Nach gut einer Viertelstunde wurde der Saal verdunkelt, und das aufgeregte Gemurmel der anderen Gäste verstummte. Das Kino war gut besucht, was an einem regnerischen Abend wie diesem nicht verwunderlich war. Von unserem mysteriösen Kontakt fehlte aber noch immer jede Spur.
Mit wachsender Ungeduld sah ich mich um. Es machte mich nervös, dass so viele Leute in unserem Rücken saßen, die wir nicht ohne Weiteres im Blick hatten.
Der Film lief bereits eine halbe Stunde, als ich spürte, wie Cain sich neben mir versteifte. Ich sah zu ihr und folgte ihrem Blick. Ein Mann, der nicht Tarquin war und die Uniform der Kinomitarbeiter trug, kam auf uns zu. Sein Geruch nach Rosmarin war selbst zwischen den starken Aromen von Popcorn und Chipsgewürzen unverkennbar.
Ich tastete nach meinem Dolch, zückte ihn aber nicht, während ich den Vampir musterte. Er hatte dünnes Haar, das er auf seltsam altmodische Art am Hinterkopf zusammengebunden trug und das an einigen Stellen schon grau wirkte, obwohl das im flimmernden Licht der Leinwand nur schwer zu erkennen war. Ohne ein Wort zu sagen, schob er sich an Cain und mir vorbei und nahm auf der freien Couch neben unserer Platz.
»Es freut mich, dass ihr meiner Nachricht gefolgt seid«, sagte er so leise, dass ich seine Worte nur dank meiner Huntergabe über den Lärm des Films hinweg hören konnte.
Cain rutschte näher an den Vampir – und damit auch an mich – heran. »Wer bist du?«
»Ihr könnt mich Phineas nennen.«
Ich biss die Zähne zusammen. »Okay, Phineas, was machen wir hier? Was weißt du über Jules?«
Der Vampir lehnte sich gemütlich zurück und blickte auf die Leinwand, anstatt uns anzusehen. Bunte Lichter flackerten über seine blasse Haut und die hohen Wangenknochen, und ich war mir auf einmal sicher, dass er schon sehr alt war. Sehr, sehr alt.
»Ich weiß, wo ihr ihn finden könnt.«
»Woher?«, fragte ich.
»Ich habe meine Quellen. Quellen, die eng mit Isaac zusammenarbeiten.«
Bei der Erwähnung des Vampirkönigs schoss mein Puls in die Höhe. Am liebsten hätte ich Phineas gepackt, um sämtliche Informationen aus ihm herauszuprügeln. Wenn er der war, der er vorgab zu sein, hatte er uns sicherlich einige interessante Dinge zu erzählen.
»Das macht dich in unseren Augen nicht gerade vertrauenswürdig«, bemerkte Cain.
Phineas zuckte mit den Schultern. »Das ist nicht mein Problem.«
Sie seufzte. »Und warum willst du Isaac verraten?«
»Ich und ein paar andere finden nicht gut, in welche Richtung sich seine … Bestrebungen entwickeln«, erklärte er. Das Zögern in seiner Stimme war so minimal gewesen, dass es mir fast entgangen wäre. »Das bescheidene Domizil, das du mit deinem Hexer-Freund überfallen hast, war unser Treffpunkt.«
Isaacs eigene Leute stellten sich gegen ihn? Das war interessant.
»Geht es dabei um Baldur?«
Phineas antwortete nicht, sondern griff, ohne den Blick von der Leinwand abzuwenden, in seine Tasche. Er holte ein Handy hervor, tippte kurz darauf herum, und einen Moment später vibrierte mein eigenes in meiner Hosentasche.
Ich zog es heraus und sah, dass er mir von Cains alter Nummer aus Koordinaten geschickt hatte.
»Dort findet ihr euren Grim Hunter«, erklärte Phineas.
Cain riss mir mein Handy aus der Hand und starrte auf die Koordinaten. »Hast du dafür auch einen Beweis?«
Phineas schnaubte. »Ihr Blood Hunter seid immer so verdammt misstrauisch.«
Abschätzend musterten Cain und ich ihn, bis er ein Seufzen ausstieß und sich von seinem Platz erhob. Ich wollte schon aufstehen und ihn stoppen, als er etwas in meinen Schoß fallen ließ. »Macht mit dieser Information, was ihr wollt, aber ich an eurer Stelle würde schnell handeln«, sagte er und warf Cain ihr Handy zu. »Und ihr solltet künftig keine Handys mehr herumliegen lassen. Man kann nie wissen, wer sie findet.« Mit diesen Worten verschwand er in die Richtung, aus der er gekommen war.
