Die Sterne werden fallen

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Die Sterne werden fallen Page 23

by Kiefer, Lena


  Unsere Verfolger waren nicht mehr so leise wie zuvor, es knackte und knirschte unten im Dickicht, dann drang eine Stimme an mein Ohr. Ich ließ Lynx, wo er war, und bewegte mich vorsichtig an die Kante. Angespannt lauschte ich in die Dunkelheit.

  »Der Bengel muss in der Nähe sein«, sagte eine Frau, deren Stimme mir vage bekannt vorkam. »Das WrInk-Signal war schließlich hier, als ich es zuletzt gecheckt habe.«

  »Ja, aber wo?«, antwortete ein Mann. »Er wird wohl kaum oben auf die Ruine geklettert sein.«

  »Wieso nicht?«

  »Weil der Junge acht Jahre alt ist und nicht von einer radioaktiven Spinne gebissen wurde. Wie sollte er das hinkriegen?«

  »Seine Mutter war ein Schakal, genau wie sein Onkel«, sagte die Frau. »Bei den Genen könnte der Kleine wahrscheinlich auch auf das Juwel klettern, wenn er wollte.«

  Der Mann schnaubte. »Nicht so viel Bewunderung, Silvia. Hinterher denkt noch jemand, du hättest dich umdrehen lassen, genau wie Scale.«

  »Scale?«, antwortete die Frau abfällig. »Die hat sich wohl eher flachlegen als umdrehen lassen. Und alles nur, damit sie jetzt von allen außer dem König gehasst wird. Ein schlechter Deal, wenn du mich fragst.«

  Ich ignorierte den Stich, den mir ihre Worte versetzten. Stattdessen kramte ich in meinem Kopf, woher mir Name und Stimme bekannt vorkamen. Bei Silvia fiel mir nur Silvia Harcroft ein. Aber die war eine der Gardistinnen, sogar eine der engsten Vertrauten von Saric. Arbeitete sie etwa für Costard? Als ich daran dachte, dass sie in den letzten Monaten für Luciens Schutz gesorgt hatte, drehte sich mir der Magen um. Wie leicht hätte sie ihm etwas antun können.

  Die beiden bewegten sich Richtung Südseite und ich kehrte zu Lynx zurück.

  »Du bist doch hier hochgekraxelt, oder?«, fragte ich leise. »Bist du schon öfter geklettert?«

  Er nickte zaghaft. »In der Halle unten an der Schule. Aber ich bin noch nie bis ganz oben gekommen.«

  »Das macht nichts. Heute geht es sowieso in die andere Richtung.« Ich nahm ihn mit zu der Stelle an der Wand, von der ich wusste, dass dort im Mauerwerk ein paar Risse waren, in die man greifen konnte. Ja, nur dass du dort nie hochwolltest, weil es dir zu gefährlich war. – Klappe halten jetzt! »Warte kurz hier. Ich bin sofort wieder da.«

  Zu gerne hätte ich Harcroft und ihrem Komplizen ein paar verpasst, aber trotz meiner Wut wusste ich, dass ich bei meiner Entscheidung bleiben musste. Wir konnten das nur auf die heimliche Art machen. Also würde ich uns den Weg freiräumen.

  Der Winter und der Schnee hatten von den umliegenden Bäumen ein paar morsche Äste abgebrochen und sie wie Knochen auf den Steinen der Ruine verteilt. Ich packte einen davon und knurrte unwillig, als ich ausholen wollte und mein Arm nicht richtig gehorchte. Mit aller mir zur Verfügung stehenden Kraft warf ich den Ast über die Zinnen und hörte, wie er an der Ostseite dumpf ins Unterholz krachte. Es war das älteste Ablenkungsmanöver der Welt – und so beliebt, weil es einfach immer funktionierte.

  Harcroft und ihr Komplize kamen in Bewegung – weg von der Stelle, wo ich Lynx in Sicherheit bringen wollte. Ich lief zu ihm, während sie sich Befehle zuriefen.

  »Da drüben ist er!«

  »Los, schnapp ihn dir!«

  Lynx sog die Luft ein und ich drückte ihm schnell die Hand auf den Mund. »Keinen Mucks«, wisperte ich und sah, dass er nickte. »Und jetzt los. Wir müssen dort runter.«

  Er folgte mir mutig, als wir den Abstieg begannen, und ich hielt mich dicht hinter seinem Rücken, sodass ich ihn mit meinem Körper abschirmen konnte, falls er fiel oder man uns angriff. Meine Arme taten höllisch weh, aber sie versagten nicht den Dienst. Das war doch mal eine gute Nachricht.

