by Kiefer, Lena
Ich wollte den Schrank schließen, als ich aus dem Augenwinkel etwas wahrnahm und zu Tode erschrak. Im Rahmen der Tür stand jemand und seine Worte klangen wie ein Knurren.
»Was zur verfluchten Hölle tust du da?«
38
Ich fuhr erschrocken herum und wollte meinen Arm mit der Waffe hochreißen, reiner Reflex. Doch stattdessen machte er schmerzhafte Bekanntschaft mit der Schranktür. Ich fluchte laut.
»Scheiße, hast du mich … was machst du hier?«
»Was ich hier mache?« Lucien starrte mich wütend an. »Hast du ernsthaft geglaubt, du könntest diese Nummer zweimal abziehen? Mich nachts schlafend im Bett zurücklassen, um allein irgendeine Kamikazenummer durchzuziehen? Für wie dämlich hältst du mich eigentlich?!«
Ich versuchte immer noch, zu Atem zu kommen. Das war nicht geplant gewesen. Wie sollte ich ihm das nur erklären? »Immerhin will ich diesmal nicht deinen Bruder umbringen«, versuchte ich mich an einem Witz, um Zeit zu gewinnen.
»Wie beruhigend«, murrte Lucien. »Wen denn dann?«
»Die OmnI.«
»Die … okay.« Seine Augen wurden groß. »Hat es etwas damit zu tun, dass alle Systeme offline sind? War sie das?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Das war ich.«
»Du hast die Stadt lahmgelegt? Warum?«
»Damit sie die Systeme nicht übernehmen kann. Was längst passiert wäre, wenn diese Notabschaltung es nicht verhindert hätte.«
»Das heißt, sie ist hier? Und du willst jetzt losziehen und sie zur Strecke bringen?«
Ich nickte.
Lucien verengte die Augen. Er sah im kalten Licht meiner Taschenlampe unglaublich ernst aus.
»Wann zum Teufel ist dir eingefallen, dass du so was ohne mich machen willst? Wusstest du es schon, als wir vorhin miteinander geschlafen haben? Oder ist dir die Idee danach im Traum erschienen?«
»Sei nicht so ein Idiot«, tadelte ich ihn. Ich wusste, es ging ihm nicht um sein verletztes Ego, auch wenn es so klang. Er hatte Angst. Genau die Angst, die ich ihm hatte ersparen wollen.
Lucien schnaubte. »Vielleicht bin ich ein Idiot, aber ich liebe dich auch. Sorry, das gibt es nur im Paket.« Er kam näher und seine Stimme wurde weich. »Rede mit mir, Stunt-Girl. Sag mir, was los ist. Wieso glaubst du, du musst das allein machen?«
Ich seufzte. »Du bist erst heute aus Phoenix’ Gefangenschaft befreit worden, und ich dachte, du wärst vielleicht nicht in der Lage –«
»Bullshit«, unterbrach er mich. »Ich war fünf Monate ein Gefangener meines Amtes, dagegen sind diese paar Tage nichts. Und du kennst mich gut genug, um zu wissen, dass ich die erste Gelegenheit nutzen würde, um hier rauszukommen und endlich wieder etwas Nützliches zu tun.«
»Nur weil du kein König mehr bist, bedeutet das nicht, dass du wieder ein Schakal sein musst«, versuchte ich es weiter. »Das ist jetzt nicht mehr dein Job.«
»Deiner auch nicht.«
»Doch. Niemand außer mir kann das erledigen. Und du kannst mir dabei nicht helfen.«
»Natürlich kann ich das. Ich kann vielleicht nicht gegen die OmnI antreten, aber ich kann dich beschützen, während du es tust. Dafür sorgen, dass du heil wieder nach Hause zurückkommst.«
Ich schüttelte den Kopf und suchte nach Worten. Irgendwie musste ich ihn davon abhalten, mich zu begleiten. Wenn er mitkam, würde ich ihm die nächsten Stunden vormachen müssen, dass es für mich eine Rückkehr nach Maraisville geben würde. Aber die gab es nicht. Und für ihn genauso wenig, wenn er mitkam. Denn auch wenn er sich nicht mit der OmnI verbinden würde … da waren immer noch Costards Leute, da war ReVerse. Es war eine Selbstmordmission, auf die eine oder andere Art. Und ich wollte, dass Lucien lebte.
