by Andrew Lane
»Da wir nun schon mal zusammen hier sind«, sagte Sherlock, »sollten wir die Gelegenheit nutzen und rausfinden, wohin dieses Schiff fährt.« Er hielt nach dem Mann Ausschau, den er zuvor gesehen hatte. Dem Mann mit den Papierblättern auf dem Klemmbrett. »Ich glaube, der Mann da drüben ist der Lade- oder Kaimeister oder so was. Den können wir fragen.«
»Einfach so?«
»Dein Vater hat mir ein paar gute Tipps beigebracht, wie man Fragen stellt.«
Sherlock blickte sich um und wartete, bis niemand in ihre Richtung sah. Dann führte er Virginia aus ihrem Versteck und schlenderte mit ihr zusammen auf dem Kai entlang, bis sie zu einer Stelle kamen, wo sie sich auf die Steinmauer setzten, die das Themseufer säumte. Er verspürte ein Prickeln im Nacken, normalerweise ein untrügliches Zeichen dafür, dass er beobachtet wurde. Aber er zwang sich dazu, das Gefühl zu ignorieren. Denny war mittlerweile vermutlich bei einem Doktor oder Wundarzt, vorausgesetzt, dass sein Kiefer wirklich gebrochen war. Und was die anderen Männer anbelangte, so standen die Chancen ziemlich gut, dass sie gar nicht einen so genauen Blick auf ihn hatten werfen können. Jedenfalls nicht so genau, dass sie in der Lage gewesen wären, ihn von anderen Kindern zu unterscheiden. Vor allem jetzt, da er über und über mit Dreck, Ruß, Rattenhaaren und allen möglichen anderen Dingen bedeckt war, die er sich lieber nicht genauer ausmalen wollte. Sie saßen eine gute halbe Stunde lang auf der Mauer, plauderten zwanglos über dieses und jenes und wurden allmählich zu einem Teil der Umgebung. Schließlich hatte der Lade- oder Kaimeister, oder was auch immer er war, seine Arbeit am Schiff erledigt und schickte sich an, in ihre Richtung zurückzugehen. Als er an ihnen vorbeikam, blickte Sherlock auf und sagte: »Hey, Boss. Gibt’s hier im Hafen Chance auf Arbeit?«
Der Mann musterte geringschätzig Sherlocks hagere Gestalt. »Komm in fünf Jahren wieder, Sohn«, sagte er in nicht ganz unfreundlichem Ton. »Sieh zu, dass du ein paar Muskeln auf dein dürres Gerippe kriegst.«
»Aber ich muss aus London verschwinden«, flehte Sherlock eindringlich. »Ich kann hart arbeiten. Ehrlich. Kann ich wirklich.«
Er zeigte auf das Schiff in der Nähe. »Was ist denn mit denen? Die sehen aus, als hätten se zu wenig Leute.«
»Haben sie«, bestätigte der Mann. »Heute Nachmittag sind drei zu wenig gekommen. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass du für einen von denen einspringen kannst. Und außerdem: Der Kahn wird dich nicht sehr weit aus London fortbringen.«
»Warum nicht?«, fragte Sherlock.
»Der segelt nur nach Frankreich und dann gleich wieder zurück. Kein Landgang für die Crew.« Er lachte. »Wenn du dich für ’ne Weile verkrümeln möchtest, tret’ doch in die Navy ein. Oder häng hier einfach lange genug rum, bis eins ihrer Presskommandos kommt und dich fortschleppt.«
Immer noch lachend zog er davon.
»Frankreich«, sagte Sherlock fasziniert. »Interessant.«
»Wie ich höre, wollt ihr euch unserer Crew anschließen«, rief eine Stimme vom Bug des Schiffes aus. Sherlock verzog das Gesicht zu einer Grimