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Death Cloud ysh-1

Page 13

by Andrew Lane


  Als die Sonne vollends über den Horizont gestiegen war und wie eine reife Frucht über den schwarzen Silhouetten der Bäume hing, war Sherlock immer noch am Zittern. Seine Kopfhaut brannte wie Feuer, und Clems eiserner Griff, mit dem er ihn an der Schulter gepackt hatte, hatte einen tiefsitzenden Schmerz hinterlassen. Sherlock hatte keine Zweifel, dass, wenn er sich die Mühe machte und nachsah, er auf fünf rotunterlaufene Stellen stoßen würde: fünf ovale Blutergüsse, hervorgerufen von vier Fingern und einem Daumen.

  Nachdem Clem im Wasser versunken war und sein Komplize das Weite gesucht hatte, hatten sich Matty und Sherlock nach dem Überfall einige Augenblicke einfach nur angestarrt, noch ganz schockiert von dem brutalen Angriff, der ebenso schnell über sie hereingebrochen, wie er wieder vorüber gewesen war.

  »Der hat nicht versucht, das Boot zu klauen«, hatte Matty schließlich geflüstert. »Der wollte es zerstören. Hatte schon mit Typen zu tun, die es mir klauen wollten. Aber warum sollte es jemand in Brand setzen? Hab den Kerl noch nie gesehen! Was hab ich denen bloß getan?«

  »Die waren hinter mir her«, hatte Sherlock widerstrebend geantwortet. »Das war einer von den Männern aus dem Lagerschuppen. Ich glaube, der hatte das Sagen. Zumindest über die Leute, die dort waren. Aber er muss mich gesehen haben, als ich dem Brand entkommen bin. Und bestimmt ist ihm klargeworden, dass ich sie belauscht habe. Allerdings habe ich keine Ahnung, wie sie uns bis hierher aufs Boot verfolgt haben.« Ungläubig hatte er den Kopf geschüttelt. »Was führen sie nur im Schilde? Was für ein Geheimnis ist so wichtig, dass sie bereit sind, uns umzubringen?«

  Matty hatte Sherlock nur angestarrt, als hätte er ihn betrogen. Dann hatte er sich abrupt umgedreht und die Leine geschwungen, um das Pferd wieder anzutreiben.

  Nun, da die Sonne ein ganzes Stück gestiegen war und seine Schulter schmerzte wie ein verrotteter Zahn, näherten sie sich Guildford, und Sherlock hatte noch immer nicht die geringste Ahnung, was es war, auf das er eigentlich hätte kommen sollen. Alles, was er bisher vorzuweisen hatte, waren Fragen, und durch den Überfall waren sogar noch ein paar weitere hinzugekommen.

  Eine kleine Meute verwahrloster Hunde folgte ihnen am Flussufer entlang. Aufmerksam beobachteten die Hunde sie in der Hoffnung, dass sie vielleicht etwas Essbares über Bord warfen. Beim Gedanken daran, wie sehr die Hunde Matty in dieser Hinsicht ähnelten, musste Sherlock schmunzeln. Er sah nach vorn. Sein Blick blieb auf Mattys Hinterkopf haften, und das Lächeln schwand aus seinem Gesicht. Er hatte Mattys Boot, das einzige richtige Heim, das er besaß, einem Risiko ausgesetzt. Schlimmer noch: Er hatte Mattys Leben aufs Spiel gesetzt. Und wofür?

  An den Flussufern tauchten nun allmählich immer mehr Leute auf. Einige, die offensichtlich zur Stadt wollten oder aus ihr kamen, benutzten das Ufer als bequemen Reiseweg. Andere hingegen saßen auf Kisten und hielten selbstgebaute Angelruten ins Wasser, in der Hoffnung, ein paar Fische zum Frühstück zu fangen. Vor ihnen stieg Rauch in den Himmel auf. Offensichtlich hatten die Bewohner von Guildford das tägliche Kochpensum schon in Angriff genommen. Dann tauchten die ersten Gebäude auf. Einige waren nichts weiter als Hütten, die man aus Holzplanken krumm und schief zusammengenagelt hatte. Bei anderen hingegen handelte es sich schon um solidere Gebilde aus Backstein.

  Dann säumten erste, vereinzelte Abschnitte mit steinernen Wegplatten das Ufer. Nach und nach folgten sie in immer dichteren Abständen aufeinander, bis sie sich zu einem befestigten Uferweg verbunden hatten.