Plötzlich veränderte sich der Ausdruck auf seinem Gesicht. Als hätte ich meine Gedanken laut ausgesprochen, verwandelte sich die Mischung aus Ärger und Angst in eine aus Panik und Verzweiflung.
»Du willst gar nicht zurückkommen«, sagte er zu sich selbst. Dann atmete er ein. »Du willst nicht zurückkommen?!«, rief er plötzlich so laut, dass ich zusammenzuckte. »Du wolltest klammheimlich von hier verschwinden, um die OmnI zu vernichten und dabei draufzugehen?! Scheiße, Ophelia! Wie kannst du das einfach so beschließen?!«
Ich presste die Lippen aufeinander, aber sie bebten trotzdem. »Es ist die einzige Möglichkeit! Sie steht praktisch vor den Toren von Maraisville, und Costards Leute werden ihr in den nächsten Stunden folgen. Wenn ich sie nicht aufhalte, endgültig aufhalte, dann ist die ganze Welt verloren!«
»Es gibt andere Möglichkeiten!«, hielt er dagegen. Ich sah, dass seine Hände ruhelos in der Luft herumhuschten, als wollte er mit ihnen diese Alternative zu fassen bekommen. »Es muss eine andere Möglichkeit geben!«
Wieder schüttelte ich den Kopf. »Nein. Wir haben keine Zeit für andere Wege. Sobald sie in Maraisvilles Systeme eindringt und damit die Möglichkeit hat, das Netz zu vervollständigen, können wir nichts mehr tun, außer alle Technologie der Welt abschalten oder zerstören, so wie Phoenix es vorhatte. Das wären Milliarden von Toten. So … ist es nur einer. Nur eine.«
Kurz war es still.
»Aber diese Eine bedeutet mir alles«, flüsterte Lucien. Ich hielt die Verzweiflung in seinen Augen kaum aus.
»Genau wie jeder andere dieser Milliarden jemandem alles bedeutet«, brachte ich heraus. Der Schmerz in meiner Kehle erstickte mich fast. »Bitte, Luc. Du weißt, es ist das Richtige.«
»Nicht für mich. Oder dich.«
»Das stimmt. Aber ich kann nicht all diese Menschen zum Tode verurteilen, nur weil ich dich liebe und du mich.« Ich lächelte unter Tränen. »Das ist selbst für meine Verhältnisse zu egoistisch.«
Lucien kämpfte mit diesen Worten einen stummen Kampf, und ich umarmte ihn, weil ich nicht ertragen konnte, ihn so zu sehen. Er umklammerte mich mit all seiner Verzweiflung, als könne er mich so bei sich behalten. Aber dann ließ er mich plötzlich los, wischte sich über die Wangen und ich sah, wie sein Schmerz etwas anderem Platz machte: Entschlossenheit. Seine Schultern gingen nach hinten, sein Rücken wurde gerade. Dann zeigte er zur Tür. »Ich gehe mich umziehen.«
»Was? Nein, du kommst nicht mit! Ich flehe dich an –«
»Hör auf damit!«, fuhr er mich an. »Du kannst vielleicht allein entscheiden, dass du dich opferst, aber du entscheidest nicht über mich! Du kannst mir nicht verbieten, dein Leben zu verteidigen, solange es geht – dich zu beschützen, solange ich kann. Also kannst du jetzt Zeit verschwenden und versuchen, mich davon abzuhalten. Oder du akzeptierst es und lässt mich mitkommen.«
Ich schwieg und wusste genau, was in seinem Kopf vorging: Er hoffte, meinen Tod verhindern zu können, indem er mich begleitete. Und ich brachte es nicht übers Herz, ihm zu sagen, dass auch der beste Schakal nichts daran ändern konnte, wie diese Geschichte ausging. Ich konnte mich hier und jetzt nicht von ihm verabschieden. Ich konnte es einfach nicht.
»Okay.« Ich nickte.
»Gut. Sehr gut.« Er stieß die Worte aus, hart und schnell, dann küsste er mich auf die gleiche Weise und deutete zur Tür. »Komm, wir müssen ein paar Sachen besorgen.«
»Ich habe das Depot abschalten lassen«, informierte ich ihn, ihm über den Flur nacheilend.
