Ich näherte mich den beiden, doch ohne Deckung bemerkte Jules mich sofort. Er wich noch einem Hieb von Warden aus, dann war er erneut bei mir. Doch diesmal konnte er das Überraschungsmoment nicht für sich nutzen. Ich duckte mich unter seinen Armen hindurch und trieb in der nächsten Sekunde meinen Ellenbogen zwischen seine Schulterblätter. Als er nach vorn stolperte, rammte ich ihm mein Khukuri in die Leiste.
Jules brüllte auf.
Tut mir leid, dachte ich.
Er riss die Klinge aus seinem Fleisch und ging nun damit auf mich los. Ich fing seinen Arm ab, packte ihn fest und drehte sein Gelenk herum, bis ihm nichts anderes übrig blieb, als die Waffe fallen zu lassen. Doch bereits im nächsten Moment kollidierte die Faust seiner anderen Hand mit meiner Nase. Schmerz explodierte in meinem Gesicht, als die Knochen brachen.
»Cain!«, hörte ich Warden brüllen.
Mein verschwommener Blick zuckte zu ihm. Er stand in Jules’ Zelle, seine Handschellen bereit. Ich begriff sofort, was sein Plan war, und verpasste Jules einen heftigen Tritt in den Magen. Er geriet ins Taumeln, ohne jedoch sein Gleichgewicht zu verlieren. Unerbittlich setzte ich noch einen Hieb nach, der ihn geradewegs gegen seine Zelle beförderte. Blitzschnell fasste Warden durch die Eisenstäbe, und bevor Jules erneut auf mich losgehen konnte, schloss sich eine der Handschellen um seinen Arm. Er wirbelte zu Warden herum, aber dieser ließ bereits die zweite Schelle am Gitter einrasten und machte einen Satz zurück.
Jules riss an den Handschellen. Kurz fürchtete ich, dass das Material seiner enormen Stärke nicht standhalten würde, aber das tat es. Zumindest für den Augenblick. Er stieß ein wütendes Knurren aus. Sein zorniger Blick landete auf mir, und er ging erneut auf mich los. Doch die Fesseln hielten ihn zurück, sodass er mich nicht zu fassen bekam. Zähnefletschend starrte er mich an.
Ich starrte zurück, in das verzerrte Gesicht meines Cousins, meines Kampfpartners, meines Freundes. Was hatten Isaac und James nur aus ihm gemacht?
»Das erklärt, wieso sich sein Amulett gelöst hat«, sagte Warden. Er war mit deutlichem Abstand zu Jules aus der Zelle getreten und stand nun neben mir. Sein T-Shirt war an einigen Stellen zerfetzt. Er hatte ein blaues Auge und unzählige Kratzer am Körper, als wäre er in eine Grube mit wild gewordenen Katzen gestürzt.
Ich wischte mir mit dem Unterarm das Blut von der Nase. »Etwas stimmt nicht mit ihm.«
»Du meinst abgesehen davon, dass er ein Vampir ist?«
»Ja, riechst du es nicht?«
»Was?«
»Da ist nichts. Er hat keinen Geruch.«
Warden runzelte die Stirn. »Jetzt, wo du es sagst …«
»Seine Fänge sind auch viel zu lang«, fügte ich hinzu. Und warum hielt James ihn hier fest? Aus welchem Grund sollte Isaac seine eigenen Leute einsperren?
»Vielleicht liegt es daran, dass er ein Grim Hunter ist?«
»Vielleicht«, erwiderte ich skeptisch, ohne den Blick von Jules abzuwenden, der noch immer fauchte und knurrte und versuchte, sich von seinen Fesseln loszureißen, um uns zu töten. Es war ein abscheulicher Anblick, der mir den Magen umdrehte, und beinahe wünschte ich mir, nicht hergekommen zu sein. Doch zumindest hatte ich jetzt Gewissheit, und die war auch etwas wert. Oder?
Warden
Erst mein Vater. Und jetzt Jules. Womöglich war ich gestorben und Kevin hatte mich in die Unterwelt gezerrt, und das alles waren nur Visionen des Grauens, die mich bis in die Ewigkeit foltern sollten. Wenn dem so war, hätte es mich nicht gewundert, wenn auch Cain sich gleich verwandelte, auch wenn sie als Blood Huntress resistent gegen Vampirbisse war. Oder es zumindest sein sollte.
