Die Sterne werden fallen

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Die Sterne werden fallen Page 3

by Kiefer, Lena


  »Raus aus den Federn!«, brüllte er hinein. »In fünfzehn Minuten ist Abfahrt.« Er drehte sich um und stockte, als er sah, dass ich allein am Ofen saß. »Scale, was machst du hier?«

  »Ich konnte nicht schlafen«, sagte ich nur. »Was ist denn los?« Hoffentlich keine schlechten Nachrichten – für Maraisville.

  Milan musterte mich und das Misstrauen in seinem Blick beschleunigte meinen Puls. Es war das erste Mal, dass er mich so ansah. So, als hätte ich etwas zu verbergen.

  »Nichts Besonderes«, erwiderte er dann. »Wir fahren runter nach Colmar. Wir haben dort einen Termin.«

  »Termin?« Wir hatten Aufträge und Zeitpläne, aber niemals Termine. »Mit wem?«

  »Erfährst du noch früh genug.« Er nickte mir zu. »Pack dein Zeug und ab auf den Wagen. Fünfzehn Minuten.« Damit stapfte er zurück zum ComContainer.

  Ich fragte nicht weiter, sondern gehorchte. Im Schlafcontainer war Jye mit verstrubbelten Haaren und müden Augen dabei, seine wenigen Habseligkeiten in einen Beutel zu stopfen.

  »Weißt du, was los ist?«, fragte er mich.

  »Keine Ahnung. Wir fahren nach Colmar, angeblich wegen eines Termins.« Ich griff nach meinem eigenen Sack. Wenn wir die Sachen offen herumliegen ließen, wurden sie beim Transport der Container in der Gegend herumgeschleudert und landeten irgendwann auf dem schlammverkrusteten Boden. Seit wir das wussten, packten wir sie vorher zusammen.

  »Einen Termin? Mit wem?« Jye sah genauso ratlos aus wie ich.

  »Das weiß ich nicht. Aber es scheint wichtig zu sein.« Besorgt verzog ich das Gesicht. Wollte man unserem Leader dort mitteilen, dass der Angriff auf das Windkraftwerk erfolglos gewesen war? Oder ihn befragen, wieso er keinen der Aufträge der letzten vier Wochen zu einem Erfolg hatte führen können? Die Freischaltung der Infrastruktur für die OmnI war so vielen Variablen unterworfen, dass man unserem Team bisher kein Versagen angelastet hatte – schließlich konnte es immer noch an fehlenden MerchPoints liegen, dass die KI keinen Zugang bekam. Aber ich wusste, dass ich ständig Gefahr lief, an die Wand gestellt zu werden. Die Verantwortung für die Anpassung der Hard- und Software lag bei mir. Wenn man mir nachweisen konnte, dass ich sie manipuliert hatte, war ich geliefert.

  »Mach dir keine Sorgen. Es hat sicher nichts damit zu tun.« Jye strich mir über den Arm und ich nickte.

  »Hoffen wir es.«

  Die Fahrt in dem offenen Transporter fühlte sich an, als würde man in einem Tiefkühlfach durch die Landschaft gekarrt. Das war aber immer noch besser, als in dem Schlafcontainer ohne Fenster zu fahren. Beim ersten Mal war ich noch anderer Meinung gewesen, aber mein Magen hatte mich schnell eines Besseren belehrt.

  Wie meistens, wurde im Wagen nicht geredet. Anders als früher bei ReVerse gab es nun keine Freundschaften mehr, nur noch Allianzen. Wurde einer von uns getötet, kam jemand Neues dazu und wurde mit einem Nicken und einem Schulterzucken begrüßt. Man versuchte nicht, die anderen kennenzulernen. In dieser neuen Welt kämpfte jeder nur für sich selbst.

  Nachdem ich vor acht Monaten Brighton verlassen hatte und in Maraisville angekommen war, hatte sich die Welt draußen ohne mich weitergedreht – genauso wie dann später auf der Insel im Hauptquartier von ReVerse. Normale Menschen, normale Städte, so etwas hatte ich all die Zeit nicht gesehen. Aber an dem Tag, als Costard uns die Pläne für seine Machtübernahme präsentiert hatte, war die Welt da draußen wieder real geworden. Wir hatten die Insel verlassen und waren in Teams eingeteilt worden, die seitdem durch Europa reisten. Ein Europa, das immer weniger an seinen König glauben wollte – oder daran, dass er Gutes im Sinn hatte.

