Die Sterne werden fallen

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Die Sterne werden fallen Page 32

by Kiefer, Lena


  Seine Ruhe nahm meiner Wut die Wucht. »Ray zieht Lynx auf, seit er fünf Jahre alt ist. Er ist dafür besser geeignet als ich. Und außerdem …« Ich zog die Luft ein. »Was soll ich ihm sagen? Dass seine Mutter im künstlichen Koma liegt und um ihr Leben kämpft? Ich will Lynx nicht anlügen. Das habe ich noch nie getan und ich fange jetzt nicht damit an.«

  »Du musst ihn nicht anlügen. Du musst ihm nur nicht alles sagen, was du weißt.«

  »Er ist ziemlich schlau«, sagte ich zweifelnd. »Er durchschaut mich sofort.«

  »Dann wäre er der erste Mensch auf der Welt, der das kann.« Jye lächelte und ich erwiderte es halb. Ich war froh, dass unsere Freundschaft auch die schlimmsten Katastrophen überstehen konnte.

  Die Tür ging erneut auf, diesmal kam Echo herein, wie Jye noch in Einsatzkleidung. Sie umarmte mich nicht, aber ihr Blick war wissend. Jemand musste sie gebrieft haben, während ich Jye erzählt hatte, was passiert war.

  »Was für eine Scheiße«, stellte sie fest, während sie sich neben meinen Freund auf das Sofa setzte. »Was haben wir bis jetzt?«

  »So gut wie nichts.« Ich deutete auf den Screen hinter dem Schreibtisch. »Die Unit ist nicht auffindbar, ihre Energiesignatur wurde kaschiert. Wir sind dabei, die Verschleierung zu entschlüsseln, aber das kann dauern. Wenn man nicht weiß, wonach man sucht, ist es reines Glücksspiel.« Alle Analysten, die ich wieder freigegeben hatte, saßen dran. Viel Hoffnung hatte ich aber nicht. Genauso wenig wie Zeit. »Ich habe versucht, auf den Satellitenbildern etwas zu finden, aber ohne eine leistungsstarke KI sind das viel zu viele Daten.«

  Echo seufzte resigniert. »Und die einzig leistungsstarke KI ist unser Feind. Na super.« Sie lehnte sich zurück. »Was ist der Plan? Jetzt, wo du den Laden hier schmeißt.«

  Ich schnaubte. »Ich habe keine Ahnung, was Lucien sich dabei gedacht hat. Er hätte Travere nehmen sollen, Paulsen oder dich.« Plötzlich kam mir eine Idee. »Könntest du nicht –«

  »Nein«, erwiderte Echo barsch. »Auf keinen Fall. Ich übernehme gern die Schakale für dich, aber für das hier bin ich nicht qualifiziert.«

  »Aber ich schon oder was?« Ich sah zweifelnd zu ihr rüber.

  »Lucien hat das offenbar so gesehen – und wir wissen alle, dass man sich mit ihm nicht anlegen sollte.« Für einen Moment schaute sie zu Boden. Dann suchte sie wieder meinen Blick. »Ophelia, spring mir nicht an den Hals, aber … woher wissen wir, dass sie noch am Leben sind?«

  Ich stand auf und strich mit der Hand über die Lehne des Sessels. »Wissen wir nicht. Aber solange eine Chance besteht, werde ich weiter nach ihnen suchen. Bis die OmnI uns Luciens Leiche vor die Tür legt, gebe ich nicht auf.« Ich wollte es sarkastisch klingen lassen, aber bei dem Gedanken daran, dass sie das wirklich tun könnte, geriet ich aus dem Gleichgewicht. Schnell fasste ich nach der Tischkante, Jye sprang auf und brachte mich zum Sofa. Der Schwindel legte sich nur langsam.

  Echo musterte mich streng. »Wann hast du zuletzt etwas gegessen?«

  »Keine Ahnung.« Vor der Rede in Brighton war ich zu aufgeregt gewesen, um zu essen. »Gestern Abend, glaube ich.«

  »Dann besorge ich dir etwas.« Sie stand auf.

  »Mach dir keine Mühe. Ich habe keinen Hunger.«

  »Das ist mir egal. Du regierst gerade ganz Europa und musst dafür bei Kräften bleiben. Ich bin gleich wieder da.« Damit marschierte sie aus dem Zimmer, gefolgt von ihrem wippenden Zopf.