  Lynx stellte sich geschickter an, als ich erwartet hatte. Ich musste ihm zwar viel helfen, aber obwohl er kaum etwas sehen konnte und wenig Übung hatte, waren wir relativ schnell und schafften es ohne große Probleme bis zur Hälfte der Wand. Dann musste ich meine Arme ausschütteln, weil sie mir langsam den Dienst versagten. Aber nicht nur sie. Meine Lunge brannte in der kalten Luft, und ich schwitzte in dem Mantel, während ich an Händen und Gesicht trotzdem fror. Ich hatte keine Ahnung, wie lange ich das noch durchhalten konnte.

  »Weiter«, flüsterte ich.

  »Wo zur Hölle ist er?« Harcrofts Stimme war bedrohlich nahe.

  Lynx hörte sie auch und griff hektisch nach der Felswand – ins Leere. Er rutschte ab, fiel gegen mich, ich packte mit einer Hand nach ihm und hielt ihn fest. Jetzt musste mein anderer Arm unser beider Gewicht halten und hatte darauf wenig Lust. Ich ächzte.

  »Du musst dich wieder selbst festhalten«, flüsterte ich Lynx zu.

  »Ich weiß nicht, wo!« Er klang panisch.

  »Ganz in Ruhe. Du hast das bisher so gut gemacht. Such dir einfach einen Vorsprung.«

  Er streckte die Hände aus und tastete die Wand ab. »Hab einen«, meldete er atemlos. Eine Sekunde später merkte ich, dass er wieder Halt hatte. Ich zwang mich dazu, jetzt nicht hastig zu werden. Ein Sturz aus dieser Höhe brachte uns vielleicht nicht mehr den Tod, aber sicher gebrochene Knochen. Und mit denen konnte man nicht flüchten.

  Vorsichtig ging es weiter. Der Rest der Strecke lief glatt, mit einem Satz landeten wir beide im Schnee. In derselben Sekunde tauchte ein Schatten in der Nähe der Wand auf.

  Ich packte nach Lynx’ Hand.

  »Lauf!«

  Wir rannten wie der Teufel den Hang hinunter, quer durch die Bäume. Schnee stob auf, mal strauchelte ich im Unterholz, dann wieder Lynx. Aber wir fielen nicht, während wir bergab hetzten, unsere Verfolger im Nacken. Als wüsste er ganz genau, dass sein Leben davon abhing, legte der Achtjährige ein Tempo vor, wie ich es nicht einmal unter Echos Drill bei meinen Mitrekruten erlebt hatte.

  »Halt!« Lynx bremste schlitternd im Schnee und zerrte dabei an meinem Arm. »Da geht es runter!« Gerade rechtzeitig kam ich zum Stehen und sah nach unten. Zentimeter vor meinen Schuhspitzen war ein großes, tiefschwarzes Loch. Es war sicherlich zehn Meter breit, eine Abbruchkante, die das Wetter in den Hang geschlagen hatte. Ich war so auf Lynx konzentriert gewesen, dass ich es nicht bemerkt hatte.

  »Gut gemacht«, sagte ich und rang nach Atem. Wir suchten uns einen Weg um die Grube herum und kämpften uns weiter abwärts. Da knallte es plötzlich hohl, dann noch einmal. Harcroft und der andere Typ feuerten hinter uns her.

  »Warum muss eigentlich immer jemand auf mich schießen?!«, fluchte ich laut, aber darauf bekam ich keine Antwort. Dafür hörte ich ein anderes, doppeltes Fluchen und einen Aufprall. Harcroft und ihr Komplize hatten das Loch im Boden offenbar nicht gesehen.

  Trotzdem wurden wir nicht langsamer, sondern rannten weiter. Vielleicht hatten die beiden noch mehr Mitstreiter oder sie kamen schneller aus der Grube als gedacht. Es war besser, nicht darauf zu warten. Nie war mir der Weg bis zur Stadt so lang vorgekommen, aber ich hielt durch, Lynx’ Hand fest in meiner, bis wir endlich am Rand von Zone C ankamen. Die beiden Wachleute am Kontrollposten starrten uns entgeistert an, als wir durch das Gestrüpp brachen und ich vor Erschöpfung auf die Knie fiel.

