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Die Sterne werden fallen

Page 38

by Kiefer, Lena

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  »Sag mal, spricht eigentlich etwas dagegen, direkt in mein Bett zu verschwinden, wenn wir in Maraisville sind?« Lucien lehnte gähnend den Kopf gegen seinen Sitz und strich liebevoll über meinen Arm. Das sanfte Brummen der FlightUnit ließ seine Berührung vibrieren.

  Ich lachte. »Du ziehst schlafen deinem wiederauferstandenen Bruder vor? Du bist wirklich ein schlechter Mensch, Lucien de Marais.« Ich wusste, er meinte es nicht ernst. Leopolds und Luciens Wiedersehen vorhin im Gefängnis hatte sämtliche Anwesenden zu Tränen gerührt, sogar Echo. Diese Umarmung von zwei Brüdern, die geglaubt hatten, einander nie wiederzusehen, würde keiner von uns jemals vergessen.

  »Nein, ich bin nur ein furchtbar müder Mensch.« Lucien lehnte sich zu mir und küsste mich rasch.

  »Unglaublich, dass er lebt«, sagte ich danach mit einem Blick auf Leopold. Er wurde noch medizinisch behandelt, während Dufort und Deverose bereits verarztet waren. Die anderen Gefangenen wurden in der von Phoenix am Pier gestohlenen FlightUnit in ihre Heimatländer geflogen, begleitet von Echo. Aber Leopold und Lucien hatten vorher mit ihnen über die OmnI gesprochen und man würde so schnell wie möglich Maßnahmen verhandeln, wie sich die Welt gegen sie und Costard wehren konnte. Was das anging, hatte Phoenix uns einen Gefallen getan: Er hatte alle Regierungen an einen Tisch gebracht. Oder eher in eine Zelle.

  »Ja, ist es. Und ich hatte in den letzten Tagen keine Ahnung, dass er in der Nähe war. Phoenix hat darüber kein Wort verloren.«

  »Ich versteh das nicht«, sagte ich. »Wieso hat er Leopold so lange am Leben gelassen?« So verwahrlost, wie er aussah, hatte Phoenix keine Pläne mit ihm gehabt.

  Lucien hob die Schultern. »Leo sagte vorhin, Phoenix habe ihn wohl aus dem Verkehr ziehen, ihn aber nicht töten wollen. Zum Teil, um so auf sein umfassendes Wissen zugreifen zu können. Und wahrscheinlich hat auch die Loyalität gegenüber unserem Vater eine Rolle gespielt.«

  »Warum wollte er ihn überhaupt aus dem Verkehr ziehen? Hielt er dich für die bessere Wahl?« Das war zumindest der logische Schluss.

  »Er hielt mich für die einfachere Wahl. Leo hatte wohl in der Zeit vor dem Absturz zu viele Gedanken und Ideen, die Phoenix nicht passten. Er erwog sogar, ihn als Chef der Schakale durch Caspar zu ersetzen, also musste Phoenix handeln. Ich habe den Verdacht, er wollte nach dem Absturz zurückkommen und mich beraten, wie er Leo beraten hatte. Aber dann gelangte die OmnI an genau dem Tag zum ersten Mal ans Netz und plötzlich glaubte er wohl, dass sein alter Plan nicht ausreichen würde, um sie aufzuhalten.«

  »Also ist er stattdessen untergetaucht und hat sich das mit Amber Island einfallen lassen.«

  Lucien nickte. »Er wollte uns alle dorthin schaffen, die Raketen zünden und die Insel dann versenken, damit niemand je wieder drankommt.«

  Ich schnappte nach Luft. »Mit euch darauf?«

  »Keine Ahnung. Das hat er mir nicht verraten.«

  Das sah ihm ähnlich. Phoenix war einfach unberechenbar. »Ist es komisch für dich, dass er jetzt wirklich tot ist?«

  »Nein. Sicherlich gibt es einen Teil in mir, der ihn vermissen wird – wie ein Kind einen Vater vermisst, der nie anders als streng und hart zu ihm gewesen ist. Aber ich war die ganze Zeit froh, dass wir ihn los sind. Daran hat sich nichts geändert.« Er atmete tief durch und ich lächelte.

  »Was ist?«, fragte er.

  »Du bist kein König mehr«, flüsterte ich in sein Ohr, damit es sonst niemand hörte.

