by Kiefer, Lena
»Du warst doch mal wochenlang im Gewand eines anderen unterwegs und anschließend noch König«, flüsterte ich. »Da wirst du doch ein paar Handlanger an der Nase herumführen und ihnen Befehle erteilen können, oder?« In diesem Moment wusste ich, dass ich es aufgegeben hatte, Lucien davon abzuhalten, mich zu begleiten. Wenn wir erst drin waren, würde ich mich darum kümmern, dass er wieder rauskam – und wenn ich ihn eigenhändig durch das Fenster in den See schubste. Aber vorerst brauchte ich ihn.
Er grinste ohne echte Freude. »Du forderst mich heraus?«
»Nein«, sagte ich ernst. »Ich bitte dich um Hilfe.« Denn die hatte ich nötig. Ich hatte vielleicht mein Gehirn, aber nicht Luciens Erfahrung mit Soldaten oder solchen Situationen.
»Das ist das erste Vernünftige, was ich in der letzten Stunde von dir gehört habe.« Ich sah, wie er über seine EyeLinks die Tarnfunktion in seinem Implantat aktivierte und kurz abcheckte, ob die Anwesenden ebenfalls Links trugen. Dann beugte er sich vor und küsste mich hastig. »Showtime.«
Lucien, nun wieder in der Gestalt von Emile, und ich wagten uns aus der Deckung, gingen auf die Meute zu, als wären wir nur kurz weg gewesen. Blöd, dass Costards Optik nicht in Luciens Implantat gespeichert war. Dann wäre das hier ein Kinderspiel gewesen.
Die ersten fünfzig Meter schafften wir jedoch auch so, ohne dass uns jemand ansprach. Es war dunkel genug, um mein Gesicht nicht klar erkennen zu können – sodass auch ich trotz der Aufnahmen von mir am Pier sicher sein sollte, denn da war ich völlig anders zurechtgemacht gewesen. Wenn wir also auf niemanden trafen, der mir bereits in solchen Klamotten begegnet war, dann –
»Hey, Adair«, rief jemand uns zu und kam angejoggt, bevor er seinen Fehler bemerkte. »Oh, du bist es gar nicht. Sorry.«
Scheiße. Das war Scott Wulff. Und dem war ich sehr oft begegnet, viel zu oft, um mich nicht zu erkennen. Sofort senkte ich den Blick und trat in Luciens Schatten.
»Passiert mir öfter«, lächelte Lucien. »Vielleicht sollte man mal Adairs Mum fragen, ob sie meinen Dad kennt.« Wenn er gewusst hätte, dass sein Gegenüber jeden Abend die wildesten Tötungsfantasien über ihn zum Besten gegeben hatte, würde er auch dann noch einen auf Kumpel machen? Die Antwort lautete Ja. Weil er Profi war.
»Solltest du.« Wulff lachte. »Bist du von der Einheit aus Toulouse?«
»Toulouse? Du brauchst dringend eine aktuelle Karte, Mann.« Es gab keine Einheit, die zuletzt in Toulouse gewesen war. Zum Glück wusste Lucien das. »Ich war drüben in Spanien, bei Santiago. Da war es schöner als hier, aber wenn Costard befiehlt, dann folgen wir, nicht?«
»Richtig. Dem Boss sollte man nicht widersprechen.« Wulff zeigte hinter sich. »Hast du Bock auf ein Bier? Mein Bruder hat immer was da.«
»Später vielleicht. Ich hab noch was vor.« Er berührte mich am Arm.
Ich sah immer noch nicht auf, aber Wulffs Blick spürte ich trotzdem auf mir. Sein Lachen war dreckiger als die Zelle, aus der ich Leopold befreit hatte. »Verstehe. Na, dann mal viel Spaß. Wenn du fertig bist, sag Bescheid, vielleicht hat die Kleine ja Lust auf eine Zugabe.«
»Klar.« In Luciens Stimme war keine Spur Zorn zu hören. »Bis später.«
Wir gingen weiter.
»Und, wie schwer war es, ihm nicht das Gesicht zu zertrümmern?«, fragte ich leise.
»Kommt darauf an, wie weit geht denn die Skala?«
»Bis zehn.«
»Dann ungefähr dreitausend«, murmelte er.
Ich drückte liebevoll seinen Arm als Antwort.
