by Kiefer, Lena
»Was tun wir dagegen?«, fragte ich Paulsen. Er wirkte immer noch peinlich berührt, aber darauf konnte ich keine Rücksicht nehmen. Auch nicht darauf, wie unangenehm es mir war, dass alle im Land dieses Video gesehen haben mussten. Scham war ein Luxus, den ich mir nicht leisten konnte.
»Normalerweise haben wir bei den Verunglimpfungen der OmnI eine Gegendarstellung an die Pads gesendet. Nur wird das in diesem Fall schwierig.«
»Aber das ist gar nicht echt!«, widersprach ich heftig. »Wir waren nie dort!«
»Nein, waren Sie nicht, allerdings spielt das keine Rolle. Auch wenn die OmnI diese Aufnahme konstruiert hat – sie zeigt die Wahrheit. Wir können nicht dagegen vorgehen, ohne zu lügen. Und es gibt viel zu viele Leute, die von Ihnen und Lucien wissen, um glaubhaft zu versichern, zwischen Ihnen gäbe es keine Beziehung. Außerdem dürfen wir keine Mitteilung im Namen des Königs veröffentlichen, wenn die OmnI und Costard jederzeit beweisen können, dass Lucien in ihrer Gewalt ist.«
Ich knallte das Pad auf den Tisch. »Das ist doch zum Kotzen!« Da saß ich hier und musste dabei zusehen, wie mein Liebesleben in aller Öffentlichkeit ausgestellt wurde – und hatte nach wie vor keine Ahnung, wo Lucien steckte und ob er noch am Leben war. Wieso sagte die verdammte OmnI nichts dazu? Weil sie dich mürbe machen will. Sie wollte mich zu einem unglaubwürdigen, verliebten Mädchen degradieren und gleichzeitig vorführen, wie wenig ich ihr entgegenzusetzen hatte. Mein Blick wurde von den Bildern auf dem Pad eingefangen, ich sah Luciens Rücken, seine Schultern – und es riss ein neues Loch in mein Herz. Wo bist du? Was hat sie mit dir gemacht?
»Okay.« Ich stützte meine Arme auf den Tisch, dachte fieberhaft nach. Die OmnI würde die Bevölkerung mit dieser Nachricht zum Teil wieder auf ihre Seite ziehen. All diejenigen, die Luciens Worten über den PointOut zunächst nicht geglaubt hatten, würden mich nun für eine Lügnerin halten und erneut ReVerse Glauben schenken. Damit waren die RTCs wieder in Gefahr und so auch die gesamte Abkehr. »Gibt es schon Reaktionen?«
»Ein paar. Es ist noch früh am Morgen und die Mitteilung wurde erst vor einer halben Stunde versendet. Aber unsere Berechnungen zeigen, dass uns das massiv schaden könnte. Wenn es um Gefühle geht, kann man Menschen schnell beeinflussen. Sie werden verletzt sein, weil sie denken, Sie hätten gelogen. Was dann passiert … nun, ich denke, das wissen wir alle.«
Das wusste ich sehr genau. Und es gab nur eine Möglichkeit, das zu verhindern und ein für alle Mal in diesem Kampf den Sieg davonzutragen. Eine Möglichkeit, die vielleicht sogar Lucien und die anderen befreien konnte. Wir hatten diese Karte bisher nicht ausgespielt, weil es dafür nur einen Versuch gab. Aber jetzt war der Moment dafür gekommen.
»Jye?« Er sah auf. »Kannst du bitte meine Mutter kontaktieren? Sie müsste oben bei Eneas sein. Sag ihr, es ist dringend.«
»Natürlich.« Schon war er auf dem Weg zu einem der Terminals.
»Was haben Sie vor?«, fragte Paulsen.
»Ich werde reagieren«, antwortete ich grimmig. »Könnten Sie mir bitte eine Aufstellung machen, welche lokalen Versorgungszentren von der OmnI bereits übernommen wurden? Und welche MerchPoints in der Nähe sind, die wir noch halten?«
Er nickte. »Natürlich.« Dann ging er zu seinen Analysten, um sie zu briefen. Ich setzte mich an den Tisch und betrachtete wieder die Aufnahme, obwohl ich sie längst hätte löschen sollen. Aber das konnte ich nicht. Ich konnte nicht das einzige Lebenszeichen von Lucien löschen – auch wenn es gar keines war.