Ich blickte ihm nach, bis er außer Sichtweite war, erst dann erlaubte ich mir nachzusehen, was er in meinen Schoß geworfen hatte. Es war eine bunte, geflochtene Kordel, an der ein magisches Amulett der Stufe 1 baumelte.
Cain neben mir sog scharf die Luft ein. Ich konnte förmlich spüren, wie sich jeder Muskel in ihrem Körper versteifte, und auch mein eigener Magen zog sich bei dem Anblick zusammen. Es gab nur einen Hunter, der sein Amulett an einer solch auffälligen Kordel trug.
26. KAPITEL
Cain
Phineas Koordinaten führten uns tief ins Nirgendwo, in das Herz von Schottland. Weit und breit gab es nichts außer Berge, Wiesen und Wälder, die an der einen oder anderen Stelle von Flüssen durchbrochen wurden. Und ich war mir sicher, in der letzten halben Stunde mehr Schafe und Hochlandrinder als Menschen gesehen zu haben. Es war eine idyllische Route, vor allem nach dem Regen der letzten Nacht. Der Himmel war klar, strahlender Sonnenschein ließ das Grün um uns herum noch satter erscheinen. Doch ich konnte diesen Ausflug nicht genießen, denn die Angst vor dem, was am Ende der Fahrt auf uns wartete, saß wie ein Eisblock in meinem Magen.
»Wir sind bald da«, stellte ich mit einem Blick auf das Navi fest. Tränen brannten mir in den Augen, und ich umklammerte das Amulett in meiner Hand so fest, dass es wehtat. Ich war nicht dumm. Natürlich wusste ich, was es bedeutete, wenn Jules dieses Amulett nicht mehr trug. Einmal angelegt, ließen sie sich nicht mehr abnehmen, bis ihre Magie aufgebraucht oder ihr Träger … nicht mehr da war. Diese Erkenntnis schnürte mir noch immer die Luft ab, denn sosehr ich auch an Jules’ Überleben geglaubt hatte, nun konnte ich mich nicht länger vor der Wahrheit sperren. Ihn aufzugeben und bei den Vampiren verrotten zu lassen kam dennoch nicht infrage. Wir mussten ihn zurückbringen, nach Hause, damit er den Abschied bekam, den er verdient hatte, und damit er bei uns war, bei seinen Freunden und seiner Familie. Er hatte es nicht verdient, irgendwo verscharrt im Wald zu liegen wie ein wertloses Stück Dreck.
Zehn Minuten später parkte Warden den Wagen am Ende eines holprigen Feldwegs. Der Motor verstummte, und sofort war nur noch das Zwitschern der Vögel zu hören. Die Luft war klar, und eine sanfte Brise brachte die Natur um uns herum zum Tanzen, während sich die Sonnenstrahlen einen Weg durch die Baumwipfel suchten und abstrakte Muster auf den Waldboden zeichneten. Was für ein merkwürdiger Ort, an den Phineas uns geschickt hatte …
Mit weichen Knien stieg ich aus dem Wagen. Wir holten unsere Waffen aus dem Kofferraum und folgten den Anweisungen des Handys bis zu den Koordinaten, die uns erstaunlich zielgenau zu einer Hütte führten. Unscheinbar duckte sie sich zwischen den Bäumen, aus Holz errichtet, mit einem gemauerten Schornstein und einer kleinen Veranda, auf der eine Bank stand. Die Hütte erinnerte mich an ein Ferienhaus, in dem meine Eltern und ich vor Jahren eine Woche verbracht hatten.
»Ziemlich ruhig hier«, bemerkte Warden.
Wir saßen versteckt hinter ein paar Sträuchern, Ferngläser in den Händen. Es war ein friedlicher Ort, an dem man nichts Böses vermutete, aber wir beide wussten, wie sehr der Schein trügen konnte.
Ich ließ den Blick durch das Fernglas über den Boden gleiten auf der Suche nach Reifenspuren oder Ähnlichem. Vampire konnten sich weder teleportieren noch in Fledermäuse verwandeln … aber der Wald schien vollkommen unberührt.