Es gab noch zwei solcher Begegnungen, aber wir überstanden sie dank Lucien alle ohne Probleme. So schafften wir es einmal um das Gebäude herum und suchten nun nach einem Wachmann, der sich außerhalb des Sichtfeldes der anderen befand. Wir hatten Glück: Es gab einen. Er stand am Ufer in der Nähe einer der Zugänge, abgeschirmt durch ein paar Bäume. Lucien trat auf die Tür zu und wurde, wie erwartet, von dem Söldner aufgehalten.
»Niemand geht da rein«, sagte er streng. »Befehl von ganz oben.«
»Von ganz oben? Wer soll das denn sein?« Lucien fragte es belustigt und arrogant, so als wäre er der Boss.
»Na, von Wulff natürlich.«
»Von Scott Wulff?« Ich trat aus dem Schatten. Lucien wusste Wulffs Namen nicht einzuordnen und das Risiko, dass mich der Wächter erkannte, war gering. »Das ist doch nicht ganz oben. Costard ist ganz oben. Und der will, dass wir da drin nach dem Rechten sehen.«
Der Kerl schüttelte den Kopf. »Nein. Ich lasse niemanden da rein.«
»Okay«, nickte ich. »Schon klar. Aber hast du schon mal was von thermischer Überlastung durch triholodekadische Zyklen gehört? Nein? Ist übel. Wenn die OmnI das trifft, dann war es das mit ihr, mit dir und mit allem in hundert Kilometern Umkreis. Willst du so was riskieren?« Jetzt mach schon. In Büchern funktionierte so ein Coup doch schließlich auch immer.
Lucien trat noch einen Schritt näher an den Kerl heran. »Du wirst uns jetzt öffnen. Sofort.« Er sagte es mit Nachdruck, so als würde jede Widerrede sehr ernste Konsequenzen nach sich ziehen. Der Söldner schien verunsichert von unseren Worten, trotzdem war er nicht überzeugt. Aber bevor er den Mund aufmachen konnte, hatte Lucien schon seinen Kopf gepackt, war hinter den Kerl geglitten und legte ihm den Arm um den Hals. Sein Opfer wehrte sich gegen die Atemnot, aber dann schloss er die Augen und wurde bewusstlos. Ich sah mich schnell um, aber niemand schien unser Manöver bemerkt zu haben.
»Das hat mir echt zu lange gedauert.« Lucien hielt den Söldner fest, ich nahm dessen Arm und hielt den WrInk neben die Tür. Es klackte leise, dann zog ich sie auf. Lucien schleifte den Söldner hinein und ließ ihn auf dem Boden liegen. Wir zogen beide unsere Waffen. Die Tür schloss sich und es wurde still.
Zu still.
»Wieso ist hier niemand?« Die Halle, in der wir standen, war hell erleuchtet, aber es war keine Menschenseele zu sehen. Das passte zu dem, wie der Söldner sich verhalten hatte – offenbar wollte Costard keine ReVerse-Leute im Gebäude. Aber ich hatte erwartet, dass trotzdem ein paar Söldner oder Widerständler hier wachten.
»Nicht fragen, Stunt-Girl. Freuen.« Ich merkte Lucien an, dass er sich trotzdem Sorgen machte. Vor allem, weil er seine Tarnung deaktiviert hatte und nun wieder wie er selbst aussah. »Wo glaubst du, ist sie?«
Ich hatte mir die Pläne lediglich kurz angesehen, aber es hatte gereicht. »Es gibt nur eine Möglichkeit – oben, wo die Technik für die Schnittstelle installiert ist. Woanders kann sie nicht sein.«
»Dann los.«
Ich ging vor, weil ich mir den Weg eingeprägt hatte, Lucien blieb dicht hinter mir, um uns gegen Verfolger abzusichern. Meine Waffe hielt ich fest umschlossen, zu allem bereit. Troy war der einzige Mensch, den ich je selbst getötet hatte, und ich wollte diese Liste nicht verlängern. Aber wenn es nötig sein sollte, würde ich es tun.
Das ganze untere Stockwerk war wie leer gefegt und wir schafften es zügig über eine der Treppen bis in die obere Etage. Niemand hinderte uns daran, niemand tauchte auf. Bis wir in den Flur abbogen, an dessen Ende der Raum mit der Schnittstelle lag – und damit auch die OmnI.
