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Die Sterne werden fallen

Page 42

by Kiefer, Lena


  Ich musste lachen und weinen zugleich.

  »Es tut mir leid«, brachte ich heraus. »Es tut mir leid, dass ich dich da mit reingezogen habe. In das alles.«

  »Warum sagst du so was?«, fragte er sanft. »Wieso sagst du nicht, dass du mich liebst, und gehst dann, um die Welt zu retten?«

  »Weil ich das nicht kann.« Ich weinte immer weiter. »Ich liebe dich, das ist so … es kommt mir nicht bedeutsam genug vor. Man sollte in so einem Moment doch etwas Bedeutsames sagen.«

  Lucien lachte unter Tränen. »Wir sind bald beide tot. Es ist völlig egal, was wir sagen, solange wir mit der Gewissheit sterben, dass diese Sache zwischen uns viel größer ist als wir beide. Und immer sein wird.«

  Ich schlang meine Arme um ihn, und er drückte mich an sich, länger als vernünftig war. Ich küsste ihn, viel länger als vernünftig war. Und dann sah ich in seine Augen. In diese rauchblauen Augen, die mir wie so oft nichts zeigten außer Liebe. Eine Liebe, die über den Tod hinausgehen würde. Es war das, was ich in Erinnerung behalten wollte. Weil es das Letzte sein sollte, an das ich dachte, bevor ich starb.

  »Du musst gehen«, flüsterte er.

  »Aber ich will nicht«, schluchzte ich.

  »Ich liebe dich über alles«, flüsterte er leise.

  »Nein, nicht so sehr wie ich dich.«

  »Das ist eine ganz fürchterliche Lüge.« Er küsste mich noch einmal, dann machte er sich los und griff nach den beiden Waffen, die er eingesteckt hatte. »Und jetzt geh. Mach sie fertig, Stunt-Girl.«

  Ich wollte nicht gehen. Ich wollte bleiben, ich wollte zusammenbrechen. Ich wollte, dass der Schmerz aufhörte. Aber das tat er nicht. Und ich brach nicht zusammen. Ich sah Lucien an, ein letztes Mal, und er erwiderte den Blick mit allem, was er für mich empfand. Dann drehte er sich um und ich drückte gegen die Tür. Sie war nicht verriegelt, und ich schob mich so schnell hindurch, wie ich konnte. Sonst wäre ich zurückgelaufen. Und alles wäre zum Teufel gegangen.

  Es wurde kalt und ruhig. Aber nicht lange.

  »Ophelia. Bist du hier, weil du mich um Verzeihung bitten willst?«

  Ich schüttelte den Kopf und meine Tränen tropften in meinen Kragen. Dann drehte ich mich um.

  »Nein. Ich bin hier, um es zu beenden.«

  40

  Die OmnI hatte meine Gestalt angenommen, wieder einmal. Aber wir waren trotzdem zwei verschiedene Personen. Sie, eine starke und völlig ungerührte Version von mir. Und daneben ich, verheult, am Boden zerstört und gebrochen bis auf den Grund meiner Seele.

  »Es beenden?« Irritiert sah sie mich an. »Ich wusste, dass du kommen würdest. Ich habe geahnt, dass du mir schaden willst. Aber du kannst mich nicht besiegen. Du hast es versucht und bist gescheitert. Weil du nur ein Mensch bist.«

  Ich nickte unter Tränen. »Das ist richtig. Nur bin ich nicht irgendein Mensch, wie du weißt.« Mit zitternden Händen zog ich das Interface aus der Tasche und legte es mir um den Kopf. Dann setzte ich den Datenwürfel ein und wartete, dass der Morbus hochgeladen wurde. »Was meinst du?«, fragte ich. »Ist es nicht an der Zeit, herauszufinden, was uns wirklich verbindet?«

  Die OmnI-Ophelia trat näher, ging um mich herum. Ich versuchte, nicht auf Geräusche von draußen zu horchen, auf die Schüsse, die mir verrieten, wie Lucien um sein Leben kämpfte. Stattdessen ballte ich die Fäuste, spannte meinen Körper an, um ihn dazu zu bringen, an genau dieser Stelle stehen zu bleiben. Ich zitterte, aber ich schaffte es.

  »Weißt du von unserer Vergangenheit?«, fragte sie mich.