»Ich muss nicht ins Depot.« Er stieß eine Tür auf und legte die Taschenlampe auf den Tisch in der Mitte. Dann zog er zwei Schränke auf, in denen sich schwarze Klamotten türmten. »Wo ist die OmnI?«
»Am Lago nahe bei Dasco, im Wasserwerk dort. «
Luciens Blick zeigte Erkennen. »Sinnvolle Entscheidung von ihr. Nah genug dran und doch weit genug weg. Und das Ding ist ein verdammter Bunker mit der richtigen technischen Infrastruktur. Was ist dein Plan?«
Ich hob die Schultern. »Hinfliegen und mich dort reinschleichen.«
»Du hast also keinen Plan.« Er zog Pullover und Shirt aus und nahm die Einsatzkleidung. Innerhalb weniger Augenblicke hatte er sich umgezogen, seine Waffe am Gürtel befestigt, eine zweite in der Halterung an seinem Bein verstaut und so
viele Magazine eingesteckt, dass ich hoffte, Maraisville blieb noch ein bisschen Munition übrig. Manche Routinen verlernte man wohl nie.
»Mein Kopf übernimmt das schon, wenn es so weit ist.« Ich hatte keine Zeit gehabt, irgendwelche Parameter zu checken und hundert Eventualitäten abzuwägen. Wenn ich vor Ort war, würde ich schon wissen, was ich zu tun hatte.
Lucien schnaubte. »Dein Kopf ist aber kein Transportmittel, oder? Wie wolltest du dort hinkommen?«
»Per FlightUnit. Oder ich nehme einen der Jacks. Tarnmodus an, auf dem Dach des Wasserwerks landen, über den oberen Zugang rein, fertig.« Dem skeptischen Ausdruck in Luciens Gesicht nach zu urteilen, war das wohl nicht die beste Idee. »Raus damit«, seufzte ich und nahm eines der Interfaces aus einem Fach im Regal. »Was gefällt dir daran nicht?«
»Alles.« Lucien zurrte sein Holster fest und band seine Haare zusammen. »Eine FlightUnit ist zu sperrig, ein Jack zu anfällig, der Tarnmodus nicht mehr sicher. Das heißt, wenn wir Pech haben, schießen sie uns ab, bevor wir auch nur in die Nähe kommen.«
»Das weiß ich«, sagte ich bockig, obwohl es nicht der Wahrheit entsprach. Wenn ich ehrlich war, hatte ich mir noch keine Gedanken gemacht, wie ich zu dem Werk kommen wollte. Aber ich hätte einen Weg gefunden, denn das Zeug in meinem Gehirn machte mich nicht schlauer als die OmnI, aber schlauer als jeden Menschen. »Ich wollte das nach und nach entscheiden, okay?«
Er grinste schief. »Dann ist es ja gut, dass du mich dabeihast. Ich kenne einen besseren Weg.«
Ich lächelte. »Und der wäre?«
Er trat vor und küsste mich. Eine Menge Hoffnung lag darin, und es war so unendlich verführerisch, sie ebenfalls empfinden zu wollen.
»Wir gehen durch den Tunnel.«
Der Eingang zu besagtem Tunnel lag hinter der Stadtgrenze. Genauer gesagt, weit oben im Wald, wo der Hang furchtbar steil war und die Bäume jedes Restlicht schluckten. Wir hatten im Fahrzeuglager der Festung eins der Geländevehikel gekapert, die man selbst steuern konnte und die mit so ziemlich jedem Untergrund zurechtkamen. Damit waren wir ohne Probleme, jedoch gut durchgeschüttelt, am Zaun angekommen. Dahinter war es ruhig, aber das wunderte mich nicht. Selbst wenn Costard schon in der Nähe war, von hier aus würde er Maraisville sicher nicht einnehmen wollen.
Lucien öffnete mit seinem WrInk einen unsichtbaren Durchgang im Zaun, der mir niemals aufgefallen wäre, auch nicht bei Tageslicht. Dann stieg er wieder ein und wir fuhren noch ein Stück, bis vor uns ein dunkles Loch im Berg auftauchte. Wir tasteten uns ohne Beleuchtung mit dem Wagen voran, um keine Aufmerksamkeit zu erregen. Dann hielt Lucien an.
»Ich muss erst aufschließen.«
»Aufschließen?« Das klang so altmodisch, dass ich neugierig wurde. Ich kletterte über die halbhohe Tür des Fahrzeugs und folgte Lucien.
Das Licht seiner Taschenlampe huschte über die Wände der Tunnelröhre und fiel schließlich auf ein massives Eisengitter, das uns den Weg versperrte. Lucien ging zu einem in der Wand verborgenen Zugangspanel und gab einen ellenlangen Code ein, bevor er die Eingabe mit seinem WrInk bestätigte. Das Gitter gab ein hässliches Knirschen von sich, als es nach innen aufschwang.