Mein Blick fiel auf die Bisswunde an ihrem Hals. Sie war blutüberströmt, aber es schien ihr gleichgültig zu sein. Sie hatte nur Augen für Jules.
»Wir müssen ihn ins Quartier bringen.« Ihre Worte klangen dumpf, was vermutlich an ihrer gebrochenen Nase lag, die man ihr auf der Krankenstation würde richten müssen. »Vielleicht kann uns dort jemand erklären, wieso er anders ist als die anderen Vampire.«
»Soll ich deine Mum anrufen?«
Cain presste die Lippen aufeinander und nickte, auch wenn es ihr sichtlich schwerfiel. Mein Dad und Jules waren nun Vampire. Die Feinde. Und es bestand durchaus die Möglichkeit, dass die anderen Hunter sie töten würden. Aber was hatten wir für eine Wahl? Wir konnten sie nicht selbst erledigen, keiner von uns beiden könnte sich dazu überwinden. Und einfach gehen lassen konnten wir sie auch nicht, denn dann trügen wir die Mitschuld am Tod jedes Menschen, den sie von nun an umbrachten.
Ich holte mein Handy hervor. »Mist, kein Empfang. Ich geh mal –«
Ich wurde von einem lauten Knall unterbrochen, der mich zusammenzucken ließ. Ich riss den Kopf hoch, doch es war nicht Jules, der den Laut verursacht hatte. Das Geräusch kam aus dem vorderen Bereich.
Cain und ich wechselten einen flüchtigen Blick, dann stürzten wir aus dem Gefängnis, durch die Kühlkammer mit den Leichen und den Lagerraum zurück ins Labor.
»Scheiße«, fluchte ich und rannte zu dem Schrank, an den Cain meinen Dad gefesselt hatte.
Er war nicht mehr da – zumindest nicht alles von ihm. Die Handschellen baumelten noch am Schrank, doch von meinem Dad war nur die linke Hand zurückgeblieben, die er sich offenbar selbst abgetrennt hatte.
»Was zum Teufel …«, raunte Cain neben mir und starrte fassungslos auf die leblose Hand, die vor uns auf dem Boden lag.
»Bleib du bei Jules, ich versuche ihn einzuholen«, sagte ich und stürzte los.
»Warden!«
Ich hielt inne und sah zu Cain.
»Nimm die hier mit.« Sie warf mir die Handschellen zu, die sie vom Schrank gelöst hatte.
Ich fing sie auf und rannte zur Leiter, an deren Ende es dunkel war. Mein Dad hatte nicht nur das Licht mitgenommen – er hatte auch die Luke geschlossen. Ich drückte dagegen, aber sie öffnete sich nicht. Fuck, er musste etwas darauf geschoben haben. Mit aller Kraft stemmte ich mich gegen das Holz. Ich drückte, bis meine Muskeln zitterten und mein Kopf vor Anstrengung zu pochen begann.
Endlich rührte sich die Klappe. Die ersten Millimeter waren die schwersten, danach ging es leichter. Ich biss die Zähne zusammen, und mit einem letzten Ruck öffnete ich den Durchgang. Was immer ihn versperrt hatte, stürzte zu Boden. Ich kletterte in die Hütte, zog meine Machete hervor und folgte der Spur aus Blut in den Wald.
Die roten Flecken machten es mir leicht, meinem Dad zu folgen. Doch je weiter ich mich von der Hütte entfernte, umso kleiner wurden die Sprenkel aus Blut und umso dichter wurde der Geruch nach feuchtem Laub. Ich ging langsamer, atmete tief ein und folgte der Rosmarin-Note, die nur noch als Hauch in der Luft lag. Hektisch sah ich mich nach Hinweisen um, aber ich war nun mal kein verdammter Pfadfinder. Trotzdem lief ich weiter.
Nach gut einer Meile musste ich mir eingestehen, dass ich die Spur verloren hatte. Ich blieb stehen. Eine kühle Brise erfasste mich. Die Härchen in meinem Nacken stellten sich auf, und meine Hände ballten sich zu Fäusten. Am liebsten hätte ich meinen Frust in die Welt hinausgeschrien. Ich konnte es nicht glauben. Ich hatte meinen Dad eben erst gefunden und schon wieder verloren. Am liebsten wäre ich noch tiefer in den Wald gestampft, um seine Fährte womöglich wiederzufinden, aber ich wollte Cain nicht länger mit Jules allein lassen.
Mit einem Seufzen zog ich mein Handy hervor. Zum Glück war der Empfang zurück. Ich rief Cains Mum an, deren Nummer ich seit über drei Jahren nicht mehr gewählt hatte.