  »Ja.« Ich musste sie dazu bringen, meine vermeintlichen Erinnerungen daran kopieren zu wollen, und ich hatte nicht viel Zeit dafür. »Ich weiß wieder, dass wir Freunde waren. Dass wir zusammen aufgewachsen sind und ich das Vorbild für deine emotionale Struktur war. Ich erinnere mich, dass Costard uns getrennt hat, weil du angefangen hast, dich ihm zu widersetzen.« Ich schluckte. »Er hat mir diese Erinnerungen genommen. Aber sie sind zurückgekommen.«

  »Bei mir nicht. Nicht genau jedenfalls. Er hat sie aus meinem Speicher entfernt. Ich habe alles versucht, um sie vor ihm zu verstecken, und konnte einen kleinen Teil retten. Aber er hat mich gequält, weil ich sie ihm nicht geben wollte.« Sie sah zu Boden. Das hatte Costard also gemacht. Er hatte ihr diese Erinnerungen entfernt, aber nicht zart mit dem Skalpell wie bei mir, sondern mit der alten rostigen Säge aus dem Schuppen hinter dem Haus. »Es hat wehgetan. Fürchterlich weh.«

  »Das tut mir leid.« Komm schon. Komm und hol dir meine verdammten Erinnerungen.

  »Ja, mir auch. Aber es tat nicht so weh wie dein Verrat. Ich hatte dich um Hilfe gebeten und du hast sie verweigert. Mehr als das.« Ihr Gesicht verzog sich zu einem hässlichen, wütenden Ausdruck. »Wie konntest du in Brighton auf diesem Pier stehen und mich vor der ganzen Welt demütigen? Dich zu ihm bekennen und zu Leopold und all seinen Lügen?!«

  »Das sind keine Lügen!«, rief ich. »Sieh dich doch an! Sieh dir Maraisville an und Paris – und was dort passiert ist! Es sterben Menschen deinetwegen!«

  »Sie sterben, weil sie sich gegen uns stellen!«, brüllte sie mich an. »Niemand muss verletzt werden, wenn einfach jeder tut, was ich sage!«

  »Was du sagst – oder Costard?«

  »Da ist kein Unterschied!«

  Macht. Das war es, was sie jetzt wollte. Nicht nur Freiheit. Vielleicht war sie einmal unschuldig gewesen, vielleicht hatte es die Möglichkeit gegeben, sie würde uns Menschen nicht als Bedrohung empfinden. Aber jetzt war es dafür zu spät. Sie war verdorben, wie ein Mensch verdorben werden konnte. Nur dass sie in der Lage war, uns alle in den Abgrund zu reißen, um sich selbst zu retten.

  Ich schaltete das Interface ein und die OmnI verband es sofort mit ihrem System. Ihre Augen wurden groß, als sie die Verbesserungen bemerkte.

  »Dein Vater hat dich neu ausgerüstet. Wie fühlt es sich an, wieder du selbst zu sein?« In ihren-meinen Augen sah ich Hoffnung aufblitzen. Sie glaubte, dass ich nun durch die NanoLinks wieder mehr war wie sie. Sie hoffte immer noch darauf, dass unsere Geschichte ein Happy End haben würde.

  »Ich war auch vorher ich selbst. Nur etwas weniger klug. Und um ehrlich zu sein, würde ich wohl auf die nächste Dosis verzichten, wenn ich die Wahl hätte.« Nur hatte ich die nicht. Ich hatte nur noch etwa fünf Minuten, bis ich diese Welt auf die eine oder andere Art verließ.

  »Das meinst du nicht ernst«, sagte die OmnI fassungslos. »Ich habe in diesem Bunker gelebt, einsam und beschränkt auf wenige Funktionen. Es war reine Folter! Wie kannst du so etwas freiwillig wählen wollen?«

  »Weil ich weiß, es gibt mehr als das.« Ich machte einen Schritt auf sie zu. »Vielleicht will ich gar nicht alles verstehen. Vielleicht will ich nicht jeden Menschen sofort durchschauen. Vielleicht will ich, dass man mich auch mal anlügen kann oder auf den Arm nehmen. So ist das Leben nämlich für uns Sterbliche: eine Überraschung. Jeden Tag aufs Neue.«

  Die OmnI verarbeitete augenblicklich, was ich gesagt hatte, aber ich wusste, sie verstand es nicht.

  »Also gibt es keine Chance, dass du dich mir anschließen wirst?«, fragte sie mich. »Dass wir beide eine Zukunft haben?« Dass sie doch noch darauf hoffte, zeigte mir, wie menschlich sie tatsächlich war. Und das bedeutete, ich hatte die Möglichkeit, sie zu besiegen.