»Wollen wir reingehen?«, fragte ich.
Warden nickte.
Wir tauschten unsere Ferngläser gegen Klingen. Ich zückte meine Khukuri, und Warden zog eine seiner Macheten aus der Halterung an seinem Rücken. Langsam näherten wir uns der Hütte. Obwohl es keine Anzeichen von Gefahr gab, hämmerte mein Herz wie wild. Ich wollte Jules unbedingt finden, aber gleichzeitig fürchtete ich mich vor dem Anblick. Sein Amulett wog schwer in meiner Hosentasche.
Die Hütte sah aus der Nähe betrachtet ebenso friedlich aus wie aus der Ferne. Nichts rührte sich, und auch der vertraute Geruch nach Rosmarin blieb aus. Warden ging voraus und betrat die Veranda, die unter seinen Füßen knarzte. Angespannt hielten wir den Atem an, aber niemand kam, um nachzus
ehen, was los war. Ich gab Warden Rückendeckung, während er sich daranmachte, das Schloss zu knacken. Nach ein paar Sekunden sprang die Tür mit einem Klicken auf und gewährte uns Zugang ins Innere.
Die Hütte war verlassen. Sie war so klein und überschaubar, dass ein einziger Blick genügte, um festzustellen, dass sich hier niemand aufhielt.
Ich ließ meine Waffen sinken. »Irgendetwas stimmt hier nicht.«
Warden nickte und steckte seine Machete weg.
Langsam durchquerte ich die Hütte, die aus einem einzigen großen Raum und einem angrenzenden Badezimmer bestand, ganz ähnlich wie unsere Zimmer im Quartier. Allerdings wirkte dieses kleine Häuschen im Vergleich zur Zentrale der Hunter vollkommen unbewohnt. Auf dem Bett in der Ecke lagen weder Kissen noch eine Decke, die Küchenzeile war so sauber, als wäre sie ein Ausstellungsstück, und auch sonst gab es keine Gegenstände, die einen Hinweis darauf hätten geben können, ob sich manchmal jemand hier aufhielt. Weder Fotos noch Bücher oder sonstige Habseligkeiten. Einzig und allein der Kühlschrank war eingeschaltet und summte leise vor sich hin.
Warden ging zielstrebig darauf zu.
»Ich schwöre, wenn da Jules’ Leiche drin ist, raste ich aus«, versuchte ich es mit einem Scherz.
Warden öffnete den Kühlschrank. »Entwarnung, kein Jules.«
»Aber?«
»Jede Menge Blut.« Er machte einen Schritt beiseite, sodass ich die dunkelroten Konserven sehen konnte, die sich darin stapelten. Warden nahm eine Packung heraus und inspizierte sie. »Die wurde vom Roten Kreuz geklaut.«
»Mach ein Foto, vielleicht können wir die Spur zurückverfolgen.«
Warden holte sein Handy hervor und machte sich daran, Bilder von einigen der Beutel aufzunehmen, während ich mich weiter in der Hütte umsah. Irgendjemand musste hier leben, anderenfalls gäbe es keinen Bedarf an solch einer Menge Blut. Aber wo war der dazugehörige Vampir? Und warum lebte er hier, in dieser Einöde? Schließlich gab es hier nichts, keinen Fernseher, noch nicht einmal ein Paket Spielkarten konnte ich finden.
Genervt ließ ich mich auf einen der Stühle am Esstisch plumpsen, der mit einem lauten Knarzen unter mir nachzugeben drohte. Hastig sprang ich wieder auf die Beine. »Huch!«
Warden sah auf. »Ist alles in Ordnung?«
»Ja, ich dachte gerade nur, dass der Stuhl zusammenbricht.« Ich ging auf die Knie, um das Möbelstück zu inspizieren. Durch das tägliche Training wog ich für meine Größe zwar ziemlich viel, aber doch nicht so viel! Allerdings erkannte ich in diesen Moment, dass nicht der Stuhl unter meinem Gewicht nachgegeben hatte, sondern der komplette Boden. »Warden, das solltest du dir anschauen.«
Er schloss den Kühlschrank und kam zu mir.
Ich deutete auf die Kerben im Holz. Es sah aus, als hätte sich der Boden um den Stuhl herum leicht abgesenkt, aber nicht zufällig. Dafür waren die Kanten zu scharf und glatt. Jemand hatte an dieser Stelle ein Loch gesägt.
