Ich sah deutlich, wie Cain sich bei diesen Worten versteifte.
»Drei Jahre haben die beiden gemeinsam gegen die Kreaturen der Nacht gekämpft und sich gegenseitig den Rücken gestärkt. Sie waren ein eingespieltes Team, und Jules hat oft betont, dass er unverschämt viel Glück hatte, Cain an seiner Seite –«
Bevor Grant den Satz beenden konnte, sprang Cain von ihrem Platz auf und stürmte aus der Cafeteria.
Zahlreiche Köpfe drehten sich in ihre Richtung, und ein besorgter Ausdruck trat auf das Gesicht ihres Dads, aber weder er noch ihre Mum machten Anstalten, ihr nachzugehen.
»Entschuldigt mich«, murmelte ich, bevor ich mir dessen bewusst war, und schob mich an den anderen Huntern vorbei Richtung Ausgang.
Fuck! Ich wusste, ich sollte das nicht tun. Ich sollte Cain nicht nachlaufen. Das war nicht meine Angelegenheit, und ich war garantiert einer der letzten Menschen, die sie gerade sehen wollte, vor allem nach der Abfuhr, die ich ihr erteilt hatte. Doch etwas in mir – vielleicht die Wut, die wir nun teilten – zerrte mich aus der Cafeteria. Es war ein Zwang, gegen den ich mich nicht wehren konnte. Also gab ich ihm nach und folgte Cain.
Cain
Sie waren ein eingespieltes Team und haben sich gegenseitig den Rücken gestärkt.
Grants Worte hallten mir in den Ohren wider und schienen mich zu verspotten. Sie waren das Gegenteil von dem, was ich für Jules getan hatte. Ich war nicht für ihn da gewesen, als er mich am meisten gebraucht hatte.
»Scheiße!«, fluchte ich, als ich in meinen hohen Schuhen stolperte und ins Taumeln geriet. Ich fand mein Gleichgewicht wieder, bevor ich hinfiel, blieb jedoch kurz stehen, zog mir die Schuhe aus und ließ sie an Ort und Stelle liegen. Scheiß auf sie. Ich hatte sie überhaupt nicht anziehen wollen. Meine Eltern hatten mich überredet, sie zu einer Trauerfeier zu tragen, auf die ich gut und gern verzichten konnte. Ich hatte nicht vor, um Jules zu trauern. Weil er nicht tot war. Davon war ich überzeugt, egal was Grant, Warden und all die anderen behaupteten. Er lebte, und ich würde ihn finden, wenn es sein musste, auch im Alleingang.
Normalerweise respektierte ich die Regeln der Hunter, aber wie konnte ich etwas respektieren, das gegen all meine moralischen Vorstellungen verstieß? Die Antwort war einfach: Ich konnte es nicht. Keine Strafe, die Grant sich für mich ausdachte, konnte schwer genug sein, um meine Schuldgefühle darunter zu begraben. Vielleicht würde es mich meine Chance, Quartiersleiterin zu werden, kosten. Doch wenn diese Position von mir verlangte, dass ich Jules einfach aufgab, dann wollte ich sie ohnehin nicht.
Ich erreichte mein Zimmer, und in weniger als einer Minute hatte ich das Kleid gegen meine Uniform getauscht. Meine nackten Füße steckten in stahlverstärkten Stiefeln, und statt des Schmucks meiner Großmutter trug ich nun meine beiden Khukuri. Aber es brauchte noch etwas mehr, um auf die Jagd zu gehen.
Das Quartier war wie ausgestorben. Auf dem Weg zur Waffenkammer begegnete mir niemand, der sich dafür hätte interessieren können, was ich vorhatte. Dort angekommen, schnappte ich mir alle Waffen, die mir nützlich erschienen, und ging im Geiste die Munition durch, die ich dafür einstecken musste.
»Was machst du da?«
Erschrocken wirbelte ich beim Klang der tiefen Stimme herum und entdeckte Warden, der auf der Schwelle zur Waffenkammer stehen geblieben war. Ich hätte schwören können, ihn mit Roxy, Finn und Shaw auf Jules’ Trauerfeier gesehen zu haben, aber womöglich hatte ich mich getäuscht. Auch er trug seine Uniform und hatte seine Macheten auf den Rücken geschnallt. Er sah völlig anders aus als der junge Mann, der mir gestern die Tür zu seinem Zimmer geöffnet hatte. Mit seiner Brille und dem bedruckten T-Shirt, das vermutlich eine Anspielung auf irgendeinen Anime war, hatte er mich so sehr an meinen Warden erinnert, dass ich für einen Moment geglaubt hatte, ich wäre in eine Zeitmaschine gestiegen. Doch egal wie er aussah, er war nicht länger mein Warden.