»Warden?«, erklang ihre überraschte Stimme.
Ich schluckte. »Hallo, Lillian.«
»Ist alles in Ordnung?«
»Nein. Cain und ich … wir haben Jules gefunden.«
28. KAPITEL
Warden
Wenn Blicke töten könnten, hätte mein Herz längst aufgehört zu schlagen bei der Art und Weise, wie mich Cains Dad ansah, als ich Grants Büro betrat. Ich konnte mich noch an eine Zeit erinnern, in der Andrew mich gemocht hatte, aber das war gewesen, bevor ich Cain zu mir auf die du
nkle Seite gezogen hatte und bevor wir miteinander geschlafen hatten. Zugegeben, davon wusste ihr Dad nichts, aber für jeden mit Augen im Kopf war ziemlich offensichtlich, dass das zwischen uns nichts Platonisches mehr war. Und wir gaben uns auch keine Mühe, es zu verbergen.
»Hey«, begrüßte ich Cain, die an der Wand lehnte, da es nicht genügend Sitzplätze gab.
Sie verzog die Lippen zu einem Lächeln, doch es wirkte freudlos. Dunkle Schatten lagen unter ihren Augen.
In den letzten Nächten hatten wir beide nicht viel Schlaf bekommen. Grant und den anderen zu erzählen, was wir die letzten Wochen getrieben hatten, war kein Vergnügen gewesen, und im Anschluss hatten wir eine Expedition zur Hütte im Wald angeführt.
»Wie geht es deinem Hals?«, fragte ich und strich ihr sanft das Haar von der Schulter. Die Bisswunde hatte sich geschlossen, aber die Narben waren deutlich sichtbar und leicht entzündet. Bei normalen Verletzungen geschah dies nur selten, aber Vampire hatten etwas in ihrem Speichel, das gegen unsere Heilfähigkeit arbeitete.
»Es wird jeden Tag besser.«
Ich nickte. Das war die erste gute Nachricht seit unserem Fund.
»Und wie geht es dir?«
Ich zuckte mit den Schultern. Darauf hatte ich keine Antwort. Im Moment gab es dafür einfach noch zu viele ungeklärte Fragen und zu wenig Zeit, um meine Gedanken zu sortieren. Und wenn ich ehrlich war, war ich mehr als dankbar für die Ablenkung, die mich davon abhielt, wach in meinem Bett zu liegen. Dafür verzichtete ich gern auf Schlaf.
»Lasst uns anfangen«, verkündete Grant. Er saß hinter seinem Schreibtisch, eine Cola-Dose in der Hand, dennoch sah er genauso müde und erschöpft aus, wie ich mich fühlte. Nein, wie wir uns vermutlich alle fühlten nach den Erkenntnissen der letzten Tage. »Wayne, was hast du zu berichten?«
Wayne, der am Schreibtisch gelehnt hatte, richtete sich auf. Er war einer von zwölf Huntern, die an dieser Besprechung teilnahmen. Neben Grant, Cain und mir waren auch Cains und Jules’ Eltern anwesend sowie die anderen Leiter der Magic, Soul und Blood Hunter und Dr. Kivela von der Krankenstation.
»Wir haben die Region um das Labor weiträumig abgesucht«, berichtete Wayne. Dabei sah er nicht Grant an, sondern mich. Er hatte die Suchtrupps organisiert und war auch derjenige gewesen, der mir zugesichert hatte, dass sie versuchen würden, meinen Dad lebend zu fangen. »Aber es gibt keine Spur von James, und vermutlich werden wir ihn auch nicht mehr finden, weshalb ich einen Rückzug für die beste Strategie halte. Sein Labor scheint ihm viel bedeutet zu haben. Wenn er glaubt, dass die Luft rein ist, kommt er vielleicht zurück.«
»Du redest von einem Hinterhalt«, schlussfolgerte Grant.