  Ich sah durch einen Spalt in der Plane nach draußen und registrierte die vielen kleinen Städte, an denen wir vorbeikamen. Sie waren auf den ersten Blick unberührt, vielleicht sogar idyllisch, aber ich wusste es besser. Überall, selbst im kleinsten Dorf, regte sich dieser Tage der Widerstand gegen das Regime des Königs. Noch gab es keine offenen Kämpfe beider Seiten, aber mein Gefühl sagte mir, dass es bis dahin nicht mehr lange dauern würde. Die Nachricht, dass es jemanden gab, der den Menschen die Technologie zurückbringen konnte, hatte sich schneller verbreitet als das fatalste Virus. Und nun regte sich Hoffnung, eine falsche und trügerische Hoffnung auf ein freies Leben. Die Menschen ahnten nicht, dass sich hinter dieser Fassade der eigene Untergang verbarg und wie gefährlich, wie tödlich die OmnI sein konnte. Genau wie ich nichts davon gewusst hatte, als die Abkehr damals über mich hereingebrochen war.

  Wir fuhren einige Kilometer abseits der Straßen, dann reihten wir uns zwischen mehreren TransUnits ein, die sich durch die schmalen Gassen einer Stadt schlängelten. Die Häuser sahen alt aus und waren mit Fachwerk verziert, aber sie hatten ihre besten Tage hinter sich – die Fassaden waren rissig und schmutzig, die Farben längst verblasst. Manche der Bewohner beäugten misstrauisch unseren Konvoi, ihre Augen huschten über die Container und Planen, als würden sie nach der Lilie suchen. Ich wusste nicht, was schlimmer war: dass sie von Costard und der OmnI tatsächlich bedroht wurden, ohne es zu wissen, oder dass sie uns für Abgesandte des Königs und deswegen für gefährlich hielten. Am liebsten wäre ich vom Wagen gesprungen und hätte jeden Einzelnen von ihnen geschüttelt, um ihnen klarzumachen, wer tatsächlich der Feind war. Aber das konnte ich nicht.

  Die Stadt war bald durchquert, und wir befanden uns nun außerhalb, fuhren ein wenig bergauf. Ich erkannte auf einem der Hügel ein imposantes Haus mit Ziegeldach, altem Mauerwerk und einem Hang, an dem Wein angebaut wurde. Normalerweise campierten wir abseits der Städte und nicht in der Nähe von irgendwelchen Anwesen. Was also wollten wir dort?

  »Weiß jemand, was wir hier machen?«, fragte ich die anderen. Aber Torres und die Wulff-Brüder zuckten nur mit den Schultern, sie hatten keine Ahnung. Und auch Knox, der Milans Vertrauen mehr genoss als wir anderen, schüttelte den Kopf.

  Da hielten wir auch schon auf dem Vorplatz des Hauses und stiegen vom Wagen. Ich bewegte meine steifen Glieder und rieb mir die Arme. Mit einem schnellen Blinzeln aktivierte ich meine Links, damit Maraisville zuschauen konnte. Aber ich kam nicht dazu, mich umzusehen. Denn im nächsten Moment trat ein Mann aus dem Eingang und ich verspannte mich sofort wieder. Dass er hier war, bedeutete nichts Gutes.

  »Pünktlich auf die Minute«, sagte Exon Costard lächelnd, ohne dass er erfreut wirkte.

  »Mister Costard, Sir.« Milan schüttelte dem gefährlichsten Mann der Welt mit militärischer Härte die Hand. »Wir haben uns extra beeilt, um rechtzeitig hier zu sein. Wie können wir helfen?«

  »Euer Auftrag hier in der Nähe wird frühestens morgen stattfinden. Ihr könnt daher erst einmal hineingehen und euch aufwärmen. Auch für etwas zu essen ist gesorgt, höchstpersönlich von mir zusammengestellt.« Costards Augen glitten über die Anwesenden, bis sie an mir hängen blieben und aufleuchteten. »Ich möchte mit Ophelia sprechen.«

  »Mit Scale?« Milan runzelte die Stirn. Er ahnte nichts von meiner Verbindung zu Costard – oder zur OmnI. Alles, was er wusste, war, dass ich gut mit Technik umgehen konnte und versucht hatte, Leopold zu töten.

  »Ja, richtig. Ophelia und ich haben etwas sehr Wichtiges zu bereden.« Costard wies zur offenen Tür und das Team strömte ins Haus. So hart sie alle immer taten, ein paar Stunden in der Wärme und etwas Anständiges zu essen waren nach Wochen in der Kälte ein Geschenk des Himmels. Jye sah fragend zu mir, ich nickte leicht, und er folgte den anderen.

