Forbidden Royals 02 - Golden Throne
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Jemand schießt mit einer Waffe in die Menge.
Ich spüre, wie mir das Blut in den Adern gefriert, während ich beobachte, wie der hintere Teil der Menge hektisch auseinanderdriftet. Die Leute, die vorne in der Nähe der Bühne stehen, schauen immer noch zu mir herauf und bekommen nichts von dem entsetzlichen Spektakel mit, das sich nur wenige Meter hinter ihnen abspielt. Sie wissen nicht, dass der Schrecken mit jeder Sekunde näher rückt.
»Lauft! Lauft weg! «, schreie ich, doch da ich nicht mehr am Mikrofon stehe, bringt das kaum etwas. Meine nutzlose Warnung erreicht nur die Leute auf der Bühne, die genauso starr vor Schreck dastehen wie ich und den Blick fest auf die herannahende Katastrophe gerichtet haben. Auf die Männer in schwarzen Kampfanzügen, die aus tödlichen Waffen in eine Menge aus Unschuldigen feuern.
Es sind mindestens zwei Schützen.
Vielleicht mehr.
Feuerwehrleute springen nun von der Bühne und rennen in dem verzweifelten Versuch, ihre Familien zu beschützen, direkt auf die Gefahr zu. Endlich begreifen die Leute, dass etwas nicht stimmt. Panik überrollt die Menge wie eine Flutwelle und verschluckt alles. Ich sehe zu, wie sie auf dem abgesperrten Platz nach einem Fluchtweg suchen, aber sie können nirgendwohin. Sie können nicht davonlaufen. Die Absperrungen, die eigentlich für unsere Sicherheit sorgen sollten, haben unser Schicksal besiegelt. Wir sind wie Tiere in einem Käfig, eingepfercht für die Schlachtung.
Wach auf, Emilia.
Wach auf, wach auf, wach auf.
Das muss ein weiterer Albtraum sein.
Jemand zerrt an meinem Arm und versucht, mich von der Bühne zu ziehen, aber ich schüttle den Griff ab. Ich stehe wie angewurzelt da. Ich kann mich nicht bewegen, ich kann nicht atmen, und ich kann den Menschen da unten nicht helfen. Ich kann nur hilflos zuschauen und die Katastrophe nicht aufhalten, während die Schützen immer näher kommen und sich mit ihren Kugeln einen blutigen Pfad durch die versammelten Männer, Frauen und Kinder bahnen, die noch vor wenigen Sekunden vor Freude gejubelt haben.
Jetzt schreien sie vor Angst und Schmerz.
Das kann nicht wahr sein.
Das kann nicht passieren.
Jeden Moment werde ich aufwachen und mich in der Sicherheit meines Betts wiederfinden, und das alles wird nur ein schlechter Traum gewesen sein.
Ich blinzle, aber ich wache nicht auf.
Die Schreie nehmen an Lautstärke zu. Menschen klettern über die Absperrungen, ducken sich unter die Bühne und trampeln, in dem verzweifelten Versuch zu entkommen, übereinander hinweg. Endlich kommt Bewegung in mich. Ich beuge mich vor, um Menschen zu mir auf die Bühne zu ziehen, damit sie aus dem Gedränge entkommen, einen nach dem anderen, so viele, wie ich kann. Damit gebe ich ihnen zumindest eine Chance, diesem Albtraum zu entrinnen. Galizia und Riggs stehen links und rechts von mir und tun das Gleiche.
Aber es genügt nicht.
Bei Weitem nicht.
Auf dem Boden herrscht das totale Chaos. Das rhythmische Knallen scheint nicht enden zu wollen. Es wird lauter und lauter und rückt immer näher. Sekunden werden zu Minuten. Alles läuft nur noch im Zeitlupentempo ab.
Kurz flackert Erleichterung auf, als es den Feuerwehrleuten schließlich gelingt, eine der Absperrungen zu öffnen. Die Leute strömen durch die schmale Öffnung auf die Straße hinaus. Tränen rinnen über ihre Wangen, als sie sich in Sicherheit bringen und dabei ihre Kinder fest an sich drücken. Ich versuche, nicht auf diejenigen zu schauen, die nicht rennen. Diejenigen, die viel zu reglos auf dem Boden liegen und im Kielwasser des Schreckens zurückbleiben.
Tot.
Sie sind tot.