  Ich sah ihr nach. »Meinst du, ich kann ihr befehlen, etwas weniger herrisch zu sein? Immerhin bin ich jetzt der Boss.«

  Jye quittierte meinen Galgenhumor mit einem Lächeln.

  »Du kennst Echo. Sie versteckt ihre Gefühle gerne.«

  »Ja, vielleicht, aber sie hat doch recht. Warum sollte die OmnI ihn am Leben lassen? Bei Leopold hat sie das schließlich auch nicht getan.« Ich fasste an meinen Hals, weil mir der Kloß dort die Luft abdrückte.

  Jye strich mir über den Rücken. »Wir wissen nicht, warum sie etwas tut oder nicht.«

  »Das ist doch zum Kotzen. Wenn ich meine alten InterLinks noch hätte, dann könnte ich Lucien finden und auch gegen die OmnI antreten. Aber was habe ich?« Wütend packte ich die Dose auf dem Tisch. »Ich habe nur diesen Scheiß hier!« Ich holte aus und warf sie an die Wand. Die Kapseln spritzten heraus und verteilten sich auf dem Boden – direkt vor Eneas’ Füßen. Er musste sich mit Echo die Klinke in die Hand gegeben haben.

  »Was geht denn mit dir ab?«, fragte er mich in diesem besorgt-liebevollen Tonfall, den ich in den letzten Monaten schmerzlich vermisst hatte.

  »Nur der übliche Wahnsinn«, maulte ich in einem Tonfall, den er garantiert nicht vermisst hatte.

  »Dann solltest du zuhören. Ich habe nämlich gute Nachrichten.«

  »Die können wir alle gebrauchen«, sagte Jye und schlug zur Begrüßung in Eneas’ Hand ein.

  »Was gibt es?« Ich hatte meinen Bruder kurzerhand gebeten, im Team von Deverose auszuhelfen, solange der nicht da war. Eneas war nicht darin ausgebildet, offizielle Mitteilungen zu verfassen oder Reden zu schreiben, aber er konnte Menschen gut einschätzen und hatte alles an diplomatischem Geschick abbekommen, was eigentlich für uns beide vorgesehen gewesen war. Im Moment musste das reichen.

  »Was Lucien und du am Pier gesagt habt, kam gut an. Die meisten Demonstranten haben sich vom RTC in Paris und den MerchPoints zurückgezogen und die übrigen stellen von der Menge her kein Problem mehr für die Einheiten vor Ort dar.«

  Verwundert sah ich ihn an. »Dann hat der Angriff auf die FlightUnit unsere Position nicht geschwächt?«

  »Eher im Gegenteil.« Eneas hob die Schultern. »Niemand, der bei klarem Verstand ist, glaubt, dass der König den Pier angreifen lässt, wenn er selbst drauf steht. Oder dass er eine seiner FlightUnits zerstören würde. Die Beobachter in den Städten haben außerdem gemeldet, dass viele Leute nun Angst vor der OmnI haben.«

  »Also hat sie sich mit der ganzen Aktion ins eigene virtuelle Knie geschossen?«

  »Sieht so aus.«

  »Ich frage mich, warum sie das nicht vorhersehen konnte«, sagte ich nachdenklich. Erst hatte ich gedacht, sie wolle Lucien für ihren Feldzug benutzen. Aber das ergab keinen Sinn. Genauso wenig wie jede andere Theorie, die mein Gehirn in den letzten Stunden ausgespuckt hatte. Es machte mich wahnsinnig, nicht zu wissen, was sie vorhatte. Und noch mehr, dass ich keine Ahnung hatte, warum sie Lucien am Leben lassen sollte, von Dufort und Deverose ganz zu schweigen.

  Jye merkte auf. »Hast du nicht gesagt, dass sie bei dir nicht rational reagiert?«

  »Ja, schon.«

  »Und trotzdem fragst du dich, wieso sie das getan hat?« Jye zählte auf. »Du hast dich vor die Welt gestellt und dich zur Abkehr, zu Leopold und Lucien bekannt. Du hast gesagt, die OmnI sei gefährlich und Costard bösartig. Damit hast du ihr offen den Mittelfinger gezeigt, und bei ihr ist wahrscheinlich eine Sicherung durchgebrannt. Im wahrsten Sinne.«

  Ich sah auf mein Handgelenk, das seit heute Morgen die Lilie zierte. Jye hatte recht. Diese ganze Entführung schien eine Dynamik entwickelt zu haben, die keinerlei Logik folgte. Dass die OmnI auf den Pier geschossen und damit eine Massenpanik ausgelöst hatte, war dumm gewesen. Unbedacht.