»Ophelia, was ist los?«
Meine Mutter kam herein, gefolgt von meinem Bruder. Der hatte ein Pad in der Hand, und ich wusste, er hatte die Aufnahme gesehen. Ob das auch auf meine Mutter zutraf oder – Gott bewahre – meinen Vater, der immer noch um Imogens Leben kämpfte, wollte ich gar nicht wissen.
»Hübsche Show, Schwesterchen«, murmelte Eneas grinsend und winkte mit dem Pad.
Ich wusste, er wollte mich aufheitern, indem er so tat, als wäre das alles keine große Sache. Aber ich brachte es nicht fertig, darüber zu grinsen.
»Wir brauchen den Morbus.« Ich sah meine Mutter an. »Es gibt keine Spur von Lucien, Dufort und Deverose, und jetzt verlieren wir auch noch einen Teil der Bevölkerung an die OmnI. Wir müssen etwas tun.«
Sie runzelte die Stirn. »Du weißt, dass wir immer noch keine Version des Morbus haben, von der wir sicher sagen können, dass sie funktioniert.«
Ich war versucht, die Augen zu verdrehen. »Natürlich weiß ich das. Wenn es anders wäre, gäbe es die OmnI nicht mehr.«
»Dann ist dir hoffentlich auch klar, dass ein fehlgeschlagener Versuch sie noch mehr gegen uns aufbringen würde. Und dass sie dann etwas tun könnte, das sich nicht mehr korrigieren lässt.« Sie schaute mich ernst an, und ich wusste, sie sprach von Lucien.
»Ich weiß nicht einmal, ob er noch lebt! Die OmnI tut so, als hätte es die Entführung nie gegeben, und ich kann nicht hier sitzen und warten, bis sie die beschissene Macht übernimmt!« Mein Atem ging schwer.
»In Ordnung.« Meine Mutter blieb wie immer unbeeindruckt von meinem Gefühlsausbruch. »Ich bereite alles vor und komme dann zurück. Bitte frag deinen Vater, ob er eine halbe Stunde Zeit hat, sich den Morbus anzusehen und sich mit mir zu besprechen. Und du solltest auch einen Blick darauf werfen.«
Meine Hand zuckte zu der Tablettendose, die ich momentan immer bei mir trug.
»Nein«, sagte meine Mutter streng. »Du darfst sie nicht regelmäßig nehmen und hast die Obergrenze in den letzten Tagen bestimmt längst ausgeschöpft.«
»Wenn ich keine nehme, muss ich mir auch deinen Morbus nicht ansehen. Dann kannst du genauso gut Neas draufgucken lassen.«
»Hey«, empörte sich mein Bruder. »Ich bin durchaus in der Lage, einen Mordingsbums anzusehen und … was auch immer zu tun.«
Unsere Mutter schenkte ihm einen nachsichtigen Blick – etwas, das ich in den letzten fast neunzehn Jahren von ihr nie gesehen hatte. Dann schaute sie mich wieder an. »Ophelia, gib mir diese Dose.«
Was? »Nein!«, sagte ich heftig. Die Kapseln waren alles, was mich von einem normalen Menschen unterschied. Wenn ich sie nicht hatte, dann brauchte ich viel zu lange, um eine Lösung für auch nur eines unserer viertausend Probleme zu finden. »Es sei denn, du hast etwas, das besser funktioniert.« Eine reine Provokation, aber sie wusste das.
»Das habe ich nicht«, sagte sie kühl. »Aber das heißt nicht, dass diese Kapseln gut für dich sind. Ich habe sie dir nicht gegeben, damit du sie einwirfst wie Bonbons. Sondern für den Notfall.«
Ein Schnauben entfuhr mir. »Ich habe Neuigkeiten für dich, Mum – das hier ist ein Notfall.«
»Gut, alles klar.« Meine Mutter nickte. »Dann nimm einfach noch ein paar von den Kapseln. Lucien ist sicher begeistert, wenn er zurückkommt und du liegst im Koma, weil du gedacht hast, für dich würden keine Grenzen gelten. Vielleicht kannst du ihm vorher eine Nachricht schreiben, damit ich ihm nicht erklären muss, wie es dazu kam.«
Ihr Tonfall war kalt, die Worte verächtlich, aber ich hatte gelernt, ihre Sorge dahinter zu erkennen. Dass sie außerdem Lucien erwähnte, verfehlte die gewünschte Wirkung nicht. Ich seufzte. »Okay. Ich nehme keine. Wie lange brauchst du für die Vorbereitung?«
»Zwei Stunden, vielleicht etwas mehr. Ich gebe dir Bescheid, wenn es so weit ist.« Sie nickte, fragte aber nicht noch einmal nach der Dose, bevor sie ging. Neben mir verschränkte Eneas die Arme und sah ihr nach.