»Halt!«, rief jemand, und vier schwarz gekleidete Leute kamen auf uns zu, die Waffen im Anschlag. Ich drehte auf dem Absatz um und wollte in die andere Richtung, aber von dort kamen auch welche und versperrten den Weg. In kürzester Zeit hatten sie Lucien und mich in der Zange. Wir drehten einander den Rücken zu, um beide Gruppen im Auge zu behalten, ich spürte Luciens Muskeln an meinem Arm und griff nach seiner Hand. Wir mussten kämpfen. Es waren viele, aber mit etwas Glück –
»Sie hat gesagt, dass du kommen würdest«, rief da eine Stimme, die mir schmerzhaft vertraut war. Die Gruppe von ReVerse-Leuten teilte sich und Knox trat hindurch. Er hatte eine Waffe in der Hand, aber im Gegensatz zu seinen Kollegen richtete er sie nicht auf mich, sondern hielt sie locker an der Seite. Noch. »Sie hat allerdings nicht gesagt, dass du ihn mitbringen würdest.«
»Hallo, Knox.« Ich hob das Kinn. »Oder soll ich lieber Nicholas sagen?«
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bsp; »Du kannst sagen, was du willst«, antwortete er, und seine Gesichtsmuskeln spannten sich an. »Das ist mir völlig egal.« Er gab seinen Leuten einen Wink und sie nahmen uns die Waffen ab.
»Ist es nicht.« Man musste nicht ich sein, um das zu erkennen. Knox mochte mich mittlerweile aufgegeben haben, aber egal war ich ihm nicht. »Was hast du vor? Willst du mich erschießen? Nach allem, was passiert ist, lässt du dich für den Mord an mir einspannen?«
»Was zwischen uns war, ist lange vorbei, Phee.« Sein Blick wanderte zu Lucien. »Sehr lange.«
»Das stimmt. Aber im Gegensatz zu dir hatte ich noch nie das Bedürfnis, dich umzubringen. Und das, obwohl du auf der falschen Seite stehst.«
»Auf der falschen Seite!« Knox schnaubte. »Glaubst du wirklich, dass du die Richtige bist, um zu entscheiden, welche Seite die falsche ist?«
Ich hob die Schultern. »Keine Ahnung. Allerdings sagt mir meine Erfahrung in diesen Dingen, dass selten die Seite richtig ist, welche die Vernichtung der Menschheit vorsieht.«
Er lachte. »Das denkst du? Himmel noch mal, Phee. Die OmnI hat nicht vor, irgendjemanden zu vernichten. Sie will dafür sorgen, dass wir endlich in Frieden leben können.«
»Ja, vielleicht will sie das sogar. Aber ich denke nicht, dass Costard sie lässt.« In Knox’ Gesicht zuckte es, und ich ahnte, dass er mehr wusste. »Was hat er mit ihr gemacht? Wie hat er sie dazu gebracht, die Leute in Paris umzubringen?« Als Costard mir vorgemacht hatte, er habe Lucien verprügelt, sagte er, die OmnI stünde unter seiner Kontrolle. Mir war das lächerlich vorgekommen, aber wenn ich Knox nun ansah, dann glaubte ich plötzlich, dass daran etwas Wahres sein könnte.
Mein Ex-Freund holte Luft, aber dann stieß er sie wieder aus. »Das spielt keine Rolle. Du bist hier, um sie zu zerstören. Und ich werde dich daran hindern.«
»Nein, wirst du nicht«, meldete sich da Lucien zu Wort.
»Ach, halt doch die Klappe, de Marais!«, schnauzte Knox. »Hast du noch nicht genug kaputt gemacht?« Er hob seine Waffe und richtete sie auf Lucien. Sofort schob ich mich dazwischen. Es war sinnlos, weil um uns herum zehn ReVerse-Leute mit gezogenen Waffen standen. Aber die Botschaft kam an.
»Du würdest für ihn sterben?«, fragte mich Knox.
»Ohne zu zögern«, sagte ich. »Und genauso würde ich für dich sterben und für alle anderen Menschen auf der Welt. Um ehrlich zu sein, ist genau das der Plan. Sobald du mich zur OmnI lässt.«
Er umfasste seine Waffe fester. »Noch ein Grund, dich davon abzuhalten.«
»Warum? Weil mein Leben dir irgendetwas bedeutet? Knox, verdammt noch mal, denk nach! Egal, ob die OmnI oder Costard hier das Sagen haben, jemand muss sie aufhalten! Willst du nicht, dass deine Mum in Frieden leben kann? Oder Jye? Oder alle unsere Freunde in Brighton? Dann lass mich gehen. Bitte. Lass mich das beenden.«
Er antwortete nicht, aber ich sah ihn auch keinen Befehl geben.
