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Die Sterne werden fallen

Page 22

by Kiefer, Lena


  Sicherlich hatten viele unserer Gegner darauf gehofft, dass Lucien in absehbarer Zeit noch keine Kinder haben würde – und damit keinen Erben. Aber jetzt war klar, dass dieser längst existierte. Also würde jeder, der die Abkehr beenden oder Europa schaden wollte, Lynx jagen, um ihn zu töten oder als Druckmittel einzusetzen. Tränen der Wut stiegen mir in die Augen, als ich daran dachte, dass Costard und die OmnI ein unschuldiges Kind dazu benutzten, die Menschen gegen Lucien aufzubringen. Lucien. Ich musste mich bei ihm melden. Diese Hassschrift war unglaublich verletzend, aber vor allem brachte sie seine Herrschaft in Gefahr. Sie brachte die ganze Menschheit in Gefahr.

  Da ich keine Links trug, benutzte ich das Terminal an der Wand des Krankenzimmers. Es dauerte mehr als zehn Minuten, bis ich endlich eine Verbindung bekam, und dann auch nur auf dem Audiokanal.

  »Hast du es gelesen?«, fragte Lucien mich so ernst, wie ich ihn noch nie gehört hatte.

  »Ja«, antwortete ich. »Nicht alles im Detail, aber die wichtigen Dinge schon. Ich muss mit Paulsen reden. Es wird Zeit, dass wir den Zugriff der OmnI auf die Pads endgültig unterbinden.« Längst hatte ich den Schrank geöffnet und suchte nach etwas, das ich überziehen konnte.

  »Wir haben gerade ein größeres Problem.«

  »Was könnte denn noch größer sein?« Ich hatte den Rest der Mitteilung überflogen, aber viel mehr Informationen gab es nicht. Kein Wort, wer die Nachrichten schickte, keine konkrete Aufforderung zu irgendwelchen Handlungen. Allerdings war ich sicher, dass die nicht mehr lange auf sich warten lassen würden. Die OmnI war schlau. Sie hatte den Menschen etwas gegeben, worüber sie nachdenken und reden würden. Jetzt musste sie nur warten und diesen Funken weiter anfachen, bis ein Feuer aufflammte, das man einfach in die richtige Richtung lenken konnte. Ich war echt eine dumme Kuh, dass ich geglaubt hatte, sie würde meine Hilfe brauchen. »Luc? Bist du noch da?«

  »Lynx ist verschwunden.« Ich hörte Angst in seiner Stimme. »Ray wollte ihn vorhin vom Fußballtraining abholen, aber da ist er nie aufgetaucht. Zu Hause ist er nicht, bei seinen Freunden auch nicht.«

  »Könnt ihr ihn nicht orten?«

  »Das Signal seines WrInks ist geblockt. Aber wir können nicht sehen, wer das getan hat.« Lynx selbst war es wohl kaum gewesen.

  Ich dachte an die Nachricht der OmnI. »Glaubst du, er …?« Es auszusprechen, wagte ich nicht.

  »Ich weiß es nicht. Imogen ist völlig außer sich, sie glaubt natürlich das Schlimmste – dass er entführt und verschleppt wurde oder …«

  »Und was glaubst du?« Luciens Gespür war seine größte Gabe und auch sein schlimmster Fluch. Wenn er ein schlechtes Gefühl hatte, dann gab es kaum Hoffnung auf eine harmlose Erklärung für Lynx’ Verschwinden.

  Stille am anderen Ende.

  »Lucien?«, fragte ich vorsichtig nach.

  »Keine Ahnung«, stieß er aus. »Imogen hat mich das schon zehnmal in der letzten halben Stunde gefragt, und mittlerweile weiß ich nicht mehr, was ich denken soll. Aber wir müssen vom Schlimmsten ausgehen. Ein Check der Logfiles und Bioscanner an den Kontrollstationen hat nichts gebracht. Wir werden jetzt ganz altmodisch Suchmannschaften losschicken, um die Stadt nach Lynx zu durchkämmen. Nur, um sicherzugehen.« Ich hörte ihn ausatmen. »Ich weiß, du sollst dich ausruhen, aber bist du fit genug, um herzukommen? Ich könnte dich hier wirklich brauchen, Stunt-Girl.«

  »Bin schon unterwegs. Kann allerdings zwanzig Minuten dauern.« Das Militär Medical Department A, in dem man mich wegen des K-Wreck untergebracht hatte, war ein ganzes Stück weit weg von der Festung.