  Als sie sich nach einer Weile einer Ansammlung von Gebäuden näherten, die dicht geballt am Ufer standen und wie Lagerhäuser aussahen, begann Matty, die Leine einzuholen. Das Pferd wurde langsamer und das Boot glitt sanft ans Ufer. Matty hatte das Manöver perfekt vorausberechnet, denn das Boot kam direkt neben einem Eisenring zum Halten, der in eine der Wegplatten eingelassen war. Sherlock hatte erwartet, dass Matty das Seil am Ring verknoten würde. Doch stattdessen langte er nach unten in den kleinen Bugstauraum und zog eine Kette heraus, deren eines Ende offensichtlich an einer im Holz eingelassenen Ringöse befestigt war. Er warf die Kette ans Ufer und sprang hinterher. Dann schlang er die Kette durch den Ring, zog ein großes altes Vorhängeschloss aus der Tasche und führte den Schlossbügel durch einige Kettenglieder. Mit einem Klick drückte er den Bügel ins Schloss.

  »Hier kannste niemandem trauen«, murmelte er und mied immer noch Sherlocks Blick. »’N Seil können sie durchschneiden. Aber um eine Kette und ein Vorhängeschloss durchzukriegen, brauchen sie ’ne ganz schöne Zeit. Mehr Zeit, als das Boot wert ist, denk ich mal.«

  »Was ist mit dem Pferd?«, fragte Sherlock.

  »Wenn er jemanden findet, der ihn besser behandelt als ich, kann er gerne gehen«, sagte Matty. Er betrat den Grasstreifen, der sich neben dem Plattenweg erstreckte, und blickte sich dann zu Sherlock um. Sein Gesichtsausdruck wirkte nicht gerade bedauernd, aber wenigstens war er wieder bereit, Sherlock in die Augen zu blicken.

  »Er ist zu alt und lahm, um einen Pflug oder eine Kutsche zu ziehen«, erklärte er. »So ein Boot ist schon das Äußerste und selbst dann ist er langsam. Es lohnt sich nicht, ihn zu klauen.«

  »Es tut mir leid, was passiert ist«, sagte Sherlock verlegen.

  »Ist nicht deine Schuld«, antwortete Matty und wischte sich mit einem Ärmel über den Mund. »Du bist da in was reingeraten und kommst nicht mehr raus. Und ich steck jetzt auch mit drin. Am besten wir versuchen, so schnell wie möglich aus der Sache rauszukommen und das Ganze abzuhaken.« Er sah sich um. »Das hier ist Dapdune Wharf«, sagte er. »Merk dir die Stelle. Wenn wir getrennt werden, was sehr wahrscheinlich ist, dann treffen wir uns hier wieder. Ich werd nicht ohne dich abhauen.« Skeptisch musterte er Sherlock. »Und ich bin ziemlich sicher, dass du nicht ohne mich wegkommst. Also dann, wie war noch mal der Name von dem Kerl, den du suchst?«

  »Professor Winchcombe«, sagte Sherlock.

  »Dann lass uns sehen, wo wir den finden. Und vielleicht können wir auf dem Weg ja noch was zum Frühstück auftreiben.«

  Sie kehrten dem Fluss den Rücken und folgten einem Pfad, der allem Anschein nach zu einer größeren Verkehrsstraße führte. Nachdem sie eine Stunde marschiert waren und diverse Passanten befragt hatten, fanden sie heraus, dass Professor Winchcombe in der Chaelis Road wohnte, die – so die Auskunft – von der High Street abging. Anschließend brauchten sie noch eine halbe Stunde, bis sie endlich die High Street gefunden hatten. Die Hauptstraße von Guildford führte hügelaufwärts vom Fluss fort und war auf beiden Seiten von zwei- und dreistöckigen Ladengebäuden gesäumt, deren schöne Fassaden aus schwarzen Holzträgern und weißem Putz das Straßenbild bestimmten. Vor den Geschäften hingen Holzschilder, auf denen Bilder von Fischen, Brot, Gemüse und allen anderen Arten von Waren zu sehen waren.

  Die Leute, die auf der Straße flanierten und in die Schaufenster schauten, waren zum großen Teil besser gekleidet als die Bewohner von Farnham. Eine ganze Weile hatte Sherlock nicht mehr so viele feine, saubere, farbenfrohe und mit Litzen und Bändern verzierte Stoffe gesehen.