Doch plötzlich befanden wir uns mitten in einem Kampf, der so rasch gekommen war, dass ich vermutete, Lucien habe ihn angezettelt. Ich reagierte blitzschnell und schlug den beiden nächsten ReVerse-Leuten die Waffen aus der Hand. Sie fielen über das Geländer nach unten, aber das machte die Typen nicht wehrlos. Im Gegenteil, damit fing es erst richtig an.
Es war ein unfairer Kampf – aber nicht für uns. Luciens Erfahrung und meine Fähigkeit, die Schläge der anderen vorherzusagen, brachte uns einen ungerechten Vorteil. Wir kämpften, als wären wir eine Person, jeder Tritt, jede Bewegung saß. Es war meine Abschiedsvorstellung, und sie war nach meinem Geschmack: keine Waffen, nur Körper, Muskeln, Tempo und Intelligenz. Wir gewannen mit Bravour, und wir taten es, ohne ein einziges Leben zu nehmen. Als wir mit ihnen fertig waren, stand nur noch Knox vor uns. Er hatte nicht gekämpft, aber er hielt immer noch seine Waffe in der Hand. Unschlüssig. Fast schon hilflos.
»Knox, ich flehe dich an«, keuchte ich. »Lass mich zu ihr.«
Er sah mich an, und ich wusste, in unseren beiden Köpfen liefen die gleichen Bilder ab. Wie wir uns kennengelernt, wie wir uns verliebt hatten. Wie wir für etwas gekämpft hatten, das unsere Wahrheit gewesen war. Und wie sich unsere Wege getrennt hatten, weil diese Wahrheit sich für mich verändert hatte. Aber wir kannten einander immer noch. Und er wusste, dass er mir vertrauen konnte, obwohl ich ihn verraten hatte.
»Bitte, Knox.«
Für eine Sekunde regte sich niemand.
Dann trat Knox zur Seite.
»Gerade noch rechtzeitig«, ertönte es da hinter uns. Lucien und ich fuhren herum – und beinahe hätte ich geschrien vor Wut. Exon Costard kam auf uns zu, in Begleitung zweier seiner Leute. »Ophelia. Lucien. Ich erinnere mich nicht daran, euch eingeladen zu haben.«
»Wir wussten nicht, dass Sie so einen Wert auf Etikette legen«, sagte Lucien. »Oder hat man Sie etwa dazu eingeladen, sich zum Herrscher über Europa aufzuschwingen?«
Costard lachte. »Europa? Nein, mein Lieber, ich habe doch etwas größere Pläne.«
Ich funkelte ihn an. »Haben Sie nicht gerade Wichtigeres zu tun? Maraisville einzunehmen zum Beispiel?«
»Und meine wichtigste Waffe dir überlassen? Ich bitte dich. Das wäre doch sehr dumm von mir.« Er musterte mich mit kaltem Hass und Lucien mit noch etwas mehr.
»Sie haben die OmnI manipuliert«, sagte ich. »Damit sie tut, was immer Sie von ihr wollen.«
»Falsch. Ich habe ihr nur klargemacht, dass Menschen einen enttäuschen können – und man sie dafür bestrafen sollte.« Ich bedachte ihn mit einem tödlichen Blick und er lachte. »Falls du gerade darüber nachdenkst, ob du mich umbringen und sie damit von meinem Einfluss befreien kannst … vergiss es. Deinen Verrat habe ich ihr so tief eingeschrieben, dass niemand ihn je wieder entfernen kann.« Dann sah er zu Knox. »Nicholas, bitte erledige dieses Problem. Wir haben einen sehr straffen Zeitplan, wie du weißt. Maraisville soll bei Morgengrauen uns gehören und diese kleine Störung bringt das doch ein wenig in Gefahr.«
Knox hob wieder seine Waffe und richtete sie auf uns, aber ich sah in seinen Augen, dass er es nicht tun wollte.
»Nicholas«, wiederholte Costard drohend.
»Knox«, sagte ich bittend.