  »Machen Sie Meldung, dass wir zwei Verräter in der Stadt haben«, keuchte ich und musterte Lynx rasch, der genauso erledigt aussah, wie ich mich fühlte. »Und sagen Sie dem König, der Sohn seiner Stabschefin ist in Sicherheit.«

  Einer der Wachmänner befolgte meinen Befehl, der andere kam näher zu uns und half mir hoch. Erst da schien er mich zu erkennen und seine Miene bekam etwas Misstrauisches. Mit einer Handbewegung hielt er seinen Kollegen davon ab, weiter über seine EarLinks zu kommunizieren.

  »Vielleicht sagen Sie uns erst mal, was passiert ist.«

  »Was passiert ist? Sie hat mir das Leben gerettet!« Lynx kam mir zuvor. Er baute sich vor dem Wachmann auf. »Da waren Leute, die mich umbringen wollten. Ophelia hat mich nicht nur gefunden, sondern auch vor ihnen beschützt und hierher gebracht. Die beiden Typen sind da oben in ein Loch gestürzt. Sie können gern nachsehen!«

  Das Misstrauen dehnte sich auf Lynx aus, als der Wachmann seine
Taschenlampe höher hob und ihm ins Gesicht leuchtete. »Und du bist wirklich Lynx Lawson?«

  »Ja«, sagte der Junge fest und straffte seine Schultern noch ein bisschen mehr. »Und außerdem bin ich der Neffe des Königs. Also, machen Sie jetzt Meldung oder muss ich meinen Onkel persönlich herholen? Ich bin sicher, das wollen Sie nicht.«

  Lucien lachte so sehr, dass ihm Tränen in die Augen traten. »Das hat er gesagt?« Er saß auf dem Rand der Wanne in seinem Badezimmer, in die er mich direkt verfrachtet hatte, nachdem ich von dem Wachposten in die Festung gebracht worden war.

  »Wortwörtlich. Ich schwöre bei allem, was mir heilig ist.« Träge hob ich die Finger aus dem Wasser, um meinen Schwur zu beteuern. Das Wasser war herrlich warm, und ich spürte, wie meine verfrorenen Glieder wieder auftauten. Das halbe Dutzend an SubDerm-Injektionen, die ich bekommen hatte, würde zusammen mit dem Bad hoffentlich verhindern, dass ich die drohende Lungenentzündung bekam.

  Lucien lehnte den Kopf an die Wand. »Und was hat der Wachmann getan?«

  »Er war kurz verdutzt, dann hat er Meldung gemacht.«

  »Himmel.« Lucien lachte wieder. »Nur drei Minuten Thronfolger und schon spielt er die Trumpfkarte aus. Von dem können wir alle noch etwas lernen.«

  Ein Seufzen entfuhr mir. »Ich hoffe nur, er schmückt die Geschichte seiner Rettung nicht zu sehr aus.«

  »Wieso nicht? Er soll ruhig ein bisschen mit dir prahlen. Niemand wird mehr denken, dass du mir schaden könntest, wenn du sogar meinen Neffen mit deinem Leben verteidigst.«

  »Wer weiß.« Ich verdrehte die Augen, lehnte mich entspannt zurück und sah Lucien an. »Warum kommst du eigentlich nicht rein? Bestimmt verlangt doch in der nächsten halben Stunde niemand nach dir. Jetzt, wo alle froh sind, dass der Liebling der Stadt wohlauf ist.«

  »Sicher, aber du sollst dich ausruhen, nicht schon wieder anstrengen«, gab Lucien zurück. Ich lachte, hob die Hand und spritzte ihn ein bisschen nass.

  »Überschätzt du dich da nicht ein bisschen?«, neckte ich ihn.

  »Keine Ahnung, tue ich das?« Er lehnte sich vor, um mich zu küssen, und ich überlegte, ob meine Kraft wohl ausreichte, um ihn zu mir ins Wasser zu ziehen. Aber da ich kaum den Arm heben konnte, verzichtete ich.

  »Was machst du mit Harcroft und ihrem Kollegen?« Der war ein Produktionsmitarbeiter und schon zwei Jahre in Maraisville. Dass er bei seiner ersten Überprüfung als unbedenklich eingestuft worden war, bedeutete, er hatte sich Costards Ideologie erst später angeschlossen. Wahrscheinlich musste jetzt jeder in der Stadt noch einmal überprüft werden.

