerweise kann er es gar nicht erwarten, mich loszuwerden.
Was ist heute Nacht anders? Diese Frage stellt sich mir unweigerlich. Warum ist er plötzlich bereit, wieder Zeit mit mir zu verbringen?
Ein Teil von mir ist überzeugt, dass dies alles ein Traum ist. Dass ich jeden Moment in meinem Bett aufwachen und feststellen werde, dass dieser surreale Aufstieg nur das Produkt meiner allzu lebhaften Fantasie war.
Bitte sag mir, dass es kein Traum ist.
Sag mir, dass wir nicht länger Todfeinde sind.
Sag mir, dass wir aufhören können, in angespanntem Schweigen miteinander zu leben.
Mehr als einmal gerate ich auf einer unebenen Stufe ins Wanken, aber Carter ist immer zur Stelle und fängt mich mit seiner freien Hand auf, bevor ich fallen kann. Jedes Mal murmle ich ein zögerliches »Danke« in die schale Luft hinein und gehe weiter. Ich bin mir nicht sicher, ob meine hastigen Atemzüge auf die körperliche Anstrengung oder auf meinen emotionalen Aufruhr zurückzuführen sind.
Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichen wir endlich die Turmspitze. Ich schiebe die Holztür auf, trete in die kalte Nacht hinaus … und schnappe nach Luft, als sich mir der magische Anblick eröffnet, der mich dort empfängt. Eine Galaxie aus Sternen ist über uns ausgebreitet, und sie scheinen so nah zu sein, dass ich das Gefühl habe, mit den Fingerspitzen über ihre Oberfläche streichen zu können.
Ich lache begeistert und laufe zum Geländer am anderen Ende des Turms, um mich hinüberzulehnen und den Anblick zu genießen. Dank der Brise gibt es keine Wolken, die die Aussicht auf die vielen Sternbilder oder die Lichter von Vasgaard weit unter uns verdecken könnten. Die allgegenwärtige Gebirgskette ragt in der Ferne auf, doch trotz des hellen Sternenlichts ist es zu dunkel, um Einzelheiten zu erkennen.
»Das ist so schön!«, quietsche ich, während mein Atem kleine Wölkchen in der kalten Luft bildet. Ich grinse wie ein kleines Kind. Eine solche Begeisterung habe ich seit Ewigkeiten nicht mehr empfunden. Es ist, als hätte in mir jemand ein Feuerwerk gezündet. Ich wirbele herum und halte nach Carter Ausschau, weil ich sehen will, ob
er den Anblick ebenso sehr zu schätzen weiß wie ich …
Abrupt halte ich inne.
Er steht direkt hinter mir. Die Kerze hält er immer noch in der Hand, aber der Wind hat die Flamme ausgeblasen. Er hat einen sanften, beinahe zärtlichen Ausdruck auf dem Gesicht, den ich noch nie zuvor an ihm gesehen habe. Allerdings … sind seine Augen auf mich gerichtet, nicht auf die Sterne.
Mein Lächeln gerät ins Wanken, als er die Kerze vorsichtig neben seinen Füßen ablegt, dann aus meinem Gesichtsfeld verschwindet, um sich schließlich zu seiner vollen Größe aufzurichten und auf mich zuzukommen.
»Warum wolltest du unbedingt hier hochkommen?«
»Das habe ich dir doch schon gesagt«, flüstere ich und klinge ohne jeden Grund nervös. »Ich brauchte frische Luft.«
Er macht einen weiteren Schritt in meine Richtung. Nun trennen uns nur noch ein halbes Dutzend Schritte.
»Ich habe in letzter Zeit nicht gut geschlafen«, füge ich hinzu. »Wie du nur zu gut weißt. Schließlich habe ich dich jede Nacht vom Schlafen abgehalten.«
Er macht einen weiteren langsamen Schritt.
»Was mir übrigens leidtut. Ich glaube, ich habe mich nie dafür entschuldigt …«
Ein weiterer Schritt. Nun ist er nur noch einen guten Meter von mir entfernt.
»Wenn ich damit aufhören könnte, würde ich es tun.« Mein Lachen klingt selbst in meinen Ohren gezwungen. »Ich weiß, dass das für dich wahrscheinlich ziemlich nervtötend ist, aber für mich ist das auch nicht gerade angenehm, glaub mir …«
»Emilia?«
»Mmm?«
»Du musst dich nicht für Dinge entschuldigen, die du nicht kontrollieren kannst.«
»Oh.« Ich klemme meine Unterlippe zwischen die Zähne und kaue darauf herum. Ich wünschte, ich könnte zu Atem kommen. »Okay.«
Carter macht einen weiteren Schritt auf mich zu und befindet sich nun innerhalb meiner Reichweite. Ich müsste nur die Arme ausstrecken. Er starrt mir die ganze Zeit über fest in die Augen. Ich will mich abwenden, den Blickkontakt unterbrechen, aber ich kann es nicht. Ich versinke in einem tiefblauen Meer und bin nicht in der Lage, wiederaufzutauchen.