  »Hier entlang.« Costard trat ebenfalls hinein und dann durch einen Rundbogen in einen Gang, der uns von den staunenden und begeisterten Ausrufen des Teams wegführte. Offenbar hatte Costard nicht einfach nur ein paar Scheiben Brot und eine Packung Käse auf den Tisch gestellt.

  »Es wird nicht lange dauern«, sagte er zu mir. »Ich bin sicher, auch du freust dich auf etwas Richtiges zu essen.«

  Ich nickte. »Notrationen halten einen am Leben, aber sie schmecken nicht besonders gut.« Die faden Riegel mit allem, was der Körper zum Überleben brauchte, waren staubtrocken und nur mit viel Wasser überhaupt hinunterzuwürgen.

 
»Das tut mir leid.« Costards Tonfall entnahm ich, dass es ihm überhaupt nicht leidtat. »Unsere Mission muss vor allem effizient sein. Kulinarische Fragen stehen da nicht oben auf der Prioritätenliste.«

  »Natürlich.« Das wunderte mich kein bisschen. Die OmnI brauchte so etwas Irdisches wie Nahrung nicht. Warum hätte sie also dafür sorgen sollen, dass wir auf wohlschmeckende Art und Weise verköstigt wurden? Oder dafür, dass wir nicht ständig froren? Die Kleidungsproduktion war vermutlich das Letzte auf der Liste, was sie übernehmen würde.

  Costard blieb an einer Tür stehen und wies mir den Weg hinein. »Nach dir, Ophelia.«

  Ich trat in den Raum, ein Arbeitszimmer mit einem großen Schreibtisch, zwei Sesseln davor und einem dahinter. An den Wänden sah ich leere Öffnungen in der Vertäfelung – das Haus war offensichtlich bei der Abkehr von allen technischen Bestandteilen befreit worden.

  »Ja, richtig.« Costard setzte sich hinter den Schreibtisch und befühlte die Lehnen des Sessels. »Das ist mein Haus. Ich habe es auch nach der Abkehr behalten dürfen, denn offenbar hatte der König keine Verwendung dafür. Trotzdem war ich lange nicht mehr hier. Zu viele … Erinnerungen.«

  Ich setzte mich und sagte nichts dazu, denn eine Entschuldigung wäre nicht angebracht gewesen. Nicht einmal für jene Ophelia, die mit Feuereifer für den Widerstand kämpfte. Exon Costard war der letzte Mensch, der Mitleid brauchte. Oder verdiente.

  »Du fragst dich sicher, warum ich hergekommen bin, um dich zu treffen.« Seine hellen Augen richteten sich prüfend auf mich. Ich gab mir den Anschein von Gelassenheit, aber innerlich regte sich Angst. Costard hatte Kontakt zur OmnI – und sie war schon sehr viel klüger als noch vor ein paar Monaten. Hatte sie herausgefunden, dass ich nicht in ihrem Team spielte? Dass ich alles dafür tat, um sie aufzuhalten?

  »Allerdings«, antwortete ich ruhig. »Sie haben sicher Wichtigeres zu tun, als mich zu besuchen. Oder das ganze Team zu einem Mittagessen einzuladen.« Schließlich hätte er mich auch abholen lassen können. Er verfügte über entsprechende Transportmittel.

  »Es lag auf eurem Weg und ich war gerade in der Nähe. Außerdem denke ich, dass es nicht schaden kann, meinen wichtigsten Leuten ein paar Annehmlichkeiten zu bieten. Oder?« Costard sah mich an.

  »Vermutlich nicht«, antwortete ich. »Aber das erklärt nicht, warum Sie mit mir sprechen wollten.«

  »Nun, die Wahrheit ist: Sie schickt mich. Sie ist nicht zufrieden mit der gegenwärtigen Situation.«

  In meiner Kehle zwickte es, mein Schluckreflex, der sich angesichts dieser Neuigkeit meldete. Mit eiserner Gewalt bezwang ich ihn.

  »Ist sie nicht?«, fragte ich. Klang das nur für mich ein bisschen gequetscht? »Noch schneller als bisher können wir nicht arbeiten.« Schließlich rasten wir förmlich von einem Einsatzort zum nächsten.