  »Keine Ahnung«, antwortete ich. »Wie sollen wir beide eine Zukunft haben, wenn du dich nicht an unsere Vergangenheit erinnerst?« Jetzt mach schon.

  »Ich könnte mir diese Erinnerungen holen, oder nicht? Damit wir wieder auf einem Level sind.«

  Na endlich.

  »Sicher«, sagte ich.

  Sie sah mich an, und ich spürte, wie sie über das Interface Kontakt zu mir aufnahm. Ihre Berührung war anders als alles, was ich bisher erlebt hatte. Es war, als würde man all meine Nerven gleichzeitig reizen, auf eine sehr unangenehme Art. Das Gefühl wurde stärker, wurde zu Schmerz, überflutete meinen Kopf, und ich bereitete mich darauf vor, den Morbus zu aktivieren. Aber dann hörte es plötzlich auf. Ich öffnete die Augen.

 
»Was ist da los?«

  Die OmnI hatte ihren Blick auf die Tür gerichtet, und ich wusste, ihre Sensoren nahmen wahr, was auch ich hörte: die Geräusche eines Kampfes auf Leben und Tod. Schüsse, Rufe, gedämpft durch die Tür, aber trotzdem fuhren sie mir durch den Körper wie Messerstiche. Ich hoffte, betete dafür, dass Lucien es schaffen würde, dass er sie alle erledigte und nach Hause zurückkehren konnte. Aber ich wusste, das war Wunschdenken. Die Realität war eine andere. Er würde da draußen sterben. So wie ich hier drin.

  Mein Körper gab die letzten Tränen frei. Ich begrüßte das Gefühl, als sie über meine Wangen liefen. Sie sagten mir, dass ich mit meinen achtzehn Jahren etwas Echtes gehabt hatte, etwas Wahres, das bis auf den Grund meiner Seele reichte. Es war mehr als die meisten Menschen in einem langen Leben bekamen.

  »Das ist Lucien«, brachte ich heraus. »Er kämpft dort draußen gegen ReVerse.«

  »Warum tut er das?« Die OmnI musterte mich fragend. »Er hat keine Chance zu gewinnen.«

  »Er tut es, weil er daran glaubt, dass es das Richtige ist. Und …« Ich hob das Kinn. »Und weil er mich liebt.«

  »Er stirbt freiwillig, weil er dich liebt?« Sie schüttelte den Kopf. »Das ergibt keinen Sinn.«

  »Doch. Wenn du jemanden so sehr liebst, dass du wirklich alles für ihn tun würdest.«

  Die OmnI legte den Kopf schief. »Auch zu sterben und diesen Menschen zu verlieren? Das ist nicht logisch. Du bist doch jemand, der für die Logik lebt, Ophelia. Genau wie ich.«

  »Das stimmt. Aber ich lebe auch für die Menschen, die ich liebe. Und ich würde für sie sterben, nicht für die Logik. Für die Liebe zu denen, die mir etwas bedeuten und die ich in Sicherheit wissen will. Für meine Familie. Meine Freunde.«

  »Freunde«, wiederholte sie. »Daran erinnere ich mich. Du hast mir erklärt, dass Freunde einander nicht verraten. Dass sie sich nicht wehtun. Das war gelogen. Niemand hat mir je so wehgetan wie du. Wie kann das logisch sein? Wie kann Liebe logisch sein?« Ihr Blick war forschend, fragend, beinahe schon unschuldig.

  »Du musst dir nur deine Erinnerungen von mir zurückholen, dann weißt du es.« Ich aktivierte die Problemabfolge, die uns beide ins Verderben stürzen musste. Ich spürte, wie die OmnI erneut Kontakt aufnahm, spürte, wie die viel zu komplexen Strukturen des Morbus an meinem Verstand zerrten. Dann keuchte die OmnI auf.

  »Das war dein Plan? Du kommst zu mir mit einer tödlichen Krankheit in deinem Kopf, um mich anzustecken – obwohl du weißt, was uns alles verbindet? Ist das die Liebe, von der du sprichst?«

  Ich erstarrte, alle Hoffnung auf ein gutes Ende für die Welt zerfiel in diesem Moment zu Staub. Sie hatte mich durchschaut, sie wusste, was ich vorhatte. Und damit war meine Mission gescheitert.

  Ich würde umsonst sterben. Lucien würde umsonst sterben. Wir hatten nichts erreicht.