Ich richtete mich auf und zückte erneut meine Khukuri. Mit einem Nicken gab ich Warden zu verstehen, dass ich bereit war.
Er griff nach dem Stuhl, um ihn anzuheben, aber es ging nicht. Die Beine waren am Boden festgenagelt. Allerdings ließ sich der Stuhl zur Seite kippen, sodass eine Öffnung im Boden freigegeben wurde. Eine Luke, um genau zu sein, mitsamt einer Leiter, die in die Tiefe führte.
»Na, sieh mal einer an.« Warden beugte sich vor, um einen Blick in das Loch zu werfen, an dessen Ende eine Lampe brannte. Jedoch war nicht zu erkennen, was oder wer genau sich dort unten befand.
Die Härchen an meinen Armen richteten sich auf, dennoch kletterte ich in das Loch, bevor Warden mich aufhalten konnte. Langsam stieg ich die Stufen hinab, um so wenig Lärm wie möglich zu erzeugen, wobei ich immer wieder innehielt, um auf verdächtige Geräusche zu lauschen. Auf den letzten Metern zog ich meine Klinge für den Fall, dass am Ende der Leiter eine böse Überraschung auf mich wartete.
Aber es gab kein nach Blut dürstendes Empfangskomitee, und ich stand auch nicht in einer Folterkammer oder in Isaacs Wohnzimmer.
Warden sprang die letzten Stufen herunter und landete neben mir auf dem Boden. »Was ist das hier?«
»Gute Frage. Sieht aus wie ein Labor«, erwiderte ich.
Das grelle Licht der Neonleuchten spiegelte sich auf den glänzenden Metalloberflächen wider, die den ganzen Raum einzunehmen schienen. Überall standen komplex aussehende Maschinen aus Edelstahl, und ich entdeckte mehrere Reagenzgläser, die mit Flüssigkeiten in den unterschiedlichsten Farben gefüllt waren. An einer Wand hingen Kittel, die alle die gleiche Größe hatten, und es roch klinisch sauber, als wären wir in einen Topf mit einer Mischung aus Desinfektionsmittel und Raumerfrischer gefallen. Darunter schwang eine feine Note von Rosmarin mit, aber es schienen keine Vampire mehr hier zu sein. Dennoch ließ ich mein Khukuri nicht los, als ich mich weiter vorwagte, um das Labor genauer zu inspizieren.
Auf einem Schreibtisch lag ein Block mit unleserlichen Notizen und auch ein Laptop stand dabei, der allerdings mit einem Passwort gesichert war. Aus Angst, einen Alarm auszulösen, unternahm ich keinen Versuch, mich einzuloggen. Was für Passwörter benutzten Vampire überhaupt? Blut4ever? BloodyValentine? Buffyistscheiße?
»Noch ein Kühlschrank voller Blut«, sagte Warden und ließ die Tür, die er geöffnet hatte, wieder zufallen. In seiner schwarzen Montur, mit den Macheten auf dem Rücken und den Dolchen an der Hüfte, wirkte er an einem Ort wie diesem völlig fehl am Platz. Skeptisch nahm er ein Reagenzglas aus einer der Maschinen und beäugte die darin enthaltene klare Flüssigkeit. »VS-19–124«, las er von der Beschriftung ab. »Klingt irgendwie nach einem Impfstoff.«
»Was glaubst du –«
Meine Frage wurde von einem Fauchen unterbrochen. Ich wirbelte herum, aber da war es bereits zu spät. Ein Vampir war wie aus dem Nichts aufgetaucht und stürzte sich auf Warden.
Warden
Ich hörte das Fauchen, aber mir blieb keine Zeit zu handeln. Mit voller Wucht wurde ich zu Boden gerissen.
Mir blieb die Luft weg, und das Reagenzglas in meiner Hand zerplatzte neben meinem Kopf, während der Vampir mit scharfen Fängen nach mir schnappte. Seine Klauen hatten sich um meinen Hals gelegt. Röchelnd kämpfte ich gegen seinen Griff an und packte seine Handgelenke, um wieder besser atmen zu können.