  »Ich erwarte dich hier.« Die Verbindung brach ab.

  Glücklicherweise befanden sich in dem Schrank meines Zimmers genug Klamotten, um meinen grau-weißen Krankendress gegen ein paar Trainingssachen in soldatischem Schwarz zu tauschen. In einer der Garderoben auf dem Flur fand ich außerdem eine Strickjacke und einen dicken Mantel, die beide nicht mir gehörten, aber vermutlich auch nicht vermisst werden würden. Ich zog sie über, ging zurück ins Zimmer und schlüpfte in meine Stiefel.

  »Hey, wo wollen Sie hin?« Einer der Pfleger hielt mich auf.

  »Der König verlangt nach mir«, sagte ich und unterdrückte ein Grinsen, als der Gesichtsausdruck des Pflegers zwischen berufsbedingtem Pflichtbewusstsein und Autoritätshörigkeit hin- und herwechselte. »Keine Sorge«, schob ich nach, »ich komme zurück, sobald ich kann.«

  »Dann nehmen Sie aber wenigstens eine von unseren TransUnits. Bis eine reguläre hier rauskommt, haben Sie längst eine Lungenentzündung.«

  Mein Immunsystem war durch das verdammte K-Wreck ein bisschen angegriffen, das hatte mir meine Mutter bei ihrem gestrigen Besuch eingeschärft. Also widersprach ich nicht, sondern bedankte mich artig und wartete im Warmen, bis die medizinische TransUnit nur eine Minute später bereitstand.

  Ich war der einzige Passagier und sah aus dem Fenster, während wir an den Produktionsstätten vorbei durch die Wohngebiete zur Festung fuhren. Dabei fiel mein Blick auf etwas, das oben am Hang um diese Uhrzeit angeleuchtet wurde: das Castello della paura. Und mir kam eine Erinnerung in den Sinn.

  Kennst du das verfallene Castello oben auf dem Berg? Dort bin ich immer hingelaufen, morgens, wenn noch kaum jemand auf den Beinen war. Sobald ich auf der Mauer gesessen und über die Stadt geguckt habe, wurde alles irgendwie klein. Probleme, Sorgen, Ängste, alles.

  Was, wenn Lynx gar nicht entführt worden war, sondern seinen WrInk selbst geblockt hatte, damit man ihn nicht finden konnte? Mitglieder des engsten Kreises hatten diese Manschetten zu Hause, für Notfälle. Was, wenn er sich eine davon geschnappt hatte, weil die Information, wer sein Vater war, ihn verstörte und er sich nun versteckte? Seine Festung zu Hause konnte er dafür nicht nehmen. Also hatte er vielleicht stattdessen meine gewählt.

  »Befehl: Zielort ändern«, sagte ich laut. Lucien rechnete nicht sofort mit mir, also konnte ich diesem winzig kleinen Verdacht nachgehen.

  »Neuen Zielort nennen«, antwortete die Stimme.

  »Castello della paura.«

  »Zielort kann nicht angesteuert werden. Nächstmöglicher Haltepunkt: Via Daro.«

  Ich stieß laut die Luft aus. Die Via Daro lag ein ganzes Stück unterhalb des Castello und ich war nicht gerade in Topform. »Zielort bestätigen«, sagte ich trotzdem.

  »Zielort bestätigt.«

  Nur zwei Minuten später waren wir da. Aus einem Fach in der Seitenwand schnappte ich mir eine Taschenlampe und stieg dann aus. Leider versäumte ich es, die TransUnit darum zu bitten, auf mich zu warten. Als ich das jedoch bemerkte, war sie längst auf dem Weg hinunter in die Stadt. Verdammt. Es wäre einfacher gewesen – und gesünder –, wenn ich schnell genug reagiert hätte.

  Ich lief los. Es hatte seit einer Woche nicht mehr geschneit, aber hier oben lag trotzdem noch etwas Weiß auf den Wegen. Längst war es dunkel, und schon nach wenigen Schritten merkte ich, dass es noch sehr optimistisch war, meinen Zustand mit nicht in Topform zu beschreiben. Mein Körper nörgelte bei jeder Bewegung, und hätte mir Lynx nicht so am Herzen gelegen, wäre ich wahrscheinlich wieder umgedreht und hätte einem der Suchtrupps den Hinweis auf das Castello gegeben. Aber so quälte ich mich den steilen Weg hinauf und brauchte länger als erwartet bis zu der Felswand. Keuchend schob ich die Ärmel zurück. Du willst klettern? In deinem Zustand? In mir lachte ein schrilles Stimmchen, aber ich brachte es zum Schweigen. Ich hatte diese verdammte Kletterpartie schon hundertmal gemacht. Ich würde das auch jetzt schaffen. Entschlossen klemmte ich mir die Taschenlampe zwischen die Zähne und begann mit dem Aufstieg.