»Wenn dir jemand vor einem Jahr gesagt hätte, unsere Mutter sei deine einzige Chance, die Welt zu retten, was hättest du dann wohl geantwortet?«
Ich seufzte. Darauf fiel mir keine passende Antwort ein.
32
Der Morbus war bereit. Meine Mutter hatte in unter zwei Stunden alles für eine Infektion vorbereitet, und weder mein Vater noch ich hatten auf die Schnelle etwas finden können, das dagegensprach. Es würde so oder so alles daran hängen, ob die OmnI den Morbus entdecken würde, bevor er sie erwischte. Wenn ja, waren wir am Arsch. Wenn nein, hatten wir gewonnen und bekamen eine Chance,
Lucien und die anderen zu retten.
Bevor ich allerdings Jye und Echo mit dem Morbus zu dem Versorgungszentrum schicken konnte, das wir im ehemaligen Slowenien aufgetan hatten und das ideale Voraussetzungen bot – abgelegen, noch nicht von der OmnI übernommen, aber mitten in der Zugangsschneise zum RTC in Venedig –, war eine Krisensitzung fällig. Denn Paulsen hatte recht gehabt mit seiner Prognose: Nur zwei Stunden, nachdem die Aufnahme von Lucien und mir die Runde gemacht hatte, gab es wieder vermehrt Aufstände im Land, angeführt von den Radicals und lokalen ReVerse-Gruppen. Sie waren aggressiver als zuvor, randalierten gegen Supply-Stationen und Bluecoats-Stützpunkte, ließen in manchen Orten kaum einen Stein auf dem anderen. Das Militär tat, was möglich war, aber es konnte nicht überall sein.
»Das Video von Ihnen und dem König hat die Stimmung kippen lassen«, vermeldete Jeanne Travere, diesmal nicht in Uniform, sondern normaler Alltagskleidung. »Nicht nur, dass die Bevölkerung Sie nun für eine Heuchlerin hält, sie denkt zudem, auch Lucien wäre nicht vertrauenswürdig.«
»Warum?«, fragte Eneas mit hochgezogener Augenbraue. »Weil er Sex hat? Dachten die, er ist ein Mönch oder was?«
Travere bedachte ihn mit einem Blick, der wohl jeden unter den Tisch hätte kriechen lassen – jeden außer meinem Bruder. »Natürlich denkt niemand, der König wäre ein Mönch. Ihn aber bei derartigen Aktivitäten zu sehen, weicht die Distanz zu ihm vollkommen auf – und das Ergebnis ist, dass man ihn vielerorts nun für unfähig hält, um über dieses Land herrschen zu können. Das sehr prunkvolle Ambiente sorgt außerdem dafür, dass man eben nicht glaubt, er wäre der normale, volksnahe Typ, den man in Brighton gesehen hat.«
Ich presste die Lippen aufeinander. Dieses verdammte Video war nicht echt und machte trotzdem alles kaputt. Mittlerweile war es mir egal, dass es jeder gesehen hatte, schließlich war es nur eine Montage. Die Wirkung blieb aber die gleiche.
»Das wäre vielleicht noch nicht der Todesstoß«, sagte Travere. »Aber seit dem Angriff am Pier machen Gerüchte die Runde, der König wäre nicht mehr am Leben. Und wir können nichts übermitteln, was das Gegenteil beweist.« Sie sah mich an. »Die Asiaten haben mitbekommen, dass etwas nicht stimmt, vielleicht stehen sie sogar mit Costard in Kontakt. Sie fragen jedenfalls, wo der König ist, und drohen damit, die Abkehr zu beenden, wenn sie nicht bald Antworten erhalten. In Südamerika ist es ähnlich. Die beiden Botschafterinnen tun, was sie können. Aber es sieht nicht gut für uns aus.«
Ich nickte, um ihr zu zeigen, dass ich verstanden hatte. Die Lage war noch nie so ernst gewesen. Wenn unsere Verbündeten die Seite wechselten, konnten wir Maraisville nicht mehr lange halten.