»Wonach sieht es denn aus?«, fragte ich bitter und steckte eine Pistole in das Holster, das ich mir gerade um den Oberschenkel gebunden hatte.
Warden trat einen Schritt auf mich zu. »Es sieht aus, als würdest du durchdrehen.«
Ich stieß einen amüsierten Laut aus, in dem ein leicht hysterischer Unterton mitschwang. Vielleicht hatte er recht. Womöglich stiegen mir meine Angst und meine Sorge um Jules zu Kopf und ließen mich langsam den Verstand verlieren.
Unter Wardens aufmerksamen Blicken rüstete ich mich weiter aus, bis ich von Kopf bis Fuß bewaffnet war. Nachdem ich das letzte Messer, das aus mehreren Gliedern bestand und sich zu einem Armband formen ließ, an meinem Handgelenk befestigt hatte, sah ich wieder zu ihm hinüber. »Warum stehst du eigentlich so unnütz da rum?«
»Ich warte.«
»Worauf?«
Seine Augenbrauen zuckten in die Höhe, als wäre ich schwer von Begriff. »Darauf, dass du fertig wirst.«
»Ich bin fertig.«
»Gut.« Er löste die Arme, die er vor der Brust verschränkt hatte. »Dann lass uns gehen.«
Ich runzelte die Stirn und verließ hinter Warden die Waffenkammer. »Wohin?«
»Das kommt darauf an. Wo willst du mit der Suche anfangen?«
»Warte.« Ich packte sein Handgelenk, sodass er gezwungen war, stehen zu bleiben. »Du hilfst mir?«
Er schnaubte und verdrehte genervt die Augen. »Ja. Aber mach keine große Sache draus.«
»Warum?« Ich verstand das nicht. Gestern hatte er mir klar und deutlich zu verstehen gegeben, dass Jules tot war und damit jeder Versuch, ihn zu suchen, Zeitverschwendung, und heute wollte er mir helfen? Vielleicht war nicht ich diejenige, die dabei war, den Verstand zu verlieren.
»Spielt das eine Rolle?«
»Ja.« Wenn er nur hier war, um mir das Leben schwer zu machen oder um mich auszuspionieren und anschließend an Grant zu verraten, dann konnte ich gut auf ihn verzichten. Auch wenn es vermutlich von Vorteil wäre, jemanden wie ihn an meiner Seite zu haben. Nicht nur, dass er seit Jahren ohne die Hilfe des Quartiers jagte, er war auch einer der besten Kämpfer, die ich kannte. Allerdings wäre ich lieber tot umgefallen, als das ihm gegenüber zuzugeben.
»Ich will Isaac finden«, antwortete Warden.
»Okay …«
»Und offenbar war Jules einer der Letzten, der ihn gesehen hat.«
Nun dämmerte es mir. »Finde ich Jules, findest du womöglich auch Isaac.«
Warden nickte.
Natürlich entsprang seine unerwartete Hilfsbereitschaft nicht einer neu gefundenen Selbstlosigkeit, aber das war in Ordnung. Mir war egal, warum er mir half, wichtig war nur, dass er es tat.
Schweigend folgten wir dem langen Korridor, der zur Tiefgarage führte. Mit meinem Sicherheitscode entriegelte ich den Kasten mit den Schlüsseln, die zu Fahrzeugen gehörten, die dem gesamten Quartier zur Verfügung standen – abgesehen von Warden. Mit seinen unautorisierten Missionen hatte er das Recht, diese Autos und Motorräder zu benutzen, bereits vor langer Zeit verwirkt.
Ich warf Warden den Schlüssel zu, da ich es hasste, am Steuer zu sitzen.
Nach einer kurzen Absprache beschlossen wir, nach Portobello zu fahren. Es war der letzte Ort, an dem Jules lebend gesehen worden war. Die Suchtrupps hatten diese Gegend zwar schon mehrfach und weitläufig durchkämmt, aber eine andere Anlaufstelle hatten wir nicht, und womöglich war ein Hinweis übersehen worden.