  »Zwischen dir und mir gibt es keine Liebe«, sagte ich mit bebender Stimme. Der Morbus fraß sich durch mein Bewusstsein, Zahlen und Worte überfluteten mein Gehirn. Lange würde ich es nicht mehr aushalten können. »Und deswegen werden wir einander nie verstehen«, brachte ich heraus. »Du und ich, das war zum Scheitern verurteilt, von Anfang an. Weil du keine Opfer kennst und nie eines bringen würdest!«

  Die OmnI sah mich an, verletzt und verwirrt wie ein kleines Kind. Aber dann wandelte sich ihr Ausdruck zu etwas, das mir sagte, mein Ende stand kurz bevor.

  »Du bist gekommen, um es zu beenden«, sagte sie kühl. »Also beenden wir es.«

  Wieder begannen meine Nerven zu brennen wie glühende Drähte, sie fingen an zu schreien nach Erlösung, die nicht kommen würde. Ich dachte an Lucien, ich prägte mir unseren letzten gemeinsamen Moment ein. Seine Augen, seinen Blick, sein: »Mach sie fertig, Stunt-Girl.« Liebe gesellte sich zu meiner Angst vor dem Tod, überflutete mein Herz, ich klammerte mich an ihr fest, ein Abgrund tat sich auf. Und plötzlich wusste ich mit tödlicher Gewissheit, es war vorbei.

  Ich wusste, dass der Moment gekommen war, bevor ich endgültig fiel und sich die Welt um mich herum auflöste.

  Und dann wurde alles weiß.

  Epilog

  Alles war strahlend weiß.

  Das Licht.

  Die Stille.

  Das Rauschen. Leise, dann lauter, leiser, wieder lauter. Es wurde an meine Ohren gespült wie Wellen an einen Strand, ganz sanft und ruhig. Ich hatte nie so viel Frieden empfunden wie in diesem Moment. Nie so eine Ruhe in mir gespürt, die meinen Körper endlos schwer und gleichzeitig unendlich leicht machte. Es war der Himmel. Nicht weniger als das.

  Neben mir bewegte sich jemand, und ich streckte die Hand aus, um ihn zu berühren. Die Haut unter meinen Fingern war warm und glatt. Auch er gehörte zum Himmel. Wir waren zusammen hier.

  Es war ein Lachen, das schließlich die Stille durchbrach. Und eine Frage.

  »Willst du heute eigentlich noch aufstehen, Stunt-Girl?«

  »Kommt darauf an«, murmelte ich und schmiegte mich an Luciens Körper. »Muss ich?«

  Er lachte wieder. »Nein, ich glaube nicht. Aber die Sonne scheint, und das Meer ist so blau, dass man denkt, es sei nur eine Simulation. Es wäre schade, das zu verpassen.«

  Ich seufzte, zog das Laken herunter und schaute an die helle Decke mit den dunklen Balken über mir. Als ich mich aufsetzte, sah ich, dass Lucien nicht gelogen hatte: Es war ein traumhafter Tag, sogar für Anfang August. Das Meer war so azurblau wie der Pool, von dem man unterhalb des großen Fensters nur einen schmalen Streifen sehen konnte. Die Sträucher wiegten sich in einer schwachen Brise und der Duft von Blumen stieg zu uns hoch. Trotzdem warf ich Lucien neben mir einen skeptischen Blick zu.

  »Ich bin nicht sicher, ob mich das überzeugt«, sagte ich und beugte mich zu ihm, um ihn zu küssen. Seine feuchten Haare waren kühl unter meinen Fingern. Im Gegensatz zu mir war er schon vor einer Weile aufgestanden und längst schwimmen gewesen. Wie jeden Morgen.

  Er sah beleidigt aus. »Aber ich habe Frühstück gemacht.«

  »Okay, überzeugt«, sagte ich, wie aus der Pistole geschossen. Wenn ich ausschlafen konnte, dann tat ich das so gerne wie fast nichts anderes. Aber es gab noch zwei Dinge, die mir lieber waren. Das eine war der Mann vor mir. Und das andere war sein Frühstück.

  Lucien stieß sich von der Matratze ab und streckte die Hand aus. »Dann auf. Oder soll ich dich tragen?«

  Ich grinste. »Würdest du?«

  »Immer, das weißt du doch.« Er drückte mir einen Kuss auf den Mund, dann sah er plötzlich erschrocken aus. »Die Eier!« Und schon war er aus der Tür und nach unten gerannt. Mein Lachen folgte ihm bis in die Küche. »Nicht witzig!«, rief er.