»Wir müssen härtere Geschütze auffahren, Ophelia«, sagte Travere. »Wir können uns diesen Kampf nicht komplett aus der Hand nehmen lassen.«
Das hatte Lucien auch gesagt, kurz bevor wir nach Brighton abgereist waren. Dass es nicht mehr reichte, nur zu reagieren. Aber was sollte ich tun? ReVerse bombardieren und hoffen, dabei die OmnI zu treffen? Zivilisten in Massen zum Clearing schicken? Nichts davon half uns weiter.
»Ich halte den Morbus für unsere beste Chance«, sagte ich. »Wenn wir die OmnI zerstören, wird der Widerstand in sich zusammenfallen.« Costard war auch ohne OmnI ein brillanter Geist, aber ohne sie konnte er die Herrschaft nicht an sich reißen. Er würde es vielleicht versuchen und ReVerse in einen Krieg mit dem königlichen Militär schicken. Aber ein solcher Kampf wäre letztlich aussichtslos für ihn.
Saric sah skeptisch aus. »Ist der Morbus denn bereit? In den letzten Wochen hieß es immer, es gäbe noch keine Variante, die hundertprozentige Sicherheit garantiert.«
»Es gibt nie hundertprozentige Sicherheit«, erwiderte ich. »Im Leben nicht und bei diesem Morbus auch nicht. Aber es bringt uns nichts, wenn wir in zwei Wochen eine neunundneunzigprozentige Variante haben, die Abkehr bis dahin allerdings längst Geschichte ist.« Ich hob die Schultern. »Wir müssen es versuchen. Nur so bekommen wir eine Möglichkeit, Lucien und die anderen zu retten.«
»Also gehen Sie davon aus, dass der König, Dufort und Deverose noch am Leben sind?« Saric klang so, als hielte sie das für nicht besonders wahrscheinlich.
»Sie nicht?« Ich funkelte die Gardechefin an. »Sie sind für den Schutz des Königs zuständig und trotzdem die Erste, die ihn abschreibt? Tolle Einstellung.«
Saric hob das Kinn an. »Ich habe leider keine Chance bekommen, den König so zu schützen, wie es nötig gewesen wäre. Hätte ich diesen Auftritt überwacht, dann –«
»Ach, halten Sie die Klappe!«, schnauzte ich sie an. »Das hier ist doch keine Bühne für Ihr beschissenes Ego! Dass Lucien die Garde rausgehalten hat, war nur logisch. Ihre Leute hätten schließlich fast den Thronfolger getötet! Und vielleicht sogar mit Ihrem Wissen!«
»Wie können Sie es wagen, mir das zu unterstellen?« Die Arroganz der Gardechefin war verschwunden, stattdessen sah ich blanke Wut auf ihrem Gesicht. »Ich leiste schon mein halbes Leben treue Dienste für dieses Land!«
»Ja, wer es glaubt! Wahrscheinlich führen Sie täglich nette Gespräch mit Exon Costard darüber, wie man uns das Regieren noch ein bisschen mehr zur Hölle machen kann. Vielleicht waren Sie es sogar, die den Hack der FlightUnit möglich gemacht hat!«
Saric sprang auf. »Ich bin hier nicht die Verräterin! Sie sind es, die sich erst in die Stadt und dann in das Herz von Lucien de Marais geschlichen haben, während Sie planten, seinen Bruder zu ermorden! Sie erzählen mir sicher nichts von Loyalität und Vertrauen!«
»Na, wem denn sonst?« Ich sah spöttisch in die Runde, meine Wut blockte jeden vernünftigen Gedanken, meine Angst um Lucien lähmte meinen Verstand. »Hier ist sonst keiner, der bezweifelt, dass der König noch lebt. Also, Ilka – was sagt das über Sie aus?«
Sie zuckte, und ich wusste, alles in ihr wollte mich angreifen. Ob deswegen, weil ich recht hatte oder unrecht, konnte ich nicht sagen. Aber allein die Aussicht, meine Wut an jemandem auszulassen, war so verlockend, dass mir die Gründe dafür völlig egal waren.
»Nur zu.« Ich hob einladend die Fäuste.
»Phee, hey, hör auf.« Eneas umfasste meinen Arm und schob sich zwischen die Gardechefin und mich. »Das bringt nichts und du weißt es.«
»Ihr Bruder scheint vernünftiger zu sein als die meisten hier.« Travere sah so aus, als würde sie das verwundern.