  Am Fuß der High Street waren vor einer hüfthohen Mauer, die die Stadt vom Fluss trennte, ein paar Stände aufgebaut, wo man Früchte und kaltes Bratenfleisch kaufen konnte. Matty schickte sich schon an, auf die Mauer zu krabbeln, um im Rücken der Standbesitzer vielleicht etwas Essbares zu ergattern, das von den Ständen gefallen war. Aber Sherlock ging einfach auf einen der Stände zu und verwendete etwas von dem Geld, das Mycroft ihm geschickt hatte, um ihnen beiden etwas zum Frühstück zu besorgen. Argwöhnisch musterte Matty ihn. Sherlock hatte den Eindruck, dass Essen für Matty irgendwie besser schmeckte, wenn man nicht dafür bezahlen musste. Doch was ihn selbst anbelangte, fand er jedenfalls keinen größeren Gefallen an Essen, das vorher durch den Dreck gerollt war oder um das man mit einem wütenden Hund hatte kämpfen müssen.

  Um ans Ziel zu kommen, mussten sie die halbe High Street hinaufmarschieren, und als die beiden Jungen endlich die Stelle erreichten, an der die Chaelis Road begann, waren sie außer Atem. Die Straße führte in einem Bogen von der High Street fort und verschwand nach wenigen Metern in einer Kurve. Sherlock setzte sich in Bewegung, bl
ieb aber gleich wieder stehen, als er merkte, dass Matty ihm nicht folgte. Er drehte sich um und sah seinen Begleiter fragend an.

  »Was ist los?«

  Matty schüttelte den Kopf. »Nicht ganz mein Revier«, sagte er und beäugte misstrauisch die stattlichen Häuser und tadellos gepflegten Vorgärten, die die Straße säumten.

  »Du gehst allein. Ich warte hier.« Er blickte sich um. »Jedenfalls irgendwo hier in der Nähe.«

  Sherlock nickte. Matty hatte recht. Die Anwesenheit eines »dreckigen Gassenjungen« – wie MrsEglantine es wohl ausgedrückt hätte – würde vermutlich Probleme bereiten. Sherlock klopfte sich, so gut es ging, den Dreck von der Kleidung und machte sich auf den Weg.

  Das Haus, das er suchte, lag unmittelbar hinter der Kurve. Er drückte die Gartenpforte auf und ging auf die Eingangstür zu, die von einer Säulenhalle im griechischen Stil vor Wind und Wetter geschützt wurde. An einer der Säulen war eine Messingplatte angeschraubt. »Professor Arthur Albery Winchcombe. Dozent für Tropenkrankheiten« war dort auf eingravierten Lettern zu lesen.

  Bevor ihn seine Nerven vollends im Stich ließen, zog Sherlock kurz entschlossen am Klingelzug.

  Ein Mann in strengem schwarzem Anzug und grauer Weste erschien an der Tür. Durch winzige Brillengläser, die kaum seine Augen bedeckten, starrte er auf Sherlock hinab.

  »Ist Professor Winchcombe zu Hause?«, fragte Sherlock.

  Der Mann – Sherlocks Vermutung nach der Butler – schwieg einen Moment. »Wer, darf ich ausrichten, verlangt nach dem Professor?«, sagte er schließlich.

  Sherlock öffnete schon den Mund, um sich vorzustellen. Doch dann zögerte er. Vielleicht wäre es schlauer, wenn er sich auf den Namen eines anderen berief. Auf jemanden, von dem der Professor schon mal gehört hatte. Mycroft, vielleicht? Oder Amyus Crowe? Was wäre wohl am besten?

  Am Ende entschied er sich aufs Geratewohl. »Bitte richten Sie dem Professor aus, dass ein Schüler von MrAmyus Crowe ihn zu konsultieren wünscht«, brachte er hervor.

  Der Butler nickte. »Wären Sie so gütig, im Wohnzimmer zu warten?«, fragte er und öffnete Sherlock die Tür. Zu Sherlocks Überraschung wurde er nicht wie ein ziemlich abgerissen aussehender und nervöser Junge behandelt, sondern eher wie ein Angehöriger der königlichen Familie. Mit vornehmer Geste bedeutete ihm der Butler, ihm durch die geflieste Halle zu einer nahen Tür zu folgen.

  Die Tapete, die die Wände des Wohnzimmers bedeckte, war mit Bildern von hohen, dünnstieligen Pflanzen bedeckt, die wie riesige Gräser aussahen. Noch nie hatte Sherlock solche Gewächse gesehen. Wie es aussah, zogen sich an den Stängeln in gleichmäßigen Höhenabständen zueinander so etwas wie Ringe herum. Die fremdartige Pflanze übte eine solche Faszination auf Sherlock aus, dass er immer noch auf die Tapete starrte, als die Tür schließlich aufging und ein Mann das Zimmer betrat. Er war klein – noch kleiner als Sherlock –, und sein Bäuchlein wölbte sich hervor, als hätte er ein Kissen unter sein Jackett gestopft. Auf dem Kopf trug er einen komischen kleinen Hut ohne Krempe, der einfach nur wie ein kurzer dicker Turm aus roter Seide aussah.