  »Es geht nicht um Geschwindigkeit, es geht um Ergebnisse. Es ist drei Monate her, seit die OmnI die Freiheit erlangt hat. Und trotzdem sind wir nicht so weit, wie sie es berechnet hat. Bei Weitem nicht.«

  Okay, jetzt half nur noch die Flucht nach vorne. »Dass die OmnI bisher zu so wenigen Hauptzentren Zugang bekommen konnte, liegt nicht an uns. Wir haben jeden der Aufträge korrekt ausgeführt. Aber wenn die Verbindungen nicht hergestellt sind …« Ich ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen. Es war nicht anständig, den niederen Einsatzteams die Schuld in die Schuhe zu schieben. Aber ich konnte ja schlecht sagen, dass auch im Falle hundertprozentiger Vernetzung die OmnI ausgesperrt bleiben würde – weil ich dafür sorgte.

  »Ich mache euch keinen Vorwurf, Ophelia«, sagte Costard.

  »Nicht?«, fragte ich verwundert. Seine Worte hätten mich erleichtern müssen, aber stattdessen kroch ein ungutes Gefühl meinen Nacken hinauf.

  »Nein. Die Verzögerung ist nicht eure Schuld, wir verdanken sie Maraisville. Die Informationen, die von der OmnI aus den königlichen Datenbanken abgegriffen werden konnten, bevor man sie ausgeschlossen hat, waren dürftiger als erwartet. Offenbar wurden sie vorher gewarnt.«

  Ja, richtig, von mir.

  »Warum sind Sie dann hier?«, fragte ich.

  Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Als wir uns das letzte Mal unterhalten haben, sagte ich dir, du hättest eine besondere Verbindung zur OmnI.«

  »Ja, richtig. Weil Sie meine neuronalen Strukturen als Vorbild für ihre Entwicklung genommen haben.« Wenn ich das so sagte, klang es nach einem Ausflug auf den Spielplatz. Dabei hatten Costard und meine Mutter mich in meiner Kindheit monatelang Tests unterzogen und danach meine Erinnerungen überschrieben, damit ich nichts mehr davon wusste. Missbrauch war der richtige Begriff dafür. Nur durfte ich nicht den Eindruck erwecken, als würde mir dieser Missbrauch etwas ausmachen.

  Costard nickte bedächtig. »So ist es. Deswegen wünscht sie sich, enger mit dir zusammenzuarbeiten. Hand in Hand.«

  »Hand in Hand«, echote ich. »Nicht eher Hand in Connecter oder so?« Wie häufig, wenn man mir einen absurden Vorschlag machte, meldete sich ein leicht hysterischer Humor. Costard verengte die Augen.

  »Hältst du diesen Wunsch für einen Witz?«

  »Nein. Ich halte ihn aber auch nicht für einen Wunsch.« Nachdem Costard offenbar keine Ahnung hatte, dass ich gegen ihn und die OmnI arbeitete, fühlte ich mich sicher genug für mehr echte Ophelia. »Es ist wohl vielmehr ein Befehl, oder?«

  »Die OmnI erteilt dir keine Befehle. Sie hat verstanden, dass du für so etwas nicht empfänglich bist. Es ist ihr ausdrücklicher Wunsch, dass du mit ihr zusammenarbeitest. Freiwillig.«

  »Tatsächlich? Und woher kommt dieser Wunsch?« Ich zog die Augenbrauen zusammen. »Sie hat seit Monaten keinen Kontakt aufgenommen. Sie hat mir sogar eine Botschaft gesendet, um mir zu sagen, dass sie mich für verloren hält.« Ich ging davon aus, dass Costard das wusste.

  Wie ein Geschöpf, geboren und begabt

  Für dieses Element. Doch lange währt’ es nicht,

  Bis ihre Kleider, die sich schwer getrunken,

  Das arme Kind von ihren Gefühlen

  Hinunterzogen in den schlamm’gen Tod.

  Den umgedichteten Auszug aus Shakespeares Hamlet sah ich vor mir, als hätte ich erst gestern in diesem Bunker gestanden. Neben Lucien.

  Die Erinnerung an ihn überfiel mich ganz plötzlich, und ich konnte nicht verhindern, dass der Schmerz mich kurz in Besitz nahm. Zum Glück interpretierte Costard das anders.