  »Ihr wisst, was das bedeutet, oder?«, fragte ich Jye und meinen Bruder.

  »Du solltest aufpassen, wenn du das Haus verlässt?« Eneas’ Scherz klang kein bisschen wie einer.

  Ich lachte freudlos. »Ja, das auch. Aber vor allem bedeutet es, ich habe ihr den Krieg erklärt.« Einen Krieg, den ich nicht gewinnen konnte. Denn plötzlich wusste ich, warum sie Lucien entführt und nicht direkt am Pier getötet hatte. Nicht wegen der Leute. Sondern meinetwegen. Sie wollte mich in der Hand haben. Mir wehtun können, wann immer sie wollte. Mir zeigen, dass jenes Leid, das sie erfahren hatte, nichts gegen das war, was sie mir antun konnte.

  Und ich hatte dem nichts entgegenzusetzen.

  Absolut nichts.

  31

  Bittemachdassihmnichtspassiertist.

  Bittemachdassihmnichtsp
assiertist.

  Bittemachdassihmnichtspassiertist.

  Irgendwann um zwei Uhr in der Nacht hatte ich mich von Eneas überreden lassen, ins Bett zu gehen, aber den SubDerm-Injektor mit dem Schlafmittel abgelehnt. Vielleicht hätte ich das nicht tun sollen, denn so wälzte ich mich nur herum, während mein überreiztes Gehirn Amok lief. Immer grausamere Bilder davon, was die OmnI und Costard Lucien antun könnten, zogen Kreise in meinem Kopf – und wenn ich dann doch wegdämmerte, schreckte ich hoch, weil die Albträume übernahmen. Am schlimmsten war jedoch die leere Seite des Bettes, derer ich mir in jeder Sekunde entsetzlich bewusst war. Ein Bewusstsein, das ich aber auch nicht verlieren wollte, weil die Realität dann umso härter zuschlagen würde, wenn ich aufwachte.

  Wurde nicht behauptet, dass man spürte, ob ein geliebter Mensch noch am Leben war? Wenn das stimmte, fehlte mir diese telepathische Fähigkeit völlig. Oder gab es eher so eine Art Gewissheit, die einen befiel, wenn jemand starb? Dann war Lucien noch am Leben. Denn ich spürte nichts, keine vage Ahnung, keine Verbindung. Eiskalte Angst hatte sich in mir festgesetzt und alles andere ausgelöscht.

  Ich hatte schon einmal jemanden verloren, den ich geliebt hatte, und es war grauenhaft gewesen. Aber die Liebe zu Lucien war eine ganz andere als die zu Knox, sie war viel ernster, tiefer und absoluter. Was würde mit mir passieren, wenn ich ihn verlor?

  Der Gedanke trieb mich aus dem Bett. Wie konnte ich schlafen, wenn für Lucien jede Sekunde zählte? Ich vergeudete wertvolle Zeit, die ich damit verbringen müsste, ihn zu suchen. Also schnappte ich mir eine seiner Kapuzenjacken, zog mir meine Jogginghose über und fand Socken, die wahrscheinlich mir gehörten. Dann ging ich nach nebenan, nahm meine Dose mit den Kapseln und befahl dem Screen am Schreibtisch, sich einzuschalten. Das bläuliche Licht bescherte dem dunklen Raum die Atmosphäre eines Aquariums. Nur, dass ich darin nicht der einzige Fisch war. Auf der Couch lag jemand und schnarchte leise vor sich hin.

  Erst dachte ich, mein Bruder hätte sein Gästezimmer ein Stockwerk tiefer verschmäht und würde Wache auf dem Sofa schieben, aber die Gestalt unter der Decke war viel kleiner als er und das Schnarchen eindeutig zu zart für Eneas. Ich schob die Dose in meine Tasche und ging hinüber. Als ich erkannte, wer da schlief, ein Spielzeugschwert fest in den Armen, musste ich lächeln. Sanft berührte ich ihn an der Schulter.

  »Hey, Ritter der Tafelrunde«, sagte ich leise, als Lynx verschlafen die Augen aufschlug. »Was machst du denn hier?« Ich hatte Jyes Rat ignoriert und nicht mehr mit Imogens Sohn geredet. Offenbar konnte ich mich trotzdem nicht davor drücken.