Auf den Straßen Edinburghs war es zu dieser Zeit ruhig. Es herrschte kaum Verkehr, und Edinburgh Castle, das tagsüber von Tausenden von Touristen besucht wurde, ruhte majestätisch im Licht der Scheinwerfer über der schlafenden Stadt. Zehn Minuten später parkte Warden, der genauso fuhr wie er kämpfte – ohne Rücksicht auf Verluste –, den Wagen vor dem verlassenen Schwimmbad, in dem Floyd und Jules Isaac und seine Vampire entdeckt hatten.
Eine Gänsehaut kroch mir die Arme empor, was nicht nur an der kühlen Nachtluft lag. Das einstöckige Gebäude mit der Kuppel in der Mitte musste seit Jahren leer stehen, denn es war ziemlich heruntergekommen. Die einst helle Fassade war ergraut und mit Graffitis bedeckt, d
ie rein gar nichts mit Kunst zu tun hatten. Tonschindeln lagen auf dem Boden, als würde das Dach mit jedem Windstoß weiter abgetragen werden. Die gläserne Eingangstür war eingeschlagen und nur notdürftig mit einem Absperrband versiegelt worden. Daneben hing noch immer die verblichene Tafel mit den Schwimmbadpreisen an der Wand, die allerdings kaum mehr zu lesen war.
Ohne ein Wort miteinander zu sprechen, setzten Warden und ich uns in Bewegung. Ich tippte kurz gegen das Amulett an meinem Hals, damit es eine Illusion erschuf, die Warden und mich unsichtbar machte. Das Letzte, was wir brauchten, waren Zeugen, die beobachteten, wie wir hier einbrachen.
Warden schob das Absperrband zur Seite und betrat das Schwimmbad, eine seiner Macheten in der Hand, die andere noch auf dem Rücken. Ich zog eines meiner Khukuri und folgte ihm dicht auf den Fersen.
Im Inneren des Schwimmbads roch es nach abgestandenem Regenwasser und Schimmel. Und auch der zarte Duft des Desinfektionsmittels, welches der Reinigungstrupp der Hunter benutzt hatte, lag noch in der Luft. Trockene Blätter und Plastikverpackungen knirschten unter unseren Füßen, als wir uns langsam dem verlassenen Kassierhäuschen näherten. Vergilbte Flyer klebten am Boden.
»Wir sollten uns aufteilen«, schlug ich vor.
Warden schüttelte den Kopf. »Nein, wir bleiben zusammen.«
»Aber so geht es schneller.«
»Ich habe Nein gesagt.«
Ich hob die Augenbrauen. »Hast du etwa Angst?«
Warden suchte meinen Blick und starrte mich lange an, bevor er betont langsam zu sprechen begann. »Wir bleiben zusammen. Und wenn wir getrennt werden sollten, treffen wir uns am Wagen. Verstanden?«
Was sollte das? Früher hatten wir uns immer aufgeteilt, wenn wir Gebäude durchsuchen mussten, und das hatte meist gut geklappt. Keine Ahnung, woher Wardens Abneigung dagegen plötzlich kam, aber wenn er wollte, dass wir zusammenblieben, würden wir das eben tun.
»Wohin zuerst?«
Warden nickte in Richtung der Umkleiden.
Mit erhobenen Waffen betraten wir den langen Gang, von dem zahlreiche Kabinen abzweigten, deren Türen ebenfalls mit Graffitis besprüht waren. Automatisch nahm ich mir die linke und Warden die rechte Seite vor, so wie wir es früher immer getan hatten. Wir prüften Kabine für Kabine, um sicherzustellen, dass keine Gefahr drohte, ehe wir uns daran machten, den Bereich nach Spuren abzusuchen, die uns möglicherweise einen Hinweis darauf gaben, was in der Nacht von Jules’ Verschwinden passiert war. Anschließend widmeten wir uns den Duschen für Männer und Frauen und zwei Abstellkammern.
Mit jedem Raum, in dem wir keinen Hinweis fanden, schwand meine Hoffnung. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir etwas entdeckten, das alle anderen übersehen hatten, war von Beginn an gering gewesen, aber wo hätten wir sonst mit unserer Suche anfangen sollen?
Warden
»Nichts«, sagte ich und ließ meine Machete sinken.