  »Ich weiß.« Er sah auf und sein Lächeln war so glücklich, wie ich es selten gesehen hatte. »Das bedeutet, wir müssen nur noch die OmnI erledigen und schon können wir uns auf den Weg zu unserer einsamen Insel machen.«

  »Klingt himmlisch.« Nur dass wir für einen Sieg über die OmnI momentan nichts in der Hand hatten. So grausam Phoenix’ Pläne gewesen waren, seine Schlüsse kamen der Wahrheit sehr nah.

  »Fünfzehn Minuten bis zur Landung«, meldete Carla von vorne. Das erinnerte mich an etwas. Zerknirscht sah ich Lucien an.

  »Ich muss dir noch etwas beichten.«

  Er verengte die Augen. »Sag nicht, du hast dir in den letzten Tagen einen neuen Typen zugelegt. Sitzt der etwa auf meiner Couch, wenn ich nach Hause komme?«

  Ich schüttelte den Kopf. »Nein, da sitzt kein Typ, sondern eine Frau. Deine Schwester, um genau zu sein.« Bevor er etwas sagen konnte, sprach ich schnell weiter. »Ich habe Amelie nach unserer Rede am Pier gesehen und mit ihr gesprochen – und später kam sie nach Maraisville, um zu helfen. Ohne sie hätten wir nicht vorhersehen können, was Phoenix im Schilde führt.« Dass sie mir das Leben gerettet hatte, ließ ich aus. Lucien würde noch früh genug erfahren, wie knapp ich Traveres Anschlag entgangen war.

  »Stunt-Girl, hey, es ist okay.« Er lachte. »Du wirst mich nicht davon abhalten müssen, Amelie aus der Festung zu werfen, wenn wir dort ankommen.«

  »Bist du sicher?«, fragte ich. »Schließlich hatte sie sich mit dem Feind verbündet.«

  »Und wenn schon. Es ist dir vielleicht noch nicht aufgefallen, aber ich bin in der Lage, so etwas zu verzeihen.« Er warf mir einen langen Blick zu und sah dann besorgt zu Leopold. »Bei ihm bin ich mir allerdings nicht sicher, ob er sie mit offenen Armen wieder aufnimmt.«

  »Ach, erzähl ihm einfach, dass du sein Refugium zerlegt hast – und schon ist Amelie nur noch Nebensache«, sagte ich leichthin.

  Lucien lachte. »Super Idee. Aber ich glaube, dass er in Zukunft eh nicht mehr dort sein will. Sein Bedarf an düsteren Räumen ist für die nächste Zeit sicherlich gedeckt.«

  Luciens Sorge, wie Leopold auf seine Schwester reagieren würde, war unbegründet gewesen. Kaum hatten wir die Festung betreten, kam Amelie auch schon angelaufen und erstarrte, als sie ihren großen Bruder sah – aber der gab ihr keine Sekunde das Gefühl, nicht willkommen zu sein. Sie standen mitten in der Eingangshalle, Leopold heulte und Amelie heulte noch mehr, und schließlich lagen sich die drei Geschwister in den Armen, und ich heulte ein bisschen mit, während ich die Szene beobachtete.

  »Du bist also doch eines dieser Mädchen«, sagte da plötzlich jemand hinter mir. Ich drehte mich um und erkannte Dufort. Nach seiner Befreiung hatte es nur für eine schnelle Umarmung gereicht, bevor er von Jye in Beschlag genommen worden war. Aber der war jetzt nicht zu sehen.

  »Ich habe nie etwas anderes behauptet.« Schnell blinzelte ich. »Warum auch? Gefühle sind nichts Schlechtes.«

  Er lächelte schief. »Nein, sind sie nicht.«

  »Wie geht es dir?« Ich musterte ihn aufmerksam.

  »Alles in Ordnung. Ein bisschen dehydriert, und diese Spezialmischung von Phoenix ist noch nicht ganz aus meinem Blut verschwunden, aber das wird schon wieder.« Er schaute mich an. »Ich habe gehört, du hast dich gut geschlagen als Oberhaupt dieses Landes.«

  »Wie man es nimmt. Auf der Haben-Seite steht immerhin, dass die Welt nicht untergegangen ist, während ich das Sagen hatte.« Ich zuckte mit den Schultern. »Aber ich schätze, ich bin für den Job nicht gemacht.«

  Dufort grinste. »Na, es sieht nicht so aus, als müsstest du ihn in absehbarer Zeit wieder übernehmen.«

  Da hatte er recht. Es war aber die Frage, ob Leopold seinen Posten behalten würde, wenn wir nicht bald ein Mittel gegen die OmnI fanden.