»Was macht ihr hier?«, zischte der Vampir. Schwarze Adern durchzogen seine Haut, und seine Augen hatten die Farbe von Blut angenommen. Er sah aus wie jeder andere Vampir im Rausch des Kampfes, doch trotz der entstellten Gesichtszüge kam mir etwas an ihm erschreckend vertraut vor. Die braunen Haare, die tief sitzenden Augenbrauen, die Narbe an seiner Wange, von der ich wusste, dass sie von einem Sturz mit dem Fahrrad stammte, als er neun Jahre alt gewesen war …
Ich erstarrte.
Unmöglich.
Er konnte nicht …
»Da… Dad?« Meine Stimme war nur ein heiseres Krächzen dank der Klauen, die meinen Hals umschlossen. Fassungslos starrte ich in das Gesicht, das ich seit drei Jahren nicht mehr gesehen hatte und das mir so vertraut und fremd zugleich war. »Dad, lass mich los«, presste ich hervor, während ich hustend versuchte, seine Hände von meinem Hals zu schieben.
Doch er hörte nicht auf mich. Und noch mehr als der Druck seiner Finger auf meiner Kehle schmerzte das Wissen, dass er mich ganz offenbar nicht wiedererkannte. Oder es ihm einfach egal war. Er fletschte die Zähne, seine Fänge gut sichtbar.
Plötzlich sah ich eine Bewegung hinter meinem Dad.
Cain.
»Nein!«, keuchte ich, so laut es mir nur irgendwie möglich war, dann hakte ich ein Bein um die Hüfte meines Dads und hebelte uns herum, sodass ich auf ihm zu liegen kam.
Einen kurzen Augenblick lockerte er seinen Griff, doch bereits einen Herzschlag später packte er wieder zu. Allerdings konnte er nun, da ich über ihm aufragte, weniger Kraft ausüben.
Ich packte seine Unterarme. Seine Haut fühlte sich merkwürdig kühl unter meinen Fingern an. Er musste aufhören, anderenfalls ließ er mir keine andere Wahl …
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bsp; »Hand!«, war alles, was ich noch hervorbrachte.
Ein anderer Hunter, der mich weniger gut kannte, hätte mich vermutlich nicht verstanden. Doch das hier war Cain. Blitzschnell befestigte sie die eine Seite einer Handschelle am Handgelenk meines Dads, bevor sie mit aller Kraft daran zerrte, bis sie es schaffte, seine Klaue von meinem Hals zu reißen. Dann befestigte sie den anderen Teil der Handschelle an einem der Metallschränke.
Mein Dad zerrte daran, versuchte sich loszureißen. Reagenzgläser stürzten um, aber der Schrank blieb fest in der Wand verankert. Fauchend und zähnefletschend schnappte er nach mir, aber er war machtlos.
»Danke«, krächzte ich, bevor ich mich vom Boden aufrappelte und nach meinem Hals tastete. Ein pochender Schmerz pulsierte an der Stelle, an der die Krallen mich erwischt hatten, und als ich einen Blick auf meine Finger warf, sah ich, dass sie blutverschmiert waren.
»Geht es dir gut?«, fragte Cain. Sie war vor Schreck beinahe so atemlos wie ich.
Ich nickte, obwohl sich meine Kehle wund anfühlte, und betrachtete den Vampir. Mein Herz raste, während ich zu begreifen versuchte, was meine Augen längst erkannt hatten.
Der Vampir – mein Dad – funkelte Cain und mich wütend an. Seine Fänge waren deutlich sichtbar. »Macht mich los«, zischte er.
Langsam sickerte die Erkenntnis, was vor drei Jahren wirklich geschehen war, in meinen Verstand. Isaac hatte meinen Dad nicht getötet, sondern entführt und verwandelt. Natürlich hatte ich damals schon an diese Möglichkeit gedacht, aber sie schnell wieder verworfen. In Isaacs Augen war die Verwandlung ein Akt der Gnade, von der ich nicht erwartet hätte, dass er sie einem Verbündeten der Hunter zukommen lassen würde. Doch offensichtlich hatte ich mich geirrt.
»Warden?« Cain berührte mich sanft am Arm. »Ist wirklich alles in Ordnung?«
»Mit mir schon, aber … erkennst du ihn nicht?«, fragte ich, ohne mich von meinem Dad abzuwenden, der noch immer gegen seine Fesseln ankämpfte.
Midnight Chronicles 02 - Blutmagie Page 28