Wir hatten die Schwimmhalle erreicht, und bisher war das Einzige, was wir gefunden hatten, ein Bikini-Oberteil und Bierflaschen, die offenbar die Überreste einer Party waren, die allerdings mehr nach Studenten schrien als nach Vampiren.
Das Licht des Mondes schien durch die Kuppel, die sich direkt über dem leeren Schwimmbecken befand und deren Glas an etlichen Stellen gesprungen war, sodass sich im Pool kleine Pfützen gesammelt hatten, in denen Splitter, Blätter und weiterer Müll schwammen. Unbenutzte, zum Teil abgebrochene Sprungbretter ragten über das leere Becken, an dessen Rand eine Handvoll fleckiger Liegen standen.
Cain nickte in Richtung des westlichen Flügels, wo eine Treppe in den ersten Stock hinaufführte. »Lass uns da oben weitermachen.«
Ich ging voraus, während Cain uns Rückendeckung gab, damit uns nichts von hinten anfiel. Es war erschreckend, was für ein eingespieltes Team wir auch nach all den Jahren waren. Als hätte sich nie etwas geändert. Wir wussten beide noch ganz genau, was zu tun war, damit wir zusammen funktionierten.
»Erinnerst du dich an unsere erste offizielle Jagd?«, fragte Cain im Flüsterton.
Wie könnte ich die vergessen? Wir sind im Mondlicht die Strandpromenade entlangspaziert, und du hast mir jedes Mal einen halben Herzinfarkt verpasst, wenn du plötzlich losgespurtet bist, um Müll aufzusammeln, den andere am Strand haben liegen lassen.
»Nein«, log ich. Trotz allem, was zwischen Cain und mir vorgefallen war, gehörte diese Erinnerung zu einer meiner liebsten, aber das hätte ich niemals zugegeben. Vor allem nicht ihr gegenüber.
»Das war auch hier in Portobello«, sagte Cain, als wollte sie meiner Erinnerung auf die Sprünge helfen.
Wir hatten das obere Ende der Treppe erreicht. Anstatt Cain anzuschauen, sah ich mich in dem Restaurant um, in dem wir standen. Tische und Stühle waren umgeworfen. Über der Essensausgabe hingen noch die Schilder, die für Fish & Chips und andere Speisen warben. Dahinter lag eine verschlossene Tür, die vermutlich in die Küche führte.
»In Portobello … Wirklich?«
»Ja.«
»Mhh«, brummte ich. »Kann sein. Ich war seitdem viel unterwegs.«
Cains Erwiderung ließ zwei, drei Herzschläge auf sich warten. Dann schob sie sich an mir vorbei, um als Erste die Küche zu betreten. »Ist auch nicht so wichtig«, murmelte sie, doch ihr Tonfall verriet, dass sie das genaue Gegenteil empfand.
Ich war wirklich ein Arschloch. Was nur einmal mehr deutlich machte, weshalb es für Cain besser war, mich nicht mehr in ihr Leben zu lassen. Mit Ausnahme dieser einen, letzten Mission. Sollte sie erfolgreich sein und ich Isaac finden, wäre es vielleicht das Klügste, die Stadt dauerhaft zu verlassen. Ich könnte meine Mum nach London verlegen lassen und mit Roxy, Finn und Shaw dorthin zurückkehren. Sicherlich würde sich Ingrid gut um meine Mum kümmern, und Nala hätte bestimmt auch nichts dagegen, ihr Quartier um einen Blood Hunter zu verstärken, zumal es in London nicht viele davon gab.
Ich wollte Cain gerade in die Küche folgen, als sie einen Schritt zurückmachte und mir eine Hand auf die Brust legte, um mich zu stoppen. Instinktiv schloss ich die Finger fester um den Griff meiner Machete.
Cain sah zu mir auf. »Riechst du das?«, formten ihre Lippen die tonlosen Worte.
Ich nickte. Rosmarin. Keine Ahnung, ob es an der geschlossenen Tür gelegen hatte oder an dem penetranten Geruch nach abgestandenem Regenwasser, der dank des undichten Dachs allgegenwärtig war, aber ich hatte den Vampirduft zuvor nicht wahrgenommen, was verdammt nachlässig von mir gewesen war.
Cain zog das zweite Khukuri aus der Halterung an ihrer Hüfte und betrat die Küche.