»Ja, ich würde sämtliche Leute abziehen und versteckte Kameras in der Umgebung anbringen. Im Labor selbst würde ich drei oder vier Hunter stationieren. Diese müssten dort allerdings auf unbegrenzte Zeit leben. Sollte James die Hütte beobachten, darf dort keine Bewegung stattfinden.«
Grant ließ Waynes Strategie auf sich wirken, bevor er schließlich nickte. »Einverstanden. Du hast bis heute Abend, um vier Freiwillige zu finden, aber ich will, dass du hierbleibst. Wir wissen nicht, wann deine Fähigkeiten als Soul Hunter gebraucht werden.«
Automatisch trat ich einen Schritt vor, wobei ich eine leichte Gegenbewegung spürte, als versuchte Cain, mich zurückzuziehen. »Ich würde mich dieser Mission gern anschließen.«
Grant schüttelte den Kopf. »Kommt nicht infrage, du bist in der Sache befangen. Wir können niemanden gebrauchen, der zwischen den Stühlen steht, sollte es zu einem Kampf kommen.«
Das konnte er nicht ernst meinen, oder?
»Ich würde mich niemals gegen die Hunter stellen.«
»Tut mir leid, Warden. Du hast in der Vergangenheit leider zu oft bewiesen, dass man sich nicht auf dich verlassen kann. Du bleibst hier, Ende der Diskussion«, sagte Grant mit seiner entschlossensten Stimme. »Ihr zwei könnt ohnehin von Glück reden, dass ich euch für euer rücksichtsloses Verhalten nicht in den Arrest habe sperren lassen, also provoziert mich lieber nicht.«
Ich presste die Lippen aufeinander, um mich davon abzuhalten, noch etwas zu sagen. Ginge es nur um mich, hätte ich die Anschuldigungen nicht auf mir sitzen lassen, aber ich wollte nicht, dass mein Handeln Cain schadete. Und einmal im Arrest, wären wir vollkommen von dem abgeschottet, was um uns herum – und auch mit Jules – passierte. Das konnte ich Cain nicht antun, denn im Gegensatz zu dem, was Grant von mir dachte, konnte man sich auf mich verlassen. Ich hatte nur eine Abneigung gegen bescheuerte Regeln.
»Maëlle, konntet ihr inzwischen etwas herausfinden?« fuhr Grant fort.
Dr. Kivela trat vor. Ich hatte die Ärztin noch nie ohne Stethoskop und weißen Kittel gesehen, aber für die Besprechung hatte sie beides abgelegt. Das graue Haar trug sie zu einem Knoten gebunden. Man sah ihr deutlich an, dass sie die letzten Nächte ebenfalls durchgemacht hatte. »Ja, den Archivaren ist es gelungen, James’ Laptop zu hacken.«
»Und?«
Dr. Kivela verzog die Lippen auf eine Weise, die deutlich zeigte, dass uns nicht gefallen würde, was sie als Nächstes zu sagen hatte. »Wir haben Belege dafür gefunden, dass die Zahl der existierenden Vampire immer weiter sinkt. Es ist eine natürliche Entwicklung, da jeder Vampir nur einen weiteren erschaffen kann und die Hunter in den letzten dreißig, vierzig Jahren immer effektiver geworden sind. Offenbar will Isaac dagegen angehen, weshalb er James nach seiner Verwandlung damit beauftragt hat, ein Mittel zu finden, das Menschen verwandelt, ohne dass ein Biss nötig ist. Grundlage dafür war James’ Forschung an einem Impfstoff, um Vampirismus zu verhindern oder sogar umzukehren. Es liegt die Vermutung nahe, dass diese Forschung der Grund dafür war, dass Isaac James vor Jahren überhaupt angegriffen und verwandelt hat.«
Bei den letzten Worten wanderte der Blick der Ärztin in meine Richtung, und es war, als würde ein Stromstoß durch meinen Körper fahren. Wir hatten uns nie erklären können, weshalb die Vampire scheinbar aus dem Nichts ins Haus meiner Eltern eingefallen waren und warum Isaac persönlich dort erschienen war. Doch wenn er wirklich Wind von der wissenschaftlichen Arbeit meines Vaters bekommen hatte, ergab das alles plötzlich Sinn. Wäre es meinem Dad gelungen, das Mittel fertigzustellen, gäbe es inzwischen wohl kaum noch Vampire und Isaac wäre so gut wie entmachtet. Dass er Dads Wissen nun für seine Zwecke einsetzen konnte, war vermutlich nur ein Bonus.
»Ist es das, was sie meinem Jules angetan haben?«, fragte Olivia mit zittriger Stimme. Sie saß neben Cains Mutter auf einem der Stühle vor Grants Schreibtisch. Lillian hielt ihre Hand. Ihr Mann Charles stand direkt hinter ihr. Das Entsetzen angesichts dessen, was sie soeben gehört hatten, stand auch ihm ins Gesicht geschrieben.