»Warum bist du wirklich hier oben?«, murmelt er. Die Frage klingt sowohl sanft als auch streng.
»Das habe ich dir doch gesagt …«
»Du hast gelogen.«
»Das habe ich nicht!«
»Dann hast du mir eben nicht alles erzählt.« Er beugt sich vor, und die ganze Welt steht still. Ich gerate mit jeder Sekunde ein wenig stärker ins Wanken und kann nichts dagegen ausrichten. »Warum , Emilia?«
»Weil ich da unten ersticke, okay?«, blaffe ich so laut, dass ich beinahe schreie. »In diesem Schlafzimmer, in diesem Leben. Je länger ich da unten bin, je länger ich als eine Lancaster lebe, je länger ich über meine Zukunft nachdenke … desto mehr scheinen mich diese Wände zu erdrücken. Und ich kann nicht atmen! Ich kann nicht atmen, Carter. «
Ich schüttle den Kopf und versuche, meine Emotionen in den Griff zu bekommen, bevor ich vor ihm einen totalen Zusammenbruch erleide. Trotz meiner Bemühungen kann ich spüren, wie sich Tränen in meinen Augen sammeln. Ich rede mir ein, dass das am Wind liegt und nicht an der Grube aus Verzweiflung, die sich in meinem Inneren auftut. In den vergangenen paar Wochen habe ich alles versucht, um diese Grube geschlossen zu halten. Ich habe sie mit aller Macht ignoriert, weil ich es mir nicht leisten konnte zusammenzubrechen. Nicht während so viele Augen auf mich gerichtet sind und jede meiner Bewegungen beobachten. Nicht während sich so viele Feinde in meiner Nähe aufhalten. Nicht während die Zukunft eines ganzes Landes allein auf meinen Schultern ruht.
Meine Stimme bricht. »Vor zwei Monaten war ich eine ganz normale junge Frau. Einfach … Emilia. Keine Titel, keine Erwartungen. Nur eine Collegestudentin mit lilafarbenem Haar und einem geradlinigen Plan für die Zukunft. Aber jetzt …« Ich hebe den Blick zu den Sternen, um nicht in Tränen auszubrechen. »Jetzt weiß ich nicht mehr, wer ich bin. Ich erkenne die Frau, die mich mit meinen Augen aus dem Spiegel anschaut, nicht einmal. Ich reiße mich zusammen, so gut ich kann, aber jeden Tag werden die Risse in meiner Seele ein wenig tiefer, und ein weiterer Teil der Person, die ich einst war, bröckelt von mir ab und fliegt davon. Schon bald werden nur noch die glänzenden neuen Teile übrig sein, die Simms und Lady Morrell mit so viel Eifer zusammenschustern, um eine richtige Prinzessin aus mir zu machen.«
Carter beobachtet mich aufmerksam, aber seine Miene lässt keinerlei Rückschlüsse zu. Er zeigt nicht das geringste Maß an Mitgefühl oder Verständnis. Nicht mal einen Hauch von irgendetwas, das einer menschlichen Emotion ähneln könnte. Wie alles andere auf diesem Turm ist er aus unzerstörbarem Stein gemacht. Er ist ein kalter Winterwind. Ein rasanter Sturz aus schwindelerregender Höhe.
»Ist es das, was du hören wolltest?«, frage ich, und Verbitterung füllt die brüchigen Stellen in meiner Stimme. Eine Träne rinnt über meine Wange. »Bist du jetzt zufrieden, Carter?«
»Ob ich zufrieden bin?« Sein Tonfall ist ebenso verbittert wie meiner. Vielleicht sogar noch mehr. »Fragst du mich das ernsthaft?«
»Ja, ich frage dich das ernsthaft! Wie sollte ich es denn sonst in Erfahrung bringen? Es ist ja nicht so, als würdest du je mit mir reden oder mich auch nur anschauen oder sonst irgendwie zur Kenntnis nehmen, dass ich existiere, es sei denn, es geht darum, dass du mich um drei Uhr nachts davon abhältst, wie am Spieß zu schreien!«
Sein Gesicht ist eine Maske aus dunklem Zorn. »Und woran liegt das wohl, Emilia? Warum können wir nicht zivilisiert miteinander umgehen? Warum kann ich meine neue Stiefschwester nicht einmal eine Sekunde anschauen, ohne ein Loch in etwas schlagen zu wollen?« Er kommt einen weiteren Schritt auf mich zu. Nun stehen wir uns fast Brust an Brust gegenüber. »Ich denke, dass du es weißt.«
»Ich … Ich …« Ich verstumme, da ich nicht in der Lage bin, ihm zu widersprechen. Ich bin nicht mal in der Lage, zu denken, wenn er mir so nah ist, mich bedrängt und mich anstarrt, als würde er mich von diesem Turm werfen wollen. »Ich weiß, dass das hier … Ich bin einfach …«
»Was , Emilia?«
Die Wahrheit ist, dass er recht hat. Ich weiß es – ich weiß genau, warum es zwischen uns so schwierig ist. Ich erinnere mich an jedes lebhafte Detail des Abends, der unsere Beziehung für immer verändert hat.