»Prinzessin«, fleht Galizia, aber ihre Stimme klingt weit entfernt. »Wir müssen von hier fort«
»Noch nicht.«
»Prinzessin …« Dieses Mal ist es Riggs.
»NOCH NICHT!« Ich würge die Worte hervor – sie sind halb Schrei und halb Schluchzen. »Wir müssen sie retten. Bitte. Helfen … Helfen Sie mir einfach dabei, sie zu retten!«
Mit grimmiger Miene tun sie, was ich verlange.
Meine Armmuskeln schreien vor Schmerz, als ich mich daranmache, eine weitere Frau zu mir auf die Bühne zu ziehen. Mit einer seltsam tauben Faszination bemerke ich die roten Flecken, die ihre Jacke übersäen. Ich frage mich, woher sie kommen. Ob derjenige noch atmet. Ob er zu denen gehört, die Glück hatten.
»Danke«, keucht die Frau, als ich sie nach oben hieve.
Ich schaue in die Menge, wo noch zahlreiche andere Menschen um Hilfe schreien, und sehe, dass sie kurz zögert. In ihren Augen blitzt Schuld auf. Dann murmelt sie eine Entschuldigung und rennt davon, um sich in Sicherheit zu bringen. Ich schaue ihr nicht hinterher – ich drehe mich bereits wieder um und greife nach den nächsten Händen.
Mein Blick trifft auf den eines Mannes in der Menge, der ein Baby im Arm hält, das in eine hellrosa Decke gewickelt ist. Der Anblick wirkt auf absurde Weise vollkommen fehl am Platz. So als würde man ein Kinderspielzeug auf einem Schlachtfeld finden. Er hebt den winzigen, eingewickelten Körper des Mädchens in die Luft, als würde er es mir hochreichen wollen. Doch bevor ich das Kind entgegennehmen kann, reißt mich jemand mit brutaler Gewalt zurück. Ich kreische, als mein ganzer Körper vom Boden abhebt. Die Welt dreht sich auf den Kopf, und Riggs wirft mich über seine Schulter wie einen Sack Mehl.
»Lassen Sie mich runter!«, schreie ich und trommele mit meinen Fäusten auf seinen Rücken ein. »Da sind noch mehr Leute! Wir müssen ihnen helfen!«
Er ignoriert mich und rennt direkt auf den hinteren Bereich der Bühne zu, wo eine schmale Treppe zum Boden hinunterführt. Ich höre Galizias Schritte dicht hinter uns.
»Riggs, bleiben Sie stehen! Sie müssen zurückgehen! Wir können sie immer noch retten!«
Meine heiseren Schreie bleiben unbeachtet.
Ich kann nach wie vor das Kreischen der Menge hören, als wir auf den wartenden SUV zurennen. Ich drehe den Hals und versuche, einen letzten Blick auf die Bühne zu erhaschen. Ich hoffe inständig, dass ich den Mann mit dem rosafarbenen Bündel in den Armen sehen werde, wie er uns in die Sicherheit folgt.
Stattdessen …
Explodiert der Himmel.
Ich habe nicht mal Zeit, mich auf den Aufprall vorzubereiten, zu schreien oder die Leute um mich herum zu warnen, während der gewaltige Feuerball ausbricht und innerhalb eines einzigen Herzschlags alles in seinem unmittelbaren Umfeld verschluckt. Eine Welle aus Hitze und Druck breitet sich vom Mittelpunkt aus und reißt Riggs von den Füßen – und mich mit ihm.
Mein Körper fliegt durch die Luft wie eine Marionette ohne Fäden. In der Sekunde vor dem Aufprall verspüre ich seltsamerweise ausschließlich Erleichterung.
Vielleicht ist es am besten, wenn ich auch sterbe.
Denn die Trauer des heutigen Tages würde ich ohnehin niemals überstehen.
Ich wäre niemals in der Lage, mit all dem Schrecklichen zu leben, das ich heute gesehen habe.
Mein Kopf knallt gegen etwas Hartes, und dann versinkt die Welt um mich herum gnädigerweise in Dunkelheit.
17. KAPITEL
Das Piepen nervt.
Der rhythmische Laut zerrt an mir, als wollte er mir unbedingt etwas mitteilen.
Wach auf.
Wach auf.
Wach auf.
Ich widerstehe dem Ruf.
Ich weiß auch nicht, warum – ich weiß nur, dass ich nicht wach sein will.