Sein Blick verließ das Tal aus Hilflosigkeit und betrat den Pfad der Erkenntnis. Ich konnte sehen, dass er ahnte, dass er wusste, was richtig war. Im nächsten Moment riss er den Arm herum und plötzlich zeigte die Mündung seiner Waffe auf Costard. Ein Schuss knallte, verhallte unter der hohen Decke. Aber es war nicht Costard, der zusammenbrach.
»Nein!«, rief ich.
Neben mir bewegte sich jemand, schneller als ich es erfassen konnte. Ein, zwei, drei weitere Schüsse. Ich fuhr herum und sah, wie Costard und seine Leute zu Boden gingen. Lucien stand neben mir, die Waffe nach vorne gerichtet. Neben dem Griff sah ich rot schimmernde Projektile. Das war die tödliche Munition. Und damit war Costard Geschichte.
Aber nicht nur er.
»Knox!« Ich rannte zu ihm und fiel auf die Knie, rief seinen Namen, rüttelte an seinem Körper wie an einer viel zu großen Stoffpuppe. Aber es war zu spät. Er war bereits tot, längst nicht mehr ansprechbar. Er konnte nicht mehr hören, dass ich ihn anbettelte, die Augen aufzuschlagen und mich anzusehen. Als es mir klar wurde, holte ich Luft. Und am liebsten hätte ich geschrien, so laut ich konnte. Damit jeder hörte, wie viel Schmerz Costards Feldzug über uns brachte, wie viel Leid. Und dass es nie enden würde, wenn ich dem nicht ein Ende machte.
»Es tut mir so leid«, murmelte Lucien. Er hockte sich neben mich. »Ich hätte –«
»Du hast uns gerettet. Das ist alles, was du tun konntest.« Ich strich mir meine Tränen aus dem Gesicht. »Wir haben wenig Zeit.« Die NanoLinks in meinem Kopf halfen mir das zu erkennen. Knox war fort. Ich konnte ihn nicht zurückholen, indem ich bei ihm blieb und darauf wartete, dass mich ebenfalls jemand umbrachte. »Ich danke dir für alles«, flüsterte ich dem Jungen zu, der mich ins Licht geholt hatte, als ich in sehr dunklen Zeiten gefangen gewesen war. Dann küsste ich ihn sanft auf die Stirn und stand auf.
Unter uns schl
ugen Türen, die Schüsse waren nicht ungehört geblieben. Lucien nahm meine Hand und ohne ein weiteres Wort liefen wir zu der breiten Tür am Ende des Ganges. Daneben war eine Fensterreihe, die zum See zeigte. Schnell öffnete ich eines davon und lehnte mich heraus, sah nach unten. Aber das Wasser begann erst in zwanzig Metern Entfernung. Viel zu weit, um zu springen.
Fassungslos drehte ich mich um. »Du hast das gewusst, oder?«
»Was gewusst?«, fragte Lucien mit einem schiefen Lächeln.
»Dass du nicht aus dem Fenster entkommen kannst!«, rief ich verzweifelt. »Du hast mich angelogen!«
Er nickte. »Richtig. Ich schätze, ich hatte noch etwas gut von den drei Monaten, in denen du mir verschwiegen hast, dass du meinen Bruder umbringen willst.« Er sah zu der Tür und lauschte dann auf das Trampeln im Gebäude, das unsere Verfolger ankündigte. »Wie viel Zeit wirst du brauchen, um die OmnI zu erledigen? Mehr als zehn Minuten kann ich dir wahrscheinlich nicht verschaffen. Ich bin gut, aber –«
»Was? Nein!« Geschockt starrte ich ihn an. »Luc, nein! Du findest einen Weg hier raus, du kannst die Seitentreppe nehmen oder an der Fassade runterklettern, irgendwas! Aber du wirst hier verschwinden!«
»Selbst wenn – die sind in vier Minuten bei Costard, in fünf hier, in fünfeinhalb in diesem Raum, um dich zu erschießen. Du brauchst mehr Zeit und ich kann sie dir geben.«
Heftig schüttelte ich den Kopf. »Auf keinen Fall! Du darfst nicht sterben!«
»Nein, Ophelia, ich kann nicht leben. Nicht ohne dich.« Er kam zu mir und nahm mein Gesicht liebevoll in beide Hände. »Im Ernst: Wofür sollte ich lieber sterben als für dich? Und für das, was du tun willst, um die Menschheit zu retten? Entweder ich oder alle anderen. Es wird dich überraschen, aber trotz meines riesigen Egos ist das eine überraschend leichte Entscheidung.«