»Hör zu, denkst du, für mich ist das leicht?« Ich blinzle krampfhaft und versuche, die Tränen zurückzuhalten. »Denkst du, mir gefällt dieses angespannte Verhältnis zwischen uns? Denkst du, dass ich es nicht bereue …« Ich verstumme, bevor ich den Satz beenden kann.
Sein Blick wird noch finsterer. »Hör nicht gerade jetzt auf zu reden. Was bereust du, Emilia? Ich würde es liebend gern erfahren.«
Ich beiße mir auf die Lippe und wende mich ab, da ich nicht in der Lage bin, ihm in die Augen zu schauen, wenn er mich mit solcher Verachtung behandelt.
Als er wieder spricht, zittert seine Stimme vor lauter Heftigkeit. »Du sagst, dass du dich kaum noch wiedererkennst? Dass du dich machtlos fühlst? Dass du das Gefühl hast zu ersticken, weil alle versuchen, dich mit Gewalt in jemanden zu verwandeln, der du nicht sein willst? Das nennt man Leben. Das nennt man Erwachsensein und Verantwortung tragen.« Er lacht, aber der Laut entbehrt jeder Fröhlichkeit. »Du hast nicht länger den Luxus, tun zu können, was immer du willst? Den hat niemand. Ob man nun ein Prinz auf einem Thron oder ein verdammter Bettler auf der Straße ist, irgendwann ist jeder gezwungen, sich zu verändern – normalerweise durch miese Umstände, auf die man keinen Einfluss hat. Also tut es mir leid, dass sich dein Leben nicht so entwickelt hat, wie du es dir in deinem perfekten Plan ausgemalt hast, Eure Hoheit. Aber zeig mir eine Person auf diesem verdammten Planeten, die ihren Plan zu hundert Prozent umsetzen konnte.«
Ich drehe den Kopf und schaue ihn an. Mein Herz hämmert so heftig, dass ich befürchte, es könnte Prellungen an meinen Rippen hinterlassen. »Hast du mich nur deswegen gebeten, ehrlich zu dir zu sein, damit du mich anschreien kannst? Damit du mir das Gefühl geben kannst, dass ich egoistisch und unbedeutend bin? Gratulation! Das ist dir gelungen.«
»Ich sc
hreie dich nicht an, um dich herabzusetzen, Emilia. Ich schreie dich an, weil ich will, dass du verstehst, dass du nicht vor Veränderungen gefeit bist, nur weil du jetzt zur Königsfamilie gehörst. Ich schreie dich an, weil dir nicht klar zu sein scheint, dass Veränderungen nicht bloß in einer Richtung verlaufen. Auch du hast die Macht, Dinge zu verändern.«
»Macht? Aber ja doch, lass uns darüber reden. Denn ich habe ja angeblich so viel davon. Richtig?« Ich lache, obwohl die Situation alles andere als lustig ist. »Ich habe einen Titel und ein Geburtsrecht und eine großartige Zukunft, in der Krone, Thron und Krönung auf mich warten … All die Insignien der Macht. Nur dass ich nicht wirklich die Macht habe, etwas auszurichten. Es ist nicht wirklich eine Waffe, wenn man sie nicht führen kann. Also sag mir … Wie zum Teufel soll ich auch nur eine verdammte Sache verändern, Carter? Indem ich höflich darum bitte?«
»Ich habe nie behauptet, dass es leicht sein würde. Natürlich wird es nicht leicht sein. Weil es das Schwerste auf der Welt ist – herauszufinden, wer man ist, und dazu zu stehen. Man selbst zu sein, auch wenn der Gegenwind noch so groß ist.« Er macht den letzten Schritt, sodass sich unsere Gesichter fast berühren. Seine Stimme ist vor lauter Anspannung ganz leise. »Es gefällt dir nicht, dass die Leute Teile von dir wegreißen und sie durch Eigenschaften ersetzen, die sie gerne an dir sehen würden? Dann hol dir diese Teile zurück . Erschaffe dich neu. Und wenn du das tust, sorg dafür, dass du starke, unzerstörbare Materialien benutzt. Eisen und Blut und Stein. Benutze etwas, das so hart ist, dass sie dich nie wieder in Stücke reißen können.«
Zwei Tränen rinnen links und rechts über meine Wangen. Ich hebe eine Hand, um sie wegzuwischen, aber Carter kommt mir zuvor – er umfasst mein Gesicht mit seinen großen Händen und streicht sanft mit den Daumen über meine Haut. Ich fühle seine Berührung überall. Sie strahlt durch meinen Körper und wärmt mich trotz des bitterkalten Winds, der um uns herumpeitscht. Ich brauche meine ganze Willenskraft, um mich nicht in diesem Gefühl zu verlieren. In seinen Armen.
»Carter«, flüstere ich zitternd und weine immer noch.
»Was?«
Forbidden Royals 02 - Golden Throne Page 13