»Gut, dass alles außerhalb der Stadtgrenze autark arbeitet. Sonst hätten wir es aufbrechen müssen.«
»Wofür war das hier früher?«, fragte ich. Die Wände wirkten nicht so alt, als wären sie schon vor Jahrhunderten in den Fels getrieben worden, aber trotzdem irgendwie unfertig.
»Es war ein Versorgungsschacht für den SuperRail, der durch Maraisville führen sollte, bevor es … na ja, Maraisville wurde. Die Strecke sollte Rom und Paris verbinden, aber dann hat Leopold die Route ändern lassen. Deswegen gibt es das alte Ding noch, aber niemand benutzt es.« Lucien ging zurück zum Wagen und schwang sich hinein. »Mylady? Wie wäre es mit einer romantischen Fahrt durch die Berge?« Er griff nach meiner Hand und umschloss sie fest. Dann reichte er mir eins der Atemluftpacks mit Maske, die wir mitgenommen hatten.
»Du meinst wohl, durch das Innere der Berge.« Ich nahm ihm seine aufgesetzte Heiterkeit nicht übel. Sie war mir lieber als jene tiefe Traurigkeit, die ich vorhin in der Festung in seinen Augen gesehen hatte.
Im Tunnel klang das Geräusch unseres Gefährts unheimlich laut, jede Bodenwelle, jede Unebenheit erzeugte einen dumpfen Knall, jeder lose Stein hallte wie ein Schuss von den Wänden wider.
Während wir uns ausgerüstet und den Tunnel gesucht hatten, war ich abgelenkt gewesen, aber jetzt kehrten meine Gedanken zurück, alle furchtbaren Konsequenzen dieses Unternehmens. Denn einen Nachteil hatten die NanoLinks in meinem Kopf: Verdrängen war schwerer als vorher. Ich versuchte zwar, wegzuschieben, wo diese Reise für mich enden würde und dass ich dabei so viel mehr verlieren würde als mein Leben. Aber all das kam immer wieder zurück, packte mein Inneres mit eiserner Faust, ertränkte mein Herz mit kalt glühender Angst. Hätte es sich nicht heldenhafter anfühlen müssen, die Welt zu retten? Weniger grauenvoll?
Lucien konzentrierte sich auf den Weg vor uns, ließ aber keine Sekunde der Fahrt meine Hand los. Seine Finger klammerten sich an meine und zeigten, wie sehr er mit aller Gewalt verhindern wollte, was ich angekündigt hatte. Also lenkte ich meine Gedanken in eine andere Richtung, indem ich daran dachte, wie ich ihn beschützen könnte. Wie ich dafür sorgen könnte, dass er gesund zu seiner Familie zurückkehrte. Sollte ich ihn betäuben, noch bevor wir das Werk erreicht hatten? Nein, das brachte ich nicht fertig – ihm diese grausame Sekunde nach dem Aufwachen anzutun, wenn ihm bewusst wurde, dass ich tot war. Aber ich konnte auch nicht zulassen, dass er für mich starb. Dass ich ihn seinem Bruder, seiner Schwester und seinem Neffen wegnahm, nur weil ich zu feige gewesen war, ihn daran zu hindern. Aber wie sollte ich das anstellen? Keine Panik. Dir fällt schon was ein.
Wir fuhren schnell, deswegen waren wir schon nach zehn Minuten auf der anderen Seite. Lucien nahm seine Maske ab und ich tat es ihm gleich.
»Wir sind jetzt oberhalb des Wasserwerks. Wir sollten uns gut überlegen, wie nah wie heranfahren.«
Ich nickte. Wir waren blind ohne Zugang zu Maraisvilles Überwachungssystemen, ohne Infos auf den InterLinks, die uns sagen konnten, in welche Richtung wir gehen mussten. Ich hatte zwar ein Pad dabei, aber es war offline und zeigte nur die letzte Satellitenaufnahme der Umgebung an, zwei Stunden alt. Darauf waren ein paar Fahrzeuge zu erkennen, aber nichts, was uns helfen könnte. Wir würden improvisieren müssen.