Ich wich zurück und mied Sarics Blick. »Die drei sind am Leben«, sagte ich mit Nachdruck. »Sie sind am Leben und wir werden sie finden.« Ob die anderen merkten, dass ich mich damit auch selbst überzeugen wollte? Immer wieder kamen mir die schrecklichen Visionen von Luciens Tod in den Sinn, immer wieder überfiel mich der Gedanke, dass die OmnI Leopold auch nicht verschont hatte. Ihre Beteuerung, Lucien nichts antun zu wollen, weil sie mich damit verlieren würde, war ihr längst egal. Ich hatte ihr den Rücken gekehrt, vor den Augen des ganzen Landes. Sie wusste, dass wir nie wieder auf der gleichen Seite stehen würden.
»Nicht, bevor wir die OmnI nicht ausgeschaltet haben.« Paulsen lehnte sich vor. »Also lassen Sie uns endlich darüber reden, wie wir diesen Morbus in ihre Nähe bringen.«
Ich zählte die Minuten. Seit der FlightJack mit Echo und Jye in Richtung Ljubljana abgeflogen war, saß ich im Lagezentrum, zählte die Minuten und wartete auf Nachricht von ihnen. Hundertmal hatte ich ausgerechnet, wie lange sie brauchen würden, um an dem lokalen Versorgungszentrum anzukommen und es mit dem Morbus zu präparieren – und wie lange danach die OmnI infiziert werden würde. Genau das war nämlich der kritische Punkt. Sie hatte zwar eine physische Komponente, aber wenn es ein bestehendes Netz gab, konnte sie auf diverse angebundene Zentren zugreifen. Oder auf keines von ihnen. Wir hatten keine Ahnung, wann sie versuchen würde, genau zu diesem Zentrum eine Verbindung aufzubauen.
Es wurde zwei, es wurde drei Uhr nachts. Jye und Echo meldeten ihre Ankunft am Zielort und das Positionieren des Morbus. Danach hieß es warten. Ich versuchte, mich auf die Daten vor mir zu konzentrieren, aber meine Augenlider wurden schwer und schwerer. Bis mir der Kopf auf die Brust sank und ich wieder aufschreck
te. Schnell sah ich mich um, ob einer der Analysten bemerkt hatte, dass ich eingeschlafen war. Die Nachtschicht arbeitete jedoch still vor sich hin.
Ich stand auf und beschloss, nach draußen zu gehen. Die frische Luft würde mich wieder wach machen und mir das Gehirn frei pusten, denn gerade sah ich den Datenwald vor lauter Bäumen nicht. Ich nahm mein Pad, bat die Chefanalystin um sofortige Meldung, sobald etwas passierte, dann suchte ich mir meinen Weg in den zweiten Stock und zu einer unscheinbaren Tür, die vom alten Mauerring ins Freie führte. Dahinter lag einer der kleinen Gärten, die rund um die Festung angelegt waren und kaum von jemandem besucht wurden. Ich hatte Lucien erst kürzlich gefragt, warum er mich nicht hierher eingeladen hatte, damals bei unserem ersten Treffen. Er hatte gesagt, das wäre ihm zu viel Kitsch gewesen mit den hübsch angelegten Beeten, der Holzbank und den zurechtgeschnittenen Rosen. Mein Herz zog sich zusammen, als ich daran dachte. Vor ein paar Tagen hatte die Welt auch schon am Abgrund gestanden. Aber da war Lucien immerhin bei mir und in Sicherheit gewesen.
Ich legte mein Pad auf der Bank ab, ging zur Mauer und zog mich daran hoch, damit ich darauf sitzen konnte. Zwar gab es nichts zu sehen, weil die Stadt im Dunkeln lag, aber immerhin hatte ich das Gefühl, frei atmen zu können. Einmal, zweimal sog ich die kalte Luft in meine Lungen. Beim dritten Mal spürte ich das ganz leichte Summen, das die EarLinks von sich gaben, bevor jemand etwas sagte. Sofort beschleunigte sich mein Puls. Aber es kam nichts. Keine Nachricht, keine Nachfrage, ob ich zuhörte. Das Summen hielt einfach an.
»Hallo?«, fragte ich. »Ist da jemand? Jye? Echo?«
Keine Antwort.
Ich sprang von der Mauer und machte mich daran, wieder in die Festung zurückzugehen. Vielleicht stimmte etwas mit der Reichweite der Links nicht. Es war besser, ich bezog wieder Posten im Lagezentrum.
Im Vorbeigehen schnappte ich mein Pad von der Bank … und sah, dass es eine neue Mitteilung gab. Mein Herz, das sich gerade erst beruhigt hatte, begann wieder heftig zu schlagen. Ich öffnete die Nachricht.