Mir gefällt es hier.
Es ist sicher.
Ruhig.
Hier geschieht nichts Schlimmes.
Emilia.
Emilia.
Emilia.
Es wird immer schwerer, dem Piepen zu widerstehen. Und jetzt kommen neue Geräusche hinzu. Leises Gemurmel, das ich nur schwer verstehen kann. Stimmen, die zu Leuten gehören, an deren Namen ich mich nicht so recht erinnern kann.
»Immer noch keine Veränderung?« Die Stimme einer jungen Frau. Sie redet sehr viel. Schnell, als würde sie alles daransetzen, niemanden sonst zu Wort kommen zu lassen, bevor sie nicht selbst alles gesagt hat. »Wie kann das sein? Sie ist doch schon seit sechs Stunden hier.«
»Lady Thorne …«
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»›Lady Thorne‹ ist meine Großmutter, Sie Knallkopf.«
»Tut mir leid …«
»Sparen Sie sich Ihre Entschuldigungen. Ich will verdammt noch mal wissen, warum meine Schwester noch nicht aufgewacht ist. Wenn Sie mir darauf keine Antwort geben können, werde ich mir einen Arzt suchen, der sein Handwerk versteht, und dafür sorgen, dass die erste Amtshandlung der zukünftigen Königin von Caerleon darin besteht, Ihnen Ihre verfluchte Approbation zu entziehen!«
»Chloe.« Eine andere Stimme. Diese gehört einem Mann. Sie ist tief und rau, gleitet über meine Haut wie eine Liebkosung und lockt meinen schlummernden Verstand noch näher an die Oberfläche. »Er tut alles, was in seiner Macht steht.«
»Tja, ›alles, was in seiner Macht steht‹ ist nicht gut genug, nicht wahr?« Die Stimme der Frau bricht in ein Schluchzen aus. »Sie könnte … Gott, Carter, was ist, wenn sie … was ist, wenn sie nicht mehr aufwacht? Was ist, wenn sie stirbt?«
Ein Knurren. »Nicht . Sag so was nicht, verdammt. Denk es nicht mal. Hast du mich verstanden?«
»Aber …«
»Nein.« Ich spüre, wie sich etwas Warmes um meine klammen Finger legt – eine große, schwielige Hand. »Wenn du solchen Mist von dir geben willst, dann sieh zu, dass du von hier verschwindest. Und wenn du heulen willst, kannst du dich ebenfalls zum Teufel scheren. So was kann sie jetzt nicht gebrauchen. Sie wird nicht sterben .«
»Carter …«
»Ich sagte: Verschwinde!« Der Mann brüllt laut genug, um die Wände zum Zittern zu bringen.
Ein unterdrücktes Schluchzen.
Schritte.
Türenknallen.
Dann herrscht eine ganze Weile lang nur Stille. Stille und dieses entsetzliche Piepen, das nie aufzuhören scheint.
Wach auf.
Wach auf.
Wach auf.
Die Hand umfasst meine fester.
»Du wirst nicht sterben«, flüstert der Mann, und seine Stimme bricht bei jedem Wort. »Das kannst du mir nicht antun … Das werde ich nicht zulassen.« Er atmet zitternd ein. »Bleib bei mir, Emilia. Bitte, Liebes … bleib … einfach … hier .«
Piep.
Piep.
Piep.
In mir regt sich etwas – ein kleiner, vergessener Teil meiner Seele, der verzweifelt versucht, an die Oberfläche zu gelangen. Aber der Ozean der Trauer ist zu tief. Ich ertrinke darin. Etwas zieht mich nach unten, an jenen Ort ohne Tod oder Schmerz oder Tragödie.
Die Stimmen driften davon.
Das Piepen wird zu einem Hintergrundrauschen.
Und wieder treibe ich.