  Zweimal schmierte ich fast an der teils vereisten Wand ab, aber dann stand ich endlich auf dem Vorsprung, wo Lucien mich vor dem Absturz gerettet hatte. Schnell lief ich hinüber und erklomm dann die Stufen zum Turm. Während ich schnaufte wie eine alte Oma, überlegte ich, ob die fixe Idee in meinem Kopf mich auf eine falsche Fährte gebracht hatte. Wenn Lynx gar nicht hier war, hätte ich meine Gesundheit ganz umsonst aufs Spiel gesetzt.

  Aber das hatte ich nicht. Auf den oberen Zinnen sa�
�, in eine dicke Jacke gewickelt und im Gegenlicht der Strahler, eine schmale Gestalt. Ich lächelte erleichtert, als ich sie erkannte.

  »Hi, Lynx«, sagte ich leise, um ihn nicht zu erschrecken.

  »Hi, Ophelia«, antwortete er, ohne zusammenzuzucken. Wahrscheinlich hatte er mich längst gehört, bevor ich angekommen war.

  »Was machst du denn hier oben?« Ich setzte mich neben ihn. Nicht nur, um mit ihm auf Augenhöhe zu sein. Ich war auch so fertig, dass ich meinen Beinen nicht mehr traute.

  »Ich bin abgehauen«, sagte er und seufzte so schwer, dass man glauben konnte, das gesamte Gewicht der Welt läge auf seinen Schultern. Ich schob den Gedanken beiseite, dass es eines Tages tatsächlich so sein könnte.

  »Warum?« Ich hielt mich bedeckt. Vielleicht hatte er die Mitteilung der OmnI gar nicht gelesen. Vielleicht hatte er nur Streit mit einem Freund gehabt. Schließlich war jeder kleine Junge schon einmal von zu Hause weggelaufen, nur um bald darauf wieder zurückzukommen.

  Lynx wischte sich über die Augen. »Wegen dem, was auf meinem Pad stand«, brachte er erstickt heraus. »Stimmt das, was die sagen? War der König wirklich mein Vater?«

  »Ja, war er«, antwortete ich ehrlich. Lynx starrte mich einen Moment an, dann brach er in Tränen aus. Schnell nahm ich ihn in die Arme, weil ich sein Weinen fast noch weniger ertragen konnte als das seines Onkels. Die Umarmung löste sein Problem sicher nicht. Aber er sollte wenigstens das Gefühl haben, nicht allein in einer Welt zu sein, die für ihn plötzlich eine andere war.

  »Wieso hat meine Mum mir das nie gesagt?«, schluchzte Lynx in meinen geliehenen Mantel. »Er war sogar bei uns zum Essen und sie hat nichts gesagt. Keiner von ihnen!«

  »Ach, Eltern eben. Du weißt, wie die sind.« Ich hätte Imogen vielleicht besser verteidigen sollen, aber es war nicht an mir, dem Jungen zu erklären, warum seine Mutter diese Entscheidung getroffen hatte. »Aber du könntest sie das selbst fragen. Ich bin sicher, sie wird es dir erklären.«

  »Nie im Leben.« Lynx schniefte und schob bockig die Unterlippe vor. »Sie lügt mich ja doch nur an. Immer, wenn ich nach meinem Dad gefragt habe, hat sie gemeint, er hätte uns verlassen. Sie wollte nie mit mir über ihn reden. Also will ich jetzt auch nicht mit ihr darüber reden.«

  »Hm, aber dann erfährst du wohl nie, warum sie dir nichts gesagt hat.«

  Er schaute zu mir hoch. »Meinst du?«

  »Meine ich.« Ich nickte. »Außerdem willst du ja vielleicht auch etwas über deinen Dad wissen. Wie er so war, bevor er König geworden ist und euch verlassen musste. Das hat er nämlich nicht getan, weil er egoistisch war, wie es in diesem fiesen Artikel steht. Sondern weil er dich geliebt hat.« Imogen musste ich nicht verteidigen, weil sie das selbst tun konnte. Aber Leopold hatte dazu keine Gelegenheit mehr. Bei allem, was ich ihm früher unterstellt hatte, war es meine Pflicht, seinem Sohn die Wahrheit über ihn zu sagen.