  Lucien kam zu uns herüber und legte den Arm um mich.

  »Alles gut gegangen«, meldete er, als hätten Dufort und ich der tränenreichen Wiedervereinigung der Marais-Familie nicht beigewohnt. »Amelie organisiert ein kleines Essen zur Feier des Tages. Seid ihr dabei?«

  »Ich dachte, du wolltest direkt ins Bett«, zog ich ihn auf.

  »Später«, raunte er mir ins Ohr. »Erst mal wird gefeiert, dass wir alle am Leben sind. Hast du dagegen etwa Einwände, vorübergehende, jetzt nicht mehr amtierende Regentin?«

  »Überhaupt nicht, ehemaliger König.«

  Vielleicht sollte man das wirklich feiern. Bevor es zu spät war.

  »Auf die Familie!« Leopold hob sein Glas und alle anderen am Tisch taten es ihm gleich. Sein Toast war in so vielerl
ei Hinsicht der richtige. Denn nicht nur seine Familie saß wiedervereint hier in seinen Räumlichkeiten, auch meine war da: Eneas, mein Vater, meine Mutter. Dazu die Leute, die nicht mit uns verwandt waren, aber trotzdem zur Familie gehörten: Jye, Dufort und Echo. Nur Deverose fehlte. Er hatte nach der Rückkehr aus dem Gefängnis die Ruhe seiner Wohnung vorgezogen.

  Es gab leckere Kleinigkeiten aus der Küche und die Stimmung war entspannt. Lucien musste kein König mehr sein, ich musste ihn nicht vertreten, Imogen war auf dem besten Weg, wieder vollkommen gesund zu werden und sogar mit Lynx hatte Leopold gesprochen – auch wenn das laut dem Jungen ein sehr komisches Gespräch gewesen war. Ich hatte ihm versichert, dass sich das noch ändern würde, und ihn dann ins Bett gebracht.

  Wenn ich mich umsah, schaute ich in zufriedene Gesichter – und bekam dabei zunehmend Bauchschmerzen. Das alles fühlte sich nach Happy End an. Aber es war keines. Ja, wir waren alle vereint, und das war gut, mehr als gut. Allerdings waren wir deswegen lange nicht am Ziel.

  Eine Weile hielt ich es noch aus, bis ich doch etwas sagte.

  »Was werden wir jetzt tun?«, fragte ich laut genug, dass es jeder am Tisch mitbekam. Schweigen trat ein, ein Teil der Anwesenden sah Leopold an, der andere Lucien. »Nachdem der Morbus gescheitert ist, brauchen wir einen neuen Plan.« Es sollte nicht wie eine Anklage in Richtung meiner Mutter klingen, aber sie kniff trotzdem die Lippen zusammen. Sie war ein hochgradig perfektionistischer Mensch, deswegen ärgerte es sie sicher höllisch, dass der Morbus nicht funktioniert hatte.

  Lucien und Leopold wechselten einen Blick. »Ich bin noch nicht ganz im Bild, was in meiner Abwesenheit alles passiert ist«, sagte Letzterer.

  Lucien hakte ein. »Wir werden den Kampf nicht aufgeben, nur weil Costard und die OmnI Boden gutgemacht haben.«

  »Paulsen behält die RTCs im gesamten Land im Blick, aber weder die OmnI noch ReVerse scheinen eines davon angreifen zu wollen.« Amelie hob die Schultern und zeigte mir damit, dass sie diesem Frieden ebenso wenig traute wie ich.

  »Wir arbeiten bereits an einer anderen Möglichkeit der Infiltration«, sagte meine Mutter ernst. »Andrew und ich gehen mehrere Möglichkeiten durch, wie wir das neuronale Netz der OmnI mithilfe einer anderen KI angreifen können.«

  Ich kannte diese Theorie schon seit Monaten und hatte sie nie für vielversprechend gehalten. Aber jetzt, wo mein Kopf fast wieder so gut arbeitete wie früher, konnte ich in Sekundenschnelle prognostizieren, dass wir damit nicht zum Ziel kommen würden. »Die OmnI verspeist jede andere künstliche Intelligenz zum Frühstück«, sagte ich und verdarb damit wohl allen die Stimmung.