»Bedauerlicherweise ja«, antwortete Dr. Kivela. »Aus den Aufzeichnungen, die wir gefunden haben, geht hervor, dass James bereits seit circa drei Jahren an dem Serum arbeitet und es schon knapp zweihundert Testobjekten injiziert hat, vor allem Obdachlosen. Sie sind alle daran gestorben. Jules ist der Erste, der die Injektion und die damit verbundene Verwandlung überstanden hat.«
»Wissen wir, warum er es überlebt hat?« Die Frage kam von Cain, die bisher sehr still gewesen war. In ihrem Blick spiegelte sich nichts als eiserne Entschlossenheit.
»Nein, daran hat James noch geforscht. Er hat anscheinend versucht herauszufinden, wie er den Effekt dauerhaft herbeiführen kann«, erklärte Dr. Kivela mit verschränkten Armen. »Inzwischen ist es uns auch gelungen, eine Blutprobe von Jules zu nehmen, um sie genauer zu untersuchen.«
Olivias Stimme klang zittrig. »Wie geht es ihm?«
»Den Umständen entsprechend«, antwortete Wayne. »Dr. Kivela hat ihre Verbindungen genutzt, um uns Blutkonserven zu beschaffen, und solange er kooperiert, darf er sich frei in seiner Zelle bewegen.«
»Wann dürfen wir ihn sehen?«, erkundigte sich Charles.
Wayne sah fragend zu Dr. Kivela.
Sie seufzte. »Jules hat sich beruhigt, und wir haben unsere Proben. Ich denke, er kann nun besucht werden, allerdings haben wir ihn noch nicht zum
Reden gebracht. Außerdem sollte euch bewusst sein, dass Jules nicht mehr der ist, den ihr als euren Sohn kanntet. Er ist jetzt ein Vampir.«
Erneut drang ein Schluchzen aus Olivias Kehle.
Cains Mum lächelte ihre Schwester traurig an, bevor sie sich ebenfalls an Dr. Kivela wandte. »Gibt es schon Pläne, was mit ihm passieren soll?«
»Nein. Eine solche Situation ist für uns völlig neu, wir gehen es Schritt für Schritt an. Aber ich kann euch versichern, dass wir Jules und das, was er für uns bedeutet hat, respektieren und ihn in keiner Phase unnötig werden leiden lassen. Über eine Entscheidung werden alle Anwesenden in diesem Raum natürlich rechtzeitig informiert.«
Übersetzt bedeutete das, dass Jules gerade in seiner Todeszelle saß, wenn kein Wunder passierte und wir meinen Dad fanden. Ich kannte die Unterlagen zu seiner Forschung und er hatte mir viel beigebracht, aber diese ganze Sache überstieg meine Fähigkeiten, mein Wissen und mein Können um Längen. Was meinen Dad zur einzigen Person machte, der es gelingen könnte, ein Mittel zu schaffen, um Jules von seinem Vampirismus zu heilen. Falls er das überhaupt wollte.
Cain
Nervös knetete ich die Blutkonserve in meiner Hand, doch ich befahl mir, damit aufzuhören, bevor die Verpackung zwischen meinen Fingern platzte. Die Besprechung mit Grant und den anderen lag fünf Stunden zurück, und seit ebenso langer Zeit versuchte ich den Mut zu fassen, Jules zu besuchen.
Zwei Tage waren vergangen, seit Warden und ich ihn in James’ Labor gefunden hatten. Seitdem hatte ich ihn nicht mehr gesehen, obwohl ich kaum an etwas anderes denken konnte, aber ich hatte auch Angst. Nicht vor Jules selbst – trotz der Verletzungen, die er mir zugefügt hatte –, sondern vor meinen Gefühlen und der neuen Realität.
Shit.
Das nervöse Flattern in meiner Brust verstärkte sich. Ich presste eine Hand auf die Stelle, unter der mein Herz heftig klopfte, und versuchte mich zu beruhigen, um den Mut und die Gelassenheit zu finden, die ich den anderen vorspielte. Weil ich nicht wollte, dass man mich wegen meiner aufbrausenden Gefühle wieder ausschloss so wie nach Jules’ Verschwinden. Tatsächlich war ich überrascht gewesen, wie leicht Grant Warden und mich hatte davonkommen lassen. Aber womöglich hatte er einfach großes Mitleid mit uns und dem Schicksal, das den Menschen, die wir liebten, widerfahren war.
Midnight Chronicles 02 - Blutmagie Page 30