  »Er ist immer so ernst gewesen, und das mochte ich nicht«, sagte Lynx. Weil ich meinen Arm immer noch um seine Schultern liegen hatte, spürte ich das erneute Schluchzen, bevor ich es hörte. »Ist das gemein, so was zu sagen? Wo er doch tot ist?«

  Ich strich ihm über den Kopf. »Niemand zwingt dich, jemanden zu mögen, nur weil du mit ihm verwandt bist. Egal, ob tot oder lebendig. Okay?«

  Er nickte und zog die Nase hoch. »Okay.«

  »Aber vielleicht tust du es trotzdem, wenn du mehr über ihn weißt.«

  »So wie du?«

  »So wie ich.«

  Lynx schwieg und ich ebenso. Schließlich atmete er tief ein und sah mich an.

  »Also ist Onkel Luc wirklich mein Onkel?«

  Ich lächelte. »Ist er. Das ist doch cool, oder nicht?«

  Er nickte. »Und das bedeutet, du bist so etwas wie meine Tante, richtig?«

  »So etwas in der Art. Aber tu mir einen Gefallen und nenn mich nicht so.«

  Ein verschmitztes Grinsen stahl sich auf Lynx’ Gesicht, und ich wusste, ich hatte gerade einen schweren Fehler begangen. »Warum denn nicht?«, fragte er unschuldig. »Tantchen Ophelia, das klingt doch super.«

  Ich musste lachen und zauste ihm die blonden Locken. »Du bist frecher als dir guttut, Lynx.«

  »Warum sagt das immer jeder?« Er lachte auch, aber dann wurde er schnell wieder ernst. »Was passiert jetzt mit mir? Es bedeutet doch sicher etwas, wenn man der Sohn vom ehemaligen König ist. Muss ich in der Festung wohnen? Und darf ich noch meine Lieblingspullover anziehen? Der König … Leopold hatte doch immer so feine Sachen an.«

  Ich lachte und drückte ihn kurz an mich. »Ich glaube nicht, dass sich so viel für dich ändert. Wahrscheinlich wird man etwas besser auf dich aufpassen als vorher, aber sonst bleibt alles, wie es ist.« Zumindest sollte das für ihn so wirken, während wir anderen panisch um seine Sicherheit bemüht sein würden.

  »Und … muss ich irgendwann König sein? Ich wollte doch ein Schakal werden.« Verdammt, er war wirklich ein aufgeweckter kleiner Kerl.

  »Das werden wir sehen, wenn es so weit ist«, wiegelte ich ab. »Dein Onkel Luc ist noch echt jung, also hast du sehr viel Zeit für diese Entscheidung.« Ich erhob mich und ignorierte, dass mein Körper das für eine schlechte Idee hielt. »Wir sollten langsam zurück in die Stadt, meinst du nicht? Es ist ziemlich kalt und dunkel hier draußen und ich habe Hunger.« Ich sagte nichts davon, dass seine Mutter krank vor Sorge war, ebenso wie der Rest des Führungsstabes. Ein schlechtes Gewissen brauchte der Kleine jetzt nicht auch noch.

  Zum Glück stand Lynx ohne Diskussion auf und stieg mit mir vom Turm. Dabei rutschten ihm die Ärmel hoch und legten seine Handgelenke frei. Ich stockte. Als Lucien gesagt hatte, das Signal des WrInk wäre geblockt, war ich spätestens bei meiner Ankunft hier sicher gewesen, Lynx hätte eine der Manschetten stibitzt. Aber er trug keine.

  »Sag mal«, begann ich, »wann hast du diese Mitteilung auf dem Pad eigentlich gelesen?« Sie war eine halbe Stunde, bevor ich sie entdeckt hatte, online gegangen – und da hätte Lynx eigentlich beim Training sein müssen und nicht an einem Pad. Wie konnte er sie also rechtzeitig gelesen und dann noch hierher ausgebüxt sein?

  »Vorhin, als ich zu Hause war.« Er sprang die letzte Stufe des Turms hinunter.