  »Caspar verhört sie noch, aber wir erhoffen uns davon keine bahnbrechenden Erkenntnisse. Also werden wir sie auf null clearen und dann eingesperrt lassen – bei all den illegalen Restorings, die durchgeführt werden, ist es zu riskant, sie in eine der Clearthrough-Einrichtungen zu schicken. Trotz der verbesserten Formel.«

  »Dann haben sie gar nichts verraten?«

  »Doch, aber nichts, was wir nicht schon geahnt haben. Die beiden hatten vor, Lynx zu töten und damit ein öffentliches Zeichen für den Widerstand zu setzen.«

  Etwas daran kam mir komisch vor. »Aber warum hat Harcroft nicht versucht, dich umzubringen? Schließlich hatte sie die Gelegenheit dazu.«

  Lucien schüttelte den Kopf. »Hatte sie nicht. Ich habe die Garde teilweise schon vor Monaten heimlich durch Schakale ersetzen lassen und die Bewaffnung der Gardisten streng reglementiert. Haslock war nie mein Freund gewesen, aber seinen Leuten hätte ich mein Leben anvertraut. Nach seinem Tod war ich mir da nicht mehr sicher. Also habe ich vorgesorgt.«

  »Davon hast du mir gar nichts gesagt.«

  »Ich wollte nicht, dass du denkst, ich wäre hier in der Festung in Gefahr.«

  Was er aber war und wir wussten das beide. Die OmnI hatte uns in eine Lage gebracht, in der wir jeden für einen Verräter und die ganze Welt für den Feind halten mussten. Und wir hatten keinen Plan, wie wir sie und Costard besiegen sollten.

  »Tut mir leid, dass sie all diese Lügen über Leopold verbreitet hat.« Das Wasser wurde langsam kalt, aber ich war noch nicht bereit, die Wanne zu verlassen. »Was wollt ihr dagegen machen?«

  Nun seufzte Lucien. »Adrian wird eine Gegendarstellung an die Pads senden, aber ich fürchte, das Gift der OmnI hat längst Wirkung gezeigt. Keine Ahnung, wie wir das umkehren wollen.«

  »Wir müssen sie endlich aus dem System für die Pads aussperren.«

  »Das können wir nicht. Sie ist nicht in unseren Zugang eingedrungen, sie hat mittlerweile unsere Spezifikationen kopiert, um ihren eigenen einzurichten.«

  »Und wenn wir die Pads abschalten?«, schlug ich vor. »Sie den Leuten wegnehmen und einsammeln?«

  »Das würde nur wie eine Bestätigung dieser Lügen wirken.« Lucien lehnte wieder den Kopf an die Wand und schloss erschöpft die Augen. »In der Zwischenzeit ziehen die Asiaten und die Nordamerikaner die Abkehr in Zweifel und ich kann ihnen nichts entgegenhalten als leere Beteuerungen. Wir werden eine neue Strategie brauchen, um gegen die OmnI vorzugehen, jetzt, wo sie ihre Taktik geändert hat und auf Propaganda setzt.« Er sah mich an. »Ich wünschte, Leo wäre hier. Er wüsste, was zu tun ist.«

  Ich hob die Hand aus dem Wasser und streichelte über Luciens Finger, die auf dem Wannenrand lagen. »Er wäre sehr stolz auf dich.«

  Lucien lachte bitter. »Ja, sicher. Auf seinen kleinen Bruder, der alles zerstört, was er mühsam aufgebaut hat.«

  »Hör auf, so einen Schwachsinn zu reden«, sagte ich streng. »Die Umstände sind nun völlig andere, und kein Mensch weiß, ob Leopold diese Krise besser meistern würde als du.«

  »Doch. Ich weiß es. Das habe ich dir schon damals gesagt: Ich bin kein König. Ich bin ein Schakal, vermutlich ein guter, aber kein Herrscher. Ich will diese Entscheidungen nicht treffen, will diese Verantwortung nicht tragen, will den Leuten nicht vormachen müssen, ich hätte alles im Griff.« Er streckte die Hand aus und berührte meine Wange. »Eigentlich will ich nur dich, eine Hütte irgendwo am Strand und keine Probleme. Oder zumindest keine globalen Probleme. So etwas wie: Wir haben schon wieder einen Papagei in der Küche, oder: Die Kokosnüsse sind aus, wäre okay.«

  Ich lachte, stieg aus der Wanne und nahm ein Handtuch, um mich darin einzuwickeln. Dann legte ich meine Arme um Lucien und sah zu ihm runter, in das Gesicht des Mannes, den ich so sehr liebte und vor einem Leben bewahren wollte, das er hasste. Deshalb würde ich nicht tatenlos herumsitzen. Bis wir eine Strategie gegen die OmnI entwickelt hatten, konnte ich mich auch anderweitig nützlich machen.

  Ich legte den Kopf schief. »Würdest du mir eine Mission genehmigen, bei der ich die Stadt verlassen muss?«, fragte ich.