»Zwölf Stunden.« Die Frau ist zurück, und ihr Tonfall ist voller Empörung. »Zwölf Stunden ohne jede Veränderung.«
»Lady Th… Ich meine, Lady Chloe.« Der Arzt räuspert sich. »Das Gehirn braucht Zeit zum Heilen. Sie hat eine ziemlich heftige Schädel-Hirn-Verletzung erlitten. Ihr Körper wurde ebenfalls stark in Mitleidenschaft gezogen.«
»Sie sagten, dass das MRT des Gehirns keine Blutung gezeigt habe.«
»Ja, in dieser Hinsicht hat ihr Gehirn nichts zu befürchten. Der Rest ihres Körpers hat den Großteil der Wucht abbekommen. Sie wird allerdings beträchtliche Schmerzen haben – deswegen haben wir ihr ein Beruhigungsmittel verabreicht. Sobald die Wirkung nachlässt, wird sie wieder zu Bewusstsein kommen.« Er hält behutsam inne. »Die Zeit, die dafür benötigt wird, ist von Patient zu Patient unterschiedlich.«
»Aber wie lange wird es bei ihr noch dauern? In ihrem ganz speziellen Fall?«
»Es können Stunden sein. Aber auch Tage.«
»Wozu braucht man eigentlich einen Arzt, wenn er auf nichts eine brauchbare Antwort geben kann?« Die Frau stößt einen frustrierten Laut aus. »Nun verschwinden Sie schon! Und kommen Sie erst wieder, wenn Sie mir tatsächlich etwas Brauchbares mitzuteilen haben.«
Ich höre das Klicken einer sich schließenden Tür.
Dann folgt kurz Stille, bis auf einmal leise Schluchzlaute die Luft erfüllen, unter die sich das regelmäßige Piepen meines Herzmonitors mischt.
Meine Augenlider sind schwer wie Blei, aber es gelingt mir, sie einen Spaltbreit zu öffnen. Das Erste, was ich sehe, ist Chloe, die zusammengekauert auf einem Stuhl neben meinem Krankenhausbett sitzt und das Gesicht in den Händen vergraben hat. Ich habe sie noch nie weinen sehen. Um ganz ehrlich zu sein, wusste ich nicht mal, dass die Frau überhaupt über Tränendrüsen verfügt.
»Hast du den Arzt gerade ernsthaft aus dem Zimmer gescheucht?«, frage ich mit kratziger, schwacher Stimme.
Irgendwie hört sie mich. Sie reißt den Kopf hoch und schaut mit ihren blutunterlaufenen Augen in meine.
»Du bist wach! Oh mein Gott, du bist wach!« Mit einem Schrei wirft sie sich aufs Bett. Sie prallt so hart auf meine Brust, dass sie mir die Luft aus der Lunge presst.
»Uff!«, keuche ich, doch sie umarmt mich nur noch fester.
Die Tür öffnet sich mit einem Knall, und Carter kommt ins Zimmer gestürmt. Zweifellos haben ihn die Schreie seiner Schwester herbeigerufen. Die Angst auf seinem Gesicht verwandelt sich schnell in Erleichterung, als sich unsere Blicke über Chloes Schulter hinweg treffen und ihm klar wird, dass ich lebe. Er ist bereits auf halbem Weg an meine Seite, als er plötzlich innehält, um allem Anschein nach seine Emotionen wieder unter Kontrolle zu bringen. Anderthalb Meter entfernt bleibt er stehen, atmet hektisch und starrt mich mit einem Ausdruck in den Augen an, den ich noch nie zuvor gesehen habe – Hoffnung, die gegen etwas sehr viel Intensiveres ankämpft.
»Hi«, flüstere ich, da ich nicht weiß, was ich sonst sagen soll.
Carter lässt sich langsam auf den Besucherstuhl sinken, so als hätte er plötzlich keine Kraft mehr, sich aufrecht zu halten. »Chloe«, murmelt er eine Sekunde später, ohne den Blick von mir zu nehmen. »Du erdrückst sie.«
»Tut mir leid! Tut mir leid.« Sie zieht sich ein wenig zurück, sodass ihr Gewicht nicht mehr auf meiner Brust liegt, weicht mir aber nicht von der Seite. In ihren Augen schimmern neue Tränen, als sie mir ins Gesicht schaut. »Ich bin nur so froh, dass du lebst! Und dass dein Gehirn noch funktioniert!«
»Hast du befürchtet, dass ich als Gemüse aufwachen würde?«, frage ich ironisch.
»Vielleicht. Aber das bist du nicht!« Sie drückt mir einen Kuss auf die Stirn. »Herrgott, tu mir so was nie wieder an.«
»Ich werde mir Mühe geben«, murmle ich und versuche, mich daran zu erinnern, was genau ich angestellt habe, um hier zu landen. »Mein Kopf fühlt sich … benebelt an.«
Carter und Chloe tauschen einen Blick aus.