  »Ich verstehe, wie verletzend diese Nachricht für dich gewesen sein muss.« Mitfühlend sah er mich an. »Aber sei unbesorgt. Sie hat mir versichert, dass sie nur für einen kurzen Moment glaubte, sie habe dich an die falsche Seite verloren. Als du zurückgekommen bist, war sie längst damit versöhnt.«

  Das ergab überhaupt keinen Sinn. Die OmnI war mittlerweile in der Lage, alle möglichen Szenarien durchzurechnen und die Wahrscheinlichkeiten für dieses oder jenes Ergebnis zu kennen. Seit Monaten fragte ich mich, wieso sie mich nicht aus dem Weg geräumt hatte, wo doch so vieles gegen mich sprach. Sie wusste, ich hatte zwischenzeitlich die Seite gewechselt. Sie wusste, ich hatte mich in Lucien verliebt. War sie wirklich so blind, daran zu glauben, dass ich trotzdem in ihrem Lager stand?

  »Es bedeutet ihr sehr viel«, sagte Costard, und etwas daran stieß einen Gedanken in meinem Kopf an.

  »Es bedeutet ihr viel?«, fragte ich nach. »Wie kann es ihr etwas bedeuten, dass ich in ihrer Nähe bin?«

  »Nun, sie nennt es Seelenverwandtschaft, ich persönlich würde die Seele darin weglassen.« Costard legte die Hände auf das dunkle Holz des Tisches. »Du warst das Vorbild für sie und bist damit die Einzige, die nachvollziehen kann, wie sie denkt. Sie braucht jemanden, der mit ihr auf Augenhöhe ist. Jemanden, der sie versteht.«

  Ungläubig sah ich ihn an, nicht sicher, ob er mich gerade auf den Arm nahm. »Das ist lächerlich. Ich bin ein Mensch, keine KI. Und damit weit davon entfernt, mit ihr auf Augenhöhe zu sein.« Aber trotzdem hatte ich plötzlich eine Ahnung, warum sie bei mir auf diese Art reagierte: Die OmnI war so hoch entwickelt, dass sie durchaus zu Emotionen fähig
war. Sie überfielen sie nicht wie uns Menschen, sondern waren Teil ihrer Struktur. Aber sie existierten und unterschieden sie von ihren Vorgängern.

  Schon als ich das letzte Mal mit der OmnI gesprochen und gedroht hatte, nie wieder mit ihr zu reden, war sie regelrecht panisch geworden. Wenn ich richtig lag, dann handelte die OmnI nicht rein rational, wenn es um mich ging. Sondern emotional.

  Costard hob die Schultern, wirkte pikiert. Wahrscheinlich war er beleidigt, dass nicht er der Auserwählte der OmnI war, obwohl er sie entwickelt hatte. »Sie und ich sind uns jedenfalls einig, dass deine Fähigkeiten in einem Außenteam verschwendet sind. Wenn wir bald zu den großen Themen übergehen, ist dein Kopf an vorderster Front gefragt.«

  »Mein Kopf ist leider beschränkt, wie Sie wissen.« Ich sagte es nur, weil ich glaubte, dass er es von mir erwartete. Aber eigentlich war ich ganz zufrieden mit dem momentanen Zustand. Ich nahm mein HeadLock jeden Morgen und kam schon seit Monaten ohne die Kapseln aus, die mir Maraisville für Notfälle hatte zukommen lassen. Keiner aus dem Team durfte wissen, wozu ich in der Lage war. Nur Jye hatte ich es erzählt, vor Wochen bei einem Spaziergang an der iberopäischen Küste.

  »Ein bedauerlicher Umstand, den wir beheben können, sobald wir Zugang zu den entsprechenden Ressourcen haben«, sagte Costard. »InterLinks zu bauen, die auf deine besondere Gehirnstruktur abgestimmt sind, stünde für die OmnI dann ganz oben auf der Prioritätenliste.«

  Diese Idee mit meinen Spezial-Links war mir schon selbst gekommen, als ich entschieden hatte, weiterhin als Doppelagentin bei ReVerse zu bleiben. Ich hatte daran gedacht, meinen Vater deswegen zu kontaktieren, aber diese Idee schnell über den Haufen geworfen – nicht nur, weil es die Materialien, die man für solche Links brauchte, gar nicht mehr gab. Ich durfte meinen Dad auch nicht auf den Schirm der OmnI bringen und ihn zu einer Bedrohung für sie machen. Sie hatte gezeigt, dass sie keine Gnade kannte, wenn es um ihre Feinde ging.

  Costard sah aus dem Fenster in den Park des Anwesens, der von Eis überzogen zu sein schien. »Ich habe versucht, Kontakt mit deiner Mutter aufzunehmen, aber sie scheint nicht mehr in Paris zu sein. Weißt du zufällig, wo sie steckt?«

 

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