  »Würdest du dich davon abhalten lassen, wenn ich dir diese Genehmigung verweigere?« Er hob eine Augenbraue und ich grinste.

  »Ich denke, die Antwort kennst du.«

  23

  Über die nordsveropäischen Gebiete konnte man vieles sagen. Zum Beispiel, dass sie naturgewaltig, wunderschön und unberührt waren. Aber vor allem war es im Winter dort eiskalt. Und dunkel. Die hellen Stunden des Tages konnte man an einer Hand abzählen, aber kaum war man damit fertig, verschwand das Licht auch schon wieder.

  Gerade befanden wir uns noch eine Stunde von diesem Zeitpunkt entfernt und schon jetzt graute mir davor, nachher im Dunkeln zweieinhalb Stunden zurück nach Janstad zu laufen, dem kleinen Ort, in dem wir uns Pensionszimmer genommen hatten.

  »Siehst du etwas?«, fragte ich Echo neben mir. Wir hatten Stellung in einer Wanderhütte bezogen, die an einem kleinen, vollkommen zugefrorenen See stand. Von hier aus hatte man eine ausgezeichnete Sicht auf das einsame Haus am gegenüberliegenden Ufer.

  »Nein, nichts. Vielleicht ist sie nicht zu Hause.« Echo legte das MultiVision weg und warf ihre Handschuhe beiseite. Ihr machte die Kälte nichts aus. Im Gegenteil: Ich hatte den Eindruck, sie war erst richtig in ihrem Element, wenn schlimme Erfrierungen drohten.

  »Warum konnte unser Ziel nicht in Südamerika sitzen? Wieso musste das eine Finte sei
n?« Jye zog seine Mütze tiefer ins Gesicht. Er war auch nicht gerade ein Fan des nordsveropäischen Klimas.

  Ich stöhnte auf. »Musst du mich daran erinnern?« Die Provinz Västerbotten mit all ihrer landschaftlichen Pracht war nicht die erste Station unserer Ermittlungen. Der Code der von Dufort abgeschossenen Drohne hatte uns zuerst nach Südamerika geführt, direkt nach Rio de Janeiro in den innersten Kreis der neuen südamerikanischen Präsidentin. Einige verdeckte Operationen und zwei Einbrüche später hatten wir jedoch gewusst, dass jenes Signal lediglich in Rio umgeleitet und dann maskiert worden war, damit es so aussah, als wäre unser Gegner die südamerikanische Regierung. Danach herauszufinden, wo tatsächlich die Quelle war, hatte mich zwei Kapseln und eine Woche gekostet, aber schließlich gab es keinen Zweifel mehr: Västerbotten war unser Ziel. Hier war der Unterschlupf einer Hackerin namens Tilda Svärd, die für das Steuerungsprogramm der Drohne verantwortlich war.

  »Sorry«, murmelte Jye nicht sonderlich reuevoll. Ich konnte ihm die Erinnerung an Rio nicht verübeln. Nach dem sonnigen, warmen Wetter dort kam einem der Winter hier noch eisiger vor. In Maraisville hielt langsam der Frühling Einzug, aber so viel weiter nördlich herrschte noch tiefster Winter.

  Ich verlagerte mein Gewicht und nahm die Unterarme von der Fensteröffnung der Hütte. »Was, wenn sie gar nicht in der Nähe ist? Sie könnte auch nach Umeå gefahren sein oder nach Stockholm und wochenlang nicht zurückkommen.« Schließlich hatte unser Informant in Janstad nicht sagen können, wann er Tilda Svärd das letzte Mal gesehen hatte. Nur, wo sie wohnte, wenn sie hier war.

  Diese Gegend bot sich als Unterschlupf für eine Hackerin mit ihren Motiven an, denn die Provinz war bevölkert von nationalstolzen Königsgegnern. Hier spürte man die Feindseligkeit gegen die Regierung an jeder einzelnen Ecke, in jedem Gespräch, in den Worten der Menschen, deren Sprache von regionalen Dialekten gefärbt war. Hier oben, wo vor der europäischen Vereinigung die fortschrittlichsten Gesellschaften angesiedelt gewesen waren, hatten sich mit der Zeit immer mehr Systemgegner eingefunden: angezogen von Dunkelheit, Abgeschiedenheit und der Tatsache, dass man hier ungestört seine eigene Ideologie verfolgen oder wie im Fall der Hackerin mit illegalen technischen Komponenten sein Equipment aufpolieren konnte. Ich hatte in den letzten zwei Tagen mehr rassistische und antisoziale Parolen gehört und an Hauswänden gesehen als in meinem gesamten Leben zuvor.

 

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