  »Bambus«, sagte er.

  »Pardon?«

  »Die Pflanzen auf der Tapete. Bambus. Eine immergrüne mehrjährige Pflanze aus der Familie der Gräser. Ich habe in meiner Jugend einige Zeit in China verbracht und mich damit ziemlich vertraut gemacht. Bambus ist das am schnellsten wachsende holzartige Gewächs der Welt, weißt du. Unter bestimmten Bedingungen können die größeren Bambusarten über 60 Zentimeter am Tag wachsen. Die Tapete stammt übrigens aus China. Sie ist aus Reispapier.«

  Sherlock war nicht sicher, ob er richtig verstanden hatte. »Papier, das man aus Reis macht?«

  »Ein allgemein verbreitetes Missverständnis«, erwiderte der Professor. »Tatsächlich wird Reispapier aus dem Saft eines kleinen Baumes hergestellt. Tetrapanax papyrifer, um genau zu sein.« Er neigte den Kopf zur Seite. »Du sagst, du bist Amyus Crowes Schüler?«, fragte er. Hinter seinen Brillengläsern musterte er Sherlock mit intelligenten, vogelähnlichen Augen, die vor Neugierde nur so sprühten.

  »Ja, Sir«, erwiderte Sherlock und kam sich merkwürdigerweise vor, als wäre er wieder zurück in der Schule.

  »Ich habe heute Morgen einen Brief von MrCrowe bekommen. Seltsam. Wirklich sehr seltsam. Bist du deswegen hier?«

  »Ging es in dem Brief um die zwei toten Männer?«

  Der Professor nickte. »Darum ging es in der Tat.«

  »Deswegen bin ich hier. Ich habe MrCrowe sagen hören, Sie seien ein Experte für Krankheiten.«

  »Ich bin auf Tropenkrankheiten spezialisiert. Aber ja, mein Fachgebiet deckt einen Großteil der schweren Infektionskrankheiten ab. Vom Tapanuli-Fieber und Schwarzer Formosa-Fäulnis bis hin zu Cholera und Typhus. Wenn ich richtig verstehe, sind diese beiden Männer an einer unbekannten Krankheit gestorben.«

  »Ich bin nicht sicher.« Sherlock wühlte in seiner Jackentasche und zog den Umschlag hervor, in dem Mycrofts Brief gesteckt hatte und der nun eine Probe des gelben Pulvers enthielt. »Das hier habe ich in der Nähe einer der beiden Leichen eingesammelt. Aber ich weiß, dass beide Tote damit in Kontakt waren«, fügte er hastig hinzu. »Ich habe keine Ahnung, worum es sich handelt, doch ich glaube, dass es etwas mit den beiden Todesfällen zu tun hat. Es könnte giftig sein.«

  Der Professor streckte die Hand nach dem Umschlag aus. »In diesem Fall werde ich es mit Vorsicht behandeln«, sagte er.

  »Sie glauben mir also?«, fragte Sherlock.

  »Du hast den ganzen weiten Weg auf dich genommen, um mit mir zu reden. Also vermute ich mal, dass du es ernst meinst. Das Mindeste, was ich tun kann, ist es genauso ernst zu nehmen wie du. Und außerdem: Ich kenne Amyus Crowe und halte ihn für einen integeren Mann. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich mit einem Schüler abgibt, der sich gerne albernen Streichen hingibt.« Er lächelte plötzlich, was seinem Gesicht einen fast engelhaften Ausdruck verlieh. »So, und jetzt lass uns mal einen Blick auf die Probe werfen, die du mitgebracht hast.«

  Sherlock folgte ihm durch die Eingangshalle in einen anderen Raum. Die Wände waren mit Büchern bedeckt, und vor dem Fenster – dort, wo es am hellsten war – stand ein riesiger Schreibtisch. Mitten zwischen wild verstreuten Papierbögen, Zeitschriften und einem Kerzenleuchter mit brennender Kerze sah Sherlock ein Mikroskop, das auf einem Blatt grünem Löschpapier stand.

  Professor Winchcombe setzte sich auf einen mit Leder überzogenen Stuhl an den Schreibtisch und forderte Sherlock mit einer Geste auf, sich ebenfalls einen Stuhl zu holen und neben ihm Platz zu nehmen. Er zog einen unbeschriebenen Pergamentbogen aus einer Schublade und legte ihn auf das Löschpapier neben das Mikroskop. Dann schlitzte er vorsichtig die Umschlagklappe mit einem Brieföffner auf und schüttete den Inhalt auf den Pergamentbogen. Innerhalb weniger Sekunden hatte er ein Häufchen gelben Pulvers vor sich. Mit der Spitze des Brieföffners nahm er ein paar Pulverkörnchen auf und platzierte sie auf eine gläserne Platte, die bereits auf dem Mikroskoptisch – der flachen Platte unter dem Objektiv – eingespannt war.