»Mit etwas Glück hat Costard nur das Nötigste an Bewachung dagelassen.« Da der davon ausging, die OmnI bekäme ohnehin bald Zugang zu Maraisville, war er vielleicht arrogant genug gewesen, das Werk nicht komplett von Truppen umstellen zu lassen. Zumindest war das mein logischer Schluss gewesen, als ich beschlossen hatte, diese Mission allein anzutreten. Einzelgegner oder kleine Gruppen waren kein Problem für mich. Aber bei zu vielen Feinden würde ich nicht mehr schnell genug reagieren können. Meine Körperkraft war schließlich sehr viel begrenzter als die Kapazität meines Gehirns.
»Hast du denn immer noch nicht gelernt, dass man so etwas nie beschreien sollte?« Lucien schaltete erneut das Licht unseres Gefährts ab und eine Minute später fuhren wir in die Nacht hinaus. Er bremste und wir tasteten uns Meter für Meter durch die Bäume. Dann kamen wir am Rand eines Vorsprungs an und der Blick wurde frei. Ich stieg aus und ging zur Kante. Lucien folgte mir.
»Beweis erbracht«, sagte er düster. Ich konnte nicht widersprechen.
Unter uns lag das ehemalige Wasserwerk, ein unförmiger Betonbau, mehr funktional als schön. Davor befand sich ein Platz, fünfmal so groß wie die Grundfläche des Gebäudes. Und dieser Platz war voll mit Costard-Containern und seinen Leute. Sie waren überall, hatten das Werk komplett umstellt, sogar bis zur Wasserlinie. Unbeobachtet ins Innere zu gelangen, war unmöglich. Sogar für den besten Schakal und das Mädchen mit dem verbesserten Gehirn.
Lucien und ich wechselten einen Blick, und es brauchte keine Worte, um sich darauf zu einigen, dass es nur eine Möglichkeit gab: Wir mussten mitten durch die Leute hindurch. Nein, ich musste das. Denn Lucien würd
e es nicht zurückschaffen, wenn er dort hineinging. Es gab keinen Weg zurück, sobald ich die OmnI zerstört hatte.
»Du bleibst hier und sicherst mich von oben ab.« Es klang nicht wie der beabsichtigte Befehl. Eher wie ein zarter Wunsch.
»Müssen wir das jetzt wirklich alle drei Meter neu durchkauen?« Lucien verdrehte die Augen. »Ich gehe mit.«
»Aber dann kommst du nicht wieder raus.«
»Sagt wer? Ich muss nur aufs Dach und von dort aus ins Wasser an der Rückseite. Ich kenne den Laden, das ist ein Kinderspiel.« Seine Stimme zitterte leicht und verriet mir, dass ihn die Angst um mich fest im Griff hatte. Aber ich wollte ihm trotzdem glauben. Weil ich ihn immer noch nicht loslassen konnte. Er holte Luft. »Bereit?«
Ich nickte und schluckte den Kloß in meinem Hals. »Gehen wir.«
Ich war bereit für meine letzte Mission.
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Von Nahem sah Costards Truppe noch wesentlich beeindruckender aus. Während man sie von oben wie kleine Ameisen hatte herumlaufen sehen, wuchsen sie auf gleicher Höhe zu einem Wald aus trainierten, massiven Körpern, an denen es kein Vorbeikommen zu geben schien.
»Es sind achtundvierzig«, sagte ich halblaut. Lucien und ich standen hinter einem der Container und beobachteten Costards Leute.
»Plus alle, die drinnen sind.« Er runzelte die Stirn. Ich hatte ihn noch nie so ernst gesehen. Oder so konzentriert. »Direkt am Gebäude sind nur Söldner, hier draußen vor allem Widerständler. Die sind kein großes Problem, aber die Linie am Werk zu durchbrechen wird schwieriger.« Ich wusste, was er meinte – die Kleidung der Söldner sah nicht aus wie die der anderen oder wie unsere. Sie trugen keine schwarze Einsatzkluft, sondern dunkelblaue Uniformen, wie sie bei Costards Wachleuten üblich waren. So zu tun, als wäre man einer von ihnen, fiel damit aus. Und ich war ohnehin im Nachteil, denn es waren fast keine Frauen hier. Wenn ich also mit jemandem redete, zog das direkt Aufmerksamkeit auf sich. Das bedeutete, Lucien würde den Hauptteil der Arbeit übernehmen müssen. Allerdings würde auch er sich tarnen müssen, denn sein Gesicht war seit fünf Monaten eines der bekanntesten in Europa.