»Das kommt von der Gehirnerschütterung und den Schmerzmitteln, die sie dir gegeben haben«, sagt Chloe schließlich. »Es könnte eine Weile dauern, bis du dich wieder an alles erinnerst. Du warst fast zwölf Stunden lang bewusstlos.«
Ich schaue in Richtung Fenster, um anhand der Tageszeit herauszufinden, wie spät es ist, aber seltsamerweise gibt es kein Fenster. Ich sehe nur Betonwände und Neonlichter, die mich an einen Lagerschrank erinnern. Das hier sieht wie kein Krankenhaus aus, in dem ich je gewesen bin.
»Wo bin ich?«
»In Fort Sutton.« Carter fährt mit einer Hand durch sein Haar. »Das ist eine inoffizielle Einrichtung, die als Militärbasis, Atombunker und königliches Krankenhaus benutzt wird, wann immer es einen … Zwischenfall gibt.«
Zwischenfall?
Ich nicke geistesabwesend und fühle mich immer noch ziemlich benommen. »Ist Linus hier?«
Erneut tauschen sie besorgte Blicke aus, aber ich bekomme es kaum mit. Mein Gehirn ist anderweitig beschäftigt, denn es versucht im Schneckentempo, die Einzelheiten zusammenzufügen, wie ein Puzzle aus Erinnerungen, die nicht so richtig zusammenpassen.
Der Platz …
Die Bühne …
Die Rede …
Die Schreie …
»Oh mein Gott«, flüstere ich. Meine Stimme ist eine leere Hülle der Verwüstung, als mit einem Mal alles zurückkommt. »Oh mein Gott, das Attentat … All diese Leute.«
Chloe ist blass geworden. Sie ergreift meine Hand und drückt sie fest.
»Sagt mir, dass das nicht wirklich passiert
ist«, flehe ich, und meine Augen füllen sich mit Tränen, während ich von Chloe zu Carter schaue. »Sagt mir, dass das nur ein schlechter Traum war.«
»Schätzchen …« Chloes Stimme bricht.
Meine Sicht verschwimmt, als eine Flut aus Tränen über meine Wangen rinnt. Es sind die ersten Tropfen aus dem Meer von Schmerz in meinem Inneren, das in Wellen durch mich hindurchrauscht, während die Erinnerungen über mich hereinbrechen.
Der entsetzliche Kugelhagel, mit dem sich die Angreifer ihren Weg durch die Menge pflügen wie ein Bauer mit einer Sense auf einem Weizenfeld. Sie schießen die Menschen nieder, bevor sie in Deckung gehen können.
Menschen, die rennen, fallen, sterben.
Eine verängstigte Frau in einer blutbesudelten Jacke.
Ein winziges Baby in einer rosafarbenen Decke.
Es ist zu viel. Zu viel, um es zu verarbeiten, zu viel, um es alles auf einmal zu fühlen. Chloe schlingt die Arme um meinen Körper und hält mich fest. Sie fängt den qualvollen Sturm ab, der in großen, wogenden Schluchzern aus mir herausbricht.
»Alles ist gut«, flüstert sie an meinem Haar und tut ihr Bestes, um mich zu beruhigen. »Du kommst wieder in Ordnung.«
Aber tief im Inneren weiß ich, dass sie unrecht hat.
Ich werde nie wieder in Ordnung kommen.
Irgendwann habe ich mich ausgeweint.
Die Trauer ist noch da und füllt mein Inneres aus, bis ich kaum noch in der Lage bin, Luft in meine Lunge zu pumpen. Aber meine Augen sind nicht mehr in der Lage, noch mehr Tränen zu produzieren. Ein Ventil ist zugedreht worden, und zum ersten Mal seit Stunden bleiben meine geschwollenen Augen trocken.
Chloe und Carter sind immer noch hier – jeder auf einer Seite meines Betts – und beobachten mich aufmerksam. Keiner von ihnen spricht ein Wort. Ich frage mich, ob das daran liegt, dass sie befürchten, mich wieder zum Weinen zu bringen.
Ich räuspere mich und bemühe mich um einen gemäßigten Tonfall. Beinahe gelingt es mir.
»Wie viele?«
Chloe öffnet den Mund, aber Carter ist derjenige, der antwortet. Seine Stimme klingt nüchtern, als er mir die reinen Fakten nennt. Als wüsste er, dass jegliche Zurschaustellung von Emotionen genügt, um mich wieder in meine Trauer versinken zu lassen.