Es juckte mich in den Fingern, sie zu packen, zurückzuziehen und selbst die Vorhut zu bilden. Doch ich hielt mich zurück. Nicht nur, dass Cain mehr als fähig war voranzugehen. Sie würde es auch nicht gutheißen, wenn ich einen auf großen Beschützer machte. Obwohl ich genau das tun wollte.
Die Küche befand sich in einem noch schlechteren Zustand als der Rest des Schwimmbads. Pfützen hatten sich auf dem Boden gebildet, Schränke waren aus der Wand gerissen worden. Eine Ratte huschte bei unserem Eintreten über den zerbrochenen Fliesenboden davon. Metalllampen baumelten schief von der durchhängenden Decke, die aussah, als könnte sie jede Sekunde einstürzen. All das erfasste ich in weniger als einer Sekunde, denn im nächsten Augenblick richtete sich mein Fokus bereits auf den Schatten, der sich aus der Dunkelheit löste.
Der Vampir, der sich hier vor uns versteckt hatte, machte einen Satz nach vorne und versuchte, Cain zu packen. Sie wich seinem Angriff geschickt aus und rammte ihm dabei eines ihrer Khukuri in den Magen. Er brüllte auf und zog sich die Klinge aus den Eingeweiden. Augenblicklich erfüllte der Gestank von verrottetem Blut den Raum.
Es wäre ein Kinderspiel gewesen, ihn zu töten. Ein einzelner, offenbar junger und nicht allzu cleverer Vampir konnte nichts gegen zwei erfahrene Blood Hunter ausrichten. Ihn nicht zu töten, sondern für ein Verhör zu immobilisieren, war jedoch eine weitaus größere Herausforderung.
Er bemerkte mich im selben Moment, in dem ich mit meiner Machete auf ihn zuhechtete. Er wandte Cain den R
ücken zu und stürzte sich auf mich.
Und dann ging alles ganz schnell. Ich warf meine Machete in Cains Richtung. Im selben Augenblick zog ich mit meiner Linken eine Pistole hervor. Der Vampir sprang mich an, und ich feuerte einen Schuss ab. Die Kugel traf auf die Fleischwunde, die Cain ihm bereits zugefügt hatte. Er stieß ein animalisches Knurren aus und riss mich mit sich. Hart schlug ich auf den Boden auf.
Der Vampir war von seinem Schmerz zu eingenommen, um Cain zu beachten, die sich inzwischen meine Machete geschnappt hatte. Sie holte mit der Klinge aus, und mit einem einzigen festen Hieb, in dem mehr Kraft steckte als für einen normalen Menschen möglich, durchtrennte sie Haut und Kochen und schlug dem Vampir sein rechtes Bein auf Höhe des Knies ab.
Er brüllte auf, ein markerschütternder Schrei, und vielleicht, ganz vielleicht hätte ich Mitleid mit ihm haben können, hätte kein getrocknetes Blut an seiner Kleidung geklebt, vermutlich die Reste seiner letzten menschlichen Mahlzeit.
Cain kickte den Unterschenkel beiseite und löste ein Paar Handschellen von ihrem Gürtel.
Ich packte den Vampir, dessen schmerzverzerrtes Gesicht von dunklen Adern durchzogen war, und legte ihm die Fesseln an, die mit einer Silberlegierung versehen waren, um der Stärke von Kreaturen wie dieser standzuhalten. Anschließend schleifte ich ihn zu einem der am wenigsten ramponierten Schränke und lehnte ihn unsanft mit dem Rücken dagegen.
Wutentbrannt starrte er mich aus rot leuchtenden Augen an und versuchte aufzustehen, aber mit nur einem Bein und gefesselten Händen war das ziemlich unmöglich. Abgesehen davon steckte noch immer eine Kugel in seinem Magen, was bedeutete, dass die Wunde nicht ungehindert heilen konnte.
»Willst du oder soll ich?«, fragte Cain und trat an meine Seite. Ihr Gesicht war vom Blut des Vampirs gesprenkelt.
Ohne zu antworten, ging ich neben dem Vampir in die Hocke, bis ich mit ihm auf Augenhöhe war. Nun hatte ich einen ungehinderten Blick auf seine Fänge, deren Kürze meine Vermutung bestätigte, dass er vor nicht allzu langer Zeit verwandelt worden war. Ich vermutete vor fünf oder sechs Monaten.
Midnight Chronicles 02 - Blutmagie Page 14