  Er justierte einen Spiegel so unter dem Mikroskoptisch, dass dieser das Kerzenlicht zunächst durch ein Loch im Mikroskoptisch, dann durch die Glasplatte und daraufhin weiter bis zur Linse reflektierte.

  Während Sherlock versuchte, nicht zu heftig zu atmen, um das Pulver nicht wegzupusten, beobachtete er, wie der Professor ins Mikroskop starrte, dabei erst am Rädchen für die Grobeinstellung und dann an dem für die Feineinstellung drehte, bis die Pulverkörnchen schließlich scharf gestellt waren.

  »Ah«, sagte er, um dann gleich darauf ein »Hm« hinzuzufügen. Er nahm seinen roten Hut ab, kratzte sich am Kopf und platzierte die Kopfbedeckung wieder an exakt derselben Stelle, wo sie zuvor gesessen hatte.

  »Was ist es?«, flüsterte Sherlock.

  »Bienenpollen«, sagte der Professor. »Ziemlich eindeutig.«

  »Bienenpollen?«, wiederholte Sherlock, nicht sicher, ob er richtig verstanden hatte.

  »Hast du jemals Bienen studiert?«, fragte der Professor und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Faszinierende Kreaturen. Ich empfehle sie dir als ernsthaftes Forsch
ungsobjekt.« Er nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. »Sie sammeln Pollen von Blüten und transportieren sie in ihren Stock.«

  »Was genau ist Pollen?«, fragte Sherlock, der ein merkwürdiges Gefühl der Enttäuschung verspürte. »Ich habe das Wort schon einmal gehört, war aber nie so sicher, was es bedeutet.«

  »Pollen«, erklärte der Professor, »ist ein Pulver, das aus Microgametophyten besteht, die sich wiederum zu den männlichen Gameten – beziehungsweise Reproduktionszellen – von Samenpflanzen entwickeln. Der Pollen wird von den Staubblättern, den männlichen Fortpflanzungsorganen einer Blüte, produziert. Durch den Wind oder nahrungssuchende Insekten gelangt der Pollen zum Stempel, also dem weiblichen Fortpflanzungsorgan einer anderen Blüte der gleichen Pflanzenart. Dort verschmelzen sie miteinander und bilden einen Samen.« Er musterte seine Brillengläser und setzte sich dann das Gestell wieder auf die Nase.

  Sherlock versuchte verzweifelt, die Ausführungen des Professors zu verarbeiten, aber dann merkte er, dass der Mann schon wieder weitersprach. »Was die Bienen anbelangt, so sammeln sie Pollen aus Blüten und formen ihn zu einer ballartigen Masse. Diesen Ball transportieren sie dann auf ihren Hinterbeinen in den Bienenstock. Der Nutzen für die Pflanze besteht natürlich darin, dass die Biene bei ihrer Reise von Blüte zu Blüte etwas Pollen vom Staubblatt einer Blüte auf den Stempel einer anderen fallen lässt. Auf diese Weise wird die Pflanze bei der Fortpflanzung unterstützt. Soweit so gut, nun zum Bienenpollen: Bienen haben auf der Oberseite der Hinterbeine winzige Härchen, die sozusagen als Korb fungieren. Dort hinauf rollen sie die Pollenkörner und vermischen sie mit Blütennektar, um einen Ball daraus zu formen. Und das nennt man dann ›Bienenpollen‹.«

  »Und ist der harmlos?«

  »Für die meisten Menschen ja. Obwohl es in der Tat ein paar Unglückliche gibt, bei denen der Kontakt mit Bienenpollen unangenehme körperliche Reaktionen auslöst.« Er lehnte sich zurück und dachte einen Augenblick lang nach. »Könnte das vielleicht die beulenartigen Schwellungen verursacht haben, die MrCrowe in seinem Brief beschrieben hat? Hm, ich bezweifele es. Unverträglichkeiten gegen Bienenpollen tendieren dazu, sich in Form von Hautausschlägen zu äußern. Und dass es zufällig zwei Menschen mit einer solch extremen Sensibilität kurz hintereinander getroffen hat, ist eher unwahrscheinlich.« Plötzlich knallte er mit der Hand auf den Tisch. Sherlock fuhr erschrocken hoch. »Natürlich! Die naheliegende Lösung habe ich völlig übersehen!«

 

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