  »Richtig, aber die Simulation einer ebenbürtigen KI könnte Erfolg haben«, warf mein Vater ein. »Wenn die OmnI, wie du sagst, nicht rein rational agiert, dann wäre ein unmittelbarer Gegner eventuell die richtige Idee, um sie aus dem Kaninchenbau zu locken.«

  »Wir werden uns direkt morgen früh darum kümmern«, versprach mir Leopold und wirkte für einen Moment wieder ganz wie der Alte. »Es gibt immer Wege, das habe ich in der Vergangenheit gelernt. Sogar welche, mich aus einem Gefängnis zu befreien, obwohl ich keinerlei Hoffnung mehr hatte, dass ich es je verlassen würde.«

  Wieder erhoben alle ihre Gläser und man wandte sich anderen Gesprächsthemen zu – die Diskussion um die OmnI war vorerst beendet. Für mich jedoch nicht.

  »Wie soll das gehen?«, fragte ich meinen Dad halblaut, damit nicht jeder andere am Tisch etwas mitbekam.

  »Das weiß ich noch nicht. Aber dank der Scans deiner neuronalen Struktur ist es eventuell möglich, etwas zu konstruieren, das die OmnI für einen echten Gegner hält. Und wenn sie sich darauf stürzt und ihn vernichten will …«

  »… dann führt der in der KI enthaltene Morbus zur Zerstörung der OmnI«, murmelte ich. Das war eine brauchbare Idee. Es gab zu viele Variablen, um ein abschließendes Urteil darüber zu fällen, aber man konnte wenigstens darüber nachdenken. »Meinst du, ich kann daran mitarbeiten?«

  Mein Vater nickte. »Das solltest du sogar. Ich verstehe nicht, warum dich deine Mutter bisher so wenig einbezogen hat.«

  Nur zu gerne hätte ich ihn in dem Glauben gelassen, dass es an ihr lag. Aber dazu war ich wohl mittlerweile zu ehrlich. »Das wollte ich so. Du weißt ja, unser Verhältnis ist nicht das Beste. Wir hätten uns nur in die Haare bekommen, und dann hätte es wahrscheinlich nicht einmal den ersten Morbus gegeben. Außerdem ist sie darin besser als ich. Mein Ding war immer die Hardware.«

  Er lächelte. »Ach, Phee. Wann wirst du verstehen, dass deine Mutter und du euch wahnsinnig ähnlich seid?«

  »Wenn dieser Tag kommt, schwöre ich dir, gehe ich ins Exil.« Ich schnaubte.

  »Wer geht ins Exil?« Lucien lehnte sich zu uns herüber. Er schien seine Unterhaltung mit Amelie fürs Erste beendet zu haben.

  »Ich«, sagte ich schlicht.

  »Kann ich mitkommen?«

  »Immer.«

  »Na, dann los.« Er stand auf, reichte mir die Hand und zog mich von meinem Stuhl. »Wir sind gleich wieder da«, informierte er seine und meine Familie. »Oder eher später. Kommt darauf an, wie weit das Exil weg ist.«

  Verständnislose bis amüsierte Blicke folgten uns, als wir den Raum verließen und auf den Flur traten.

  »Wie subtil du bist«, kommentierte ich unseren Abgang.

  »Ich weiß.« Es waren nur ein paar Schritte bis zu seinen eigenen Räumen, aber kaum fiel die Tür hinter uns zu, änderte sich schlagartig die Stimmung. Wir hatten uns seit Luciens Befreiung keine Minute allein gesehen, und jetzt merkte ich, wie sehr mir das gefehlt hatte, wie sehr er mir gefehlt hatte. Unsere Gespräche, unsere Wortgefechte, der Humor, die Nähe. Ich hatte solche Angst gehabt, ihn nie wiederzusehen, sie aber die ganze Zeit nicht zugelassen. Nun wurden mir die Knie weich, als ich daran dachte, dass er genauso gut in Costards Fängen hätte landen können statt in denen von Phoenix. Und ob der ihn nach dem Raketenstart am Leben gelassen hätte, wusste schließlich auch niemand.

  Ich legte meine Arme um Luciens Mitte. »Das hier ist aber ein ziemlich lahmes Exil.« Wir standen im Flur.