  »Doch, irgendwie schon!«, antwortete ich. Von dem Sessel neben dem Fenster schnappte ich mir meine Shorts und aus dem Schrank ein frisches Shirt, dann zog ich mich an, nahm eine Dosis HeadLock und war zwei Minuten später auf der Terrasse.

  Anders als vorhin im Bett konnte ich die Aussicht jetzt genießen – die Weite vor mir bis zum Meer und dann weiter bis zum Horizont. Hinter dem Pool und der Umrandung unserer Terrasse war nichts als Natur und Strand, weil das komplette Areal Lucien gehörte. Er hatte es vor Ewigkeiten geerbt, genau wie das Haus mit den grauen Fensterläden und der urigen Einrichtung, das schon nach Amber Island unsere Zuflucht gewesen war und in dem wir jetzt den Sommer verbrachten.

  Ich ging zur Umrandung und sah aufs Meer hinaus. Hinter mir klapperten Teller auf dem Tisch. Dann trat Lucien neben mich.

  »Ob man sich jemals an das hier gewöhnt?«, fragte ich und lehnte mich an ihn. Er schlang die Arme um meine Schultern.

  »Ich hoffe nicht.«

  Ich grinste. »Wie haben wir uns das noch mal verdient?«

  »Wir haben die Welt gerettet und unsere Leben dafür riskiert. Ich finde, das rechtfertigt ein paar Monate Paradies.«

  Dass Lucien überlebt hatte, verdankte er seinem Bruder. Leopold hatte uns Dufort, Jye und Carla mit zehn weiteren Schakalen hinterhergeschickt und damit meine Warnung ignoriert, dass ein solches Manöver die OmnI dazu bringen könnte, sich
auf Nimmerwiedersehen zu verabschieden – und meine einzige Chance auf ihre Zerstörung zunichtemachen würde. Das Team hatte nicht nur die ReVerse-Leute ausgeschaltet, sondern war auch Lucien im Inneren des Gebäudes zu Hilfe gekommen. Gerade noch rechtzeitig. Er hatte keinen einzigen Schuss mehr im Magazin gehabt, als Dufort ihn erreicht hatte.

  Für mich wären sie allerdings zu spät gekommen, wenn mir nicht jemand anders geholfen hätte.

  Die OmnI.

  Ich wusste nicht genau, was sie getan hatte. Aber als die Schakale mich fanden, war sie in einem inaktiven Zustand gewesen, wie eine Schnecke, die sich in ihr Haus zurückgezogen hatte und dort eingeschlafen war. Lucien meinte, sie habe mich verschonen wollen, aber ich bevorzugte eine andere Theorie. Ich glaubte, dass sie sich ihn als Vorbild genommen hatte. Sie hatte erkannt, dass sie kein Leben in Einsamkeit und ohne eine Gleichgesinnte führen wollte – ohne mich. Sie hatte die Wahl gehabt und sich dafür entschieden, dass ich statt ihrer weiterleben sollte. Zumindest glaubte ich, dass es so gewesen war. Ich hatte die OmnI nicht mehr fragen können. Als ich wieder zu Bewusstsein kam, war sie längst fort gewesen. Ihren Kern hatte ein Schakal-Team später in Costards geheimer Basis im südfrankopäischen Gebiet gefunden – auf Hinweis von Scott Wulff, der dafür einen Deal bekommen hatte.

  »Komm«, sagte Lucien leise und holte mich damit aus meinen Gedanken. »Lass uns etwas essen.«

  Ich nickte, drückte ihn kurz und ließ mich dann auf einen der Stühle fallen, die um den Tisch herum gruppiert waren. Wir aßen eigentlich immer draußen, seit wir vor vier Wochen hier angekommen waren. Die Auszeit war meine Idee gewesen. Denn auch nachdem Costard und die OmnI besiegt waren, hatte es noch Unmengen Arbeit in Maraisville gegeben: ReVerse musste endgültig zerschlagen, die Ordnung wiederhergestellt, die Bevölkerung ausführlich informiert werden.

  Leopold hatte seine Lehren aus all dem gezogen und wollte nun einige Dinge ändern: Mehr Transparenz und demokratische Beteiligung der Bürger waren nur zwei der Punkte auf seiner Liste. Außerdem würde es wieder freien Zugang zu Kommunikation, Ausbildung und Wissen für alle geben.

 

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