  »Hm?«, machte der Junge und setzte sich auf. Die blonden Locken standen ihm wirr vom Kopf ab und erinnerten mich schmerzhaft an seinen Onkel. »Ich konnte in dem komischen Zimmer unten in der Festung nicht schlafen, also habe ich mich rausgeschlichen und wollte nach Hause, aber die haben mich nicht gelassen. Dann bin ich hergekommen.« Er seufzte. »Kriege ich jetzt Ärger?«

  Ich lächelte. »Nein, absolut nicht. Eigentlich ist das hier oben ja sogar dein Zuhause, wenn man es genau nimmt.« Allerdings war es wohl besser, ich gab Ray bald Bescheid, damit er keinen Herzanfall bekam, wenn er aufwachte und Lynx nicht in seinem Bett vorfand.

  »Warum bist du wach?«, fragte er mich.

  Ich hob die Schultern und setzte mich neben ihn, zog die Decke über meine Beine. »Zu viele Gedanken in meinem Kopf.«

  »Was für Gedanken?« Lynx kuschelte sich an mich und ich legte meinen Arm um ihn.

  »Wie es weitergehen soll. Wo dein Onkel Luc ist. Ob deine Mum wieder gesund wird. Solche Sachen.« Ich hätte Imogen in der Aufzählung auslassen können, aber das wollte ich nicht. Obwohl sie der Grund war, warum ich mich vor diesem Gespräch gefürchtet hatte.

  Lynx drehte den Kopf und sah mich an. »Glaubst du, sie wird wieder gesund?« Ich konnte erkennen, dass er tapfer sein wollte, deswegen bekam er eine ehrliche Antwort.

  »Das weiß ich nicht, aber ich hoffe es. Mein Dad ist der Beste, wenn es darum geht, mit technologischen Lösungen Leben zu retten. Er wird alles für deine Mum tun, was er kann.«

  »Ist dein Dad ein bisschen so wie du?«

  Ich grinste. »Ein bisschen, ja. Oder ich bin eher ein bisschen wie er.«

  »Dann rettet er sie bestimmt.« Lynx nickte zuversichtlich, und ich wünschte ihm, dass sein Glaube ihm erhalten bleiben würde. Es würde sicherlich noch eine Weile dauern, bis klar war, ob Imogen es schaffte. Und momentan konnte in so einer Zeitspanne viel passieren.

  Niemand von uns sagte etwas, und irgendwann dachte ich, Lynx sei wieder eingeschlafen. Aber da hatte ich mich geirrt.

  »Hast du Angst, Ophelia?«, wisperte er ganz leise.

  »Ja«, antwortete ich, ohne zu zögern. »Ich habe fürchterliche Angst.«

  »Ich auch.« Er schwieg kurz, dann sah er mich an, als würde er erwarten, dass ich noch mehr sagte.

  »Was ist?«, fragte ich.

  »Ich dachte, du erklärst mir jetzt, dass es gut ist, Angst zu haben.« Lynx zog die Nase kraus. »Das sagen Erwachsene doch immer.«

  »Solltest du nicht mittlerweile gelernt haben, dass ich nicht sonderlich erwachsen bin?« Ich wuschelte ihm die Haare. »Mir hat man das früher auch immer erzählt. Angst ist hilfreich, weil sie einem sagt, wann es gefährlich wird, blabla.« Ich holte Luft. »Ich finde, Angst ist scheiße. Ich wäre froh, ich müsste nie wieder welche haben.«

  Lynx seufzte. »Ja, das wäre super.« Dann warf er mir einen Blick zu und sah wieder weg, guckte mich erneut an und dann auf die Wolldecke. »Wirst du Onkel Luc retten?«, fragte er schließlich.

  Lüg ihn nicht an.

  »Ja. Das werde ich.«

  Tür um Tür flog an mir vorbei, das Quietschen meiner Sohlen war das einzige Geräusch. Die unterste Ebene der Festung war verlassen, denn hier befanden sich nur noch Lager- und Serverräume für die Stadt. Mir war das recht. Lucien war nach seiner Ernennung zum König statt im Freien immer hier unten gelaufen. Es ebenfalls zu tun, gab mir das Gefühl, ihm nahe zu sein.

  Ich bog auf eine weitere Runde ein, aber schon nach wenigen Metern blickte ich hoch und sah, dass ich nicht mehr allein war: Am Ende des Ganges wartete Jye auf mich. Er sah ernst aus. Und obwohl das in diesen Tagen keine Seltenheit war, wurde mir kalt.

  »Was gibt es?«, fragte ich, auf das Schlimmste gefasst.