  Lucien lächelte und strich mir über die Wange. »Ich arbeite noch daran, uns ein besseres zu beschaffen. Leider sind die einsamen Inseln hier am Alpenrand eher selten. Und da ich kein König mehr bin, sondern wieder nur ein einfacher Mann, habe ich nicht die Macht, daran etwas zu ändern.«

  »Ein einfacher Mann«, wiederholte ich lachend. »Du bist wirklich vieles, aber das sicher nicht.«

  »Nichts als Gerüchte.« Er tippte mir sanft an die Schläfe. »Und du bist jetzt wieder superschlau?«

  »Sozusagen. Aber ich verspreche, nicht damit anzugeben. Oder nur ein bisschen.« Ich grinste. »Ist das ein Problem?«

  »Für mich? Nein. Ich liebe dich mit jedem IQ-Wert. Außerdem passt das doch gut – ich bin der heiße Typ und du das schlaue Girl. Die Kombination ist unschlagbar.«

  »Da hast du allerdings recht«, sagte ich leise und als Antwort zog er mich in seine Arme.

  »Ich habe mich noch gar nicht für meine Rettung bei dir bedankt«, murmelte er und sein Atem strich über mein Gesicht.

  »Die war völlig eigennützig«, flüsterte ich und fuhr mit den Händen unter seinen Pullover. »Wenn ich dich nicht gefunden hätte, wäre ich ja auf ewig hier gefangen gewesen. Nur weil du so wahnsinnig warst, mich zu Nummer 4 zu machen –«

  »Das war die wohl klügste Entscheidung meines Lebens«, unterbrach er mich leise, die Lippen dicht an meinen, seine Hände längst mit dem Reißverschluss meiner Jacke beschäftigt. Vielleicht hätte ich versucht ihm zu widersprechen, wenn er meinen Mund nicht in diesem Moment mit einem langen Kuss verschlossen hätte.

  Ich zog ihm den Pullover über den Kopf und er mir die Jacke und mein Shirt aus – und mit der Kleidung verschwanden auch die Sorgen Stück für Stück, immer ein bisschen mehr. Sie gingen in der Hitze zwischen uns einfach in Flammen auf.

  Lucien dirigierte mich durch seine dunklen Räume, ohne sich auch nur eine Sekunde von mir zu trennen, bis wir auf die Couch fielen und er
meinen Namen sagte, als hätte er ihn noch nie ausgesprochen. Ich küsste ihn als Antwort erneut, beseitigte das letzte bisschen Stoff zwischen uns und zog ihn an mich, bis kein Gedanke mehr zwischen uns passte. Bis da nichts mehr war außer ihm und mir.

  Und endlich, endlich vergaß ich die Welt da draußen.

  37

  Die Welt blieb draußen, eine wunderschöne Stunde, dann eine zweite. Aber kaum war Lucien neben mir eingeschlafen, holte sie mich wieder ein. Mit voller Wucht.

  Ich wusste nicht, wie oft ich schon in diesem Bett gelegen und nicht hatte einschlafen können – vor Angst, Aufregung oder Sorge. Genauso oft hatte ich geschlummert wie ein Baby, zufrieden und glücklich. Aber daran war heute nicht zu denken. Die letzten Stunden hatten meinen Körper entspannt, nicht aber mein Gehirn. Das arbeitete immer noch, unermüdlich. Ich seufzte und setzte mich auf, lehnte mich an das Kopfteil des Bettes und strich sanft über Luciens Rücken. Er murmelte etwas, schlief aber weiter.

  Ihn wieder bei mir zu haben, war eine unglaubliche Erleichterung. Leopold am Leben zu wissen, eine fast noch größere. Leider konnte keiner von ihnen die Welt retten, keiner von uns konnte das. Vielleicht hatten wir die Asiaten und die Südamerikaner zurück auf unsere Seite gebracht, vielleicht würde das auch mit der Bevölkerung gelingen. Aber da war immer noch die OmnI, beeinflusst von Costard. Selbst wenn die Regierungen dieser Welt ihre Kräfte bündelten, war sie eine unbezwingbare Gegnerin. Weil sie einzigartig war. Wir hatten die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass sie uns unterwerfen konnte. Und nun hatten wir ihr nichts entgegenzusetzen.

  Amelie hatte gesagt, die RTCs wären nicht angegriffen worden, nicht einmal das in Paris. Warum nur? Costard hatte den Aufwand betrieben, mir eine gefälschte Aufnahme von Lucien zu schicken und mich erpresst, unsere Truppen von dort abzuziehen. Und nun nutzte er das nicht? Natürlich hatte ich das Militär keineswegs abgezogen, sondern nur die Tarnung der Soldaten angeordnet, aber das konnte er nicht wissen – und wenn doch, hätte ihn das wahrscheinlich nicht abgehalten, es wenigstens zu versuchen. Wieso also dieses ganze Schauspiel?

 

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