  »Wie lange ist das her?«

  »Weiß nicht.« Er hob die Schultern. »Eine Weile. Es war noch hell.«

  Es war schon seit ungefähr zwei Stunden dunkel. Also hatte jemand die Mitteilung ganz gezielt an sein persönliches Pad geschickt, bevor alle anderen davon erfuhren. Als mir das klarwurde, gesellte sich zu der klirrenden Kälte draußen eine sehr viel unangenehmere in meinem Inneren. Lynx wollte zur Abbruchkante der Mauer gehen, aber ich hielt ihn an der Schulter zurück.

  »Was –«

  »Psssst«, machte ich.

  »Was ist?«, flüsterte er.

  Ich horchte in die Dunkelheit. Erst dachte ich, der Alarm in meinem Kopf sei unbegründet. Aber dann war da ein Rascheln, ein Knacken, und zwar nicht von einem Tier. Jemand bewegte sich durch das Dickicht unterhalb von uns, zwei Personen, den Schritten nach zu urteilen. Möglichst leise und im Dunkeln, um unerkannt zu bleiben.

  Das war keine von Lucien geschickte Suchmannschaft. Das war jemand, der Lynx schnappen wollte. Und ich war die Einzige, die sie daran hindern konnte. Ohne InterLinks, ohne Waffe und ohne einen Funken Kraft in meinem Körper.

  Das war wohl das, was die Leute meinten, wenn sie von einem Worst-Case-Szenario sprachen.

  22

  »Ophelia?« Lynx’ Stimme klang ängstlich. »Was ist los?«

  Ich sagte nichts, sondern bedeutete ihm, still zu sein und mir zur Wand zu folgen. Dort war eine Ecke, wo ich leise sprechen konnte, ohne dass man mich hörte. Ich ging in die Hocke und biss die Zähne aufeinander, als meine Oberschenkel protestierten.

  »Lynx, hör zu.« Ich fasste ihn leicht an den Handgelenken und sah ihn an. »Du willst doch ein Schakal werden, oder?«

  Er nickte, aber Angst stand in seinen Augen.

  »Gut. Dann ist das jetzt deine erste verdeckte Miss
ion. Da unten sind Leute, die uns holen wollen. Unser Auftrag ist es, ihnen zu entkommen.« Ich musste darauf setzen, dass er mitmachte, denn eine andere Option hatte ich nicht. Ich konnte niemandem Bescheid geben, ich trug keine Eye- oder EarLinks, um Kontakt aufzunehmen. Ich hatte nicht gemeldet, wo ich hingehen würde – und Lucien würde annehmen, dass es einfach eine Weile dauerte, bis ich in der Festung auftauchte. Das bedeutete, es würde kein Team zu unserer Rettung kommen. Und kämpfen konnte ich nicht. Da unten befanden sich mindestens zwei Gegner, und in meinem Zustand würde ich sie nicht besiegen können. Schon gar nicht, wenn ich gleichzeitig Lynx beschützen musste.

  »Was soll ich machen?«, wisperte er.

  »Erst finden wir raus, wo sie sind. Und dann hauen wir zur anderen Seite hin ab.«

  So einfach das klang, so schwierig war die Umsetzung. Ich kannte diese Ruine in- und auswendig, jeden Winkel, jeden Vorsprung, aber es war dunkel, und ich hatte einen kleinen Jungen dabei, der Angst hatte und nicht für so etwas ausgebildet war.

  Der Weg, den ich immer nach oben genommen hatte, war der leichteste von allen – und trotzdem schwierig, wenn man unentdeckt bleiben wollte. Die Felswand war komplett einsehbar und kaum von Ästen verdeckt, vor allem im Winter. Das hieß, wir mussten entweder an der Südseite runter, die ebenso glatt war wie steil, oder im Norden, wo man sich leicht den Hals brechen konnte, wenn man an einem der Äste hängen blieb und stürzte. Ich rechnete kurz durch, was besser war, aber es blieb ein Patt. Ich musste abwarten, wohin sich die Typen bewegten.

  Lynx’ Arme zitterten unter meinen Händen. Ich rieb kurz über seine Jacke. »Alles wird gut«, flüsterte ich. »Das ist deine, aber nicht meine erste Mission. Wir kriegen das hin.« Ich wollte ihn nicht anlügen, aber in diesem Fall hielt ich es für angebracht, die Wahrheit ein bisschen zu schönen.

 

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