  »Du solltest mitkommen.« Er gab mir ein Handtuch. »Es gibt Neuigkeiten.«

  Mechanisch griff ich nach dem Tuch. »Was für Neuigkeiten? Etwas zum Aufenthaltsort von Lucien?«

  Er schüttelte den Kopf. »Nein. Etwas anderes. Du musst es selbst sehen, es zu erklären, wäre … schwierig.«

  Ich folgte ihm zur Treppe, weil sie näher lag als die Aufzüge, und wir stiegen zwei Stockwerke hinauf, ohne miteinander zu reden. Die Angst, die seit dem Angriff auf dem Pier vor zwei Tagen ständig da war, stach mir bei jeder Stufe in den Magen. Ich hatte fünf Schakal-Teams losgeschickt, nachdem ich ebenso viele Orte aus den Daten gefiltert hatte, die mir verdächtig vorkamen. Aber es waren alles Sackgassen gewesen. Die OmnI spielte mit mir, sie lenkte meine Schritte, führte mich in die Irre. Und ich konnte nichts anderes tun, als diesen Brotkrumen zu folgen. Denn selbst wenn ich eine meiner Kapseln nahm, konnte ich ihr nicht das Wasser reichen.

  Im Lagezentrum fiel mein Blick zuerst auf die Analysten, die an ihren Terminals arbeiteten. Keinen von ihnen hatte ich des Verrats überführen können, deswegen waren sie alle wieder da, hoffentlich immer noch loyal. Einer von ihnen sah auf und ich lächelte, wollte den Schrecken der Überprüfung damit abmildern. Aber er wich meinem Blick aus, wurde rot und sah zu Boden. Nanu? Das war neu. Irritiert wandte ich mich an Paulsen.

  »Was ist los?« Der große Screen an der Stirnseite des Raums zeigte die übliche Karte von Europa an und der Holoprojektor war ausgeschaltet.

  »Die OmnI hat erneut etwas an die Pads gesendet«, sagte er und schaute auf den Tisch. Was sollte das? Seit wann konnten diese Leute mir nicht mehr in die Augen sehen?

  Ich seufzte und streckte die Hand nach dem Pad aus,
das er in der Hand hielt. »Okay. Welche Lügen verbreitet sie diesmal?«

  »Das ist ja das Problem. Es sind keine Lügen.« Nur zögernd reichte er mir das Pad. Ich erwartete eine neue Hetzrede, aber es war nur eine Überschrift und darunter ein kurzer Absatz.

  ∞

  OPHELIA SCALE UND IHRE VORSTELLUNG VON WAHRHEIT

  Sicher habt ihr alle den Auftritt von Ophelia Scale in Brighton gesehen. Diese mitreißende Rede, in der sie sich so voller Leidenschaft zur Abkehr bekannt hat. Wie sie geläutert wurde durch jene »Wahrheiten«, die der verstorbene König ihr nahebrachte. Aber niemand hat sich gefragt, ob dahinter vielleicht noch etwas anderes steckt: ein anderer Grund für diese grenzenlose Loyalität. Wir können euch sagen, welcher Grund das ist. Er hört auf den Namen Lucien de Marais.

  Damit endete der Abschnitt. »Und weiter?« Verwundert sah ich auf.

  »Scroll nach unten«, sagte Jye. Er machte ein Gesicht, als hätte er auf etwas Saures gebissen.

  Mit kalten Fingern schob ich den Text nach oben. Darunter war ein schwarzes Rechteck zu sehen, das heller wurde, sobald es ins Bild kam. Es war ein Video, die Aufnahme eines Zimmers mit dunklen Vorhängen und protziger Einrichtung. In der Mitte stand ein Bett, ein feudales Exemplar mit gepolstertem Kopfteil und weißen Laken. Und darin …

  Ich zog die Luft ein.

  »Sind das …?« Ich brauchte keine Antwort, denn ich erkannte die beiden Personen in diesem Bett sofort. Es waren Lucien und ich, offenbar nackt und sehr beschäftigt miteinander. Das meiste war vom Laken verdeckt, aber es war trotzdem eindeutig, was wir da gerade taten. Oder was die OmnI behauptete, was wir taten, denn es war ein Fake. Ich sah dieses Zimmer zum ersten Mal, wir waren weder je dort gewesen noch hatten wir in diesem Bett Sex gehabt. Aber das war egal. Weil es jetzt so aussah, als wäre ich nur auf Luciens Seite, weil ich mit ihm zusammen war. Und das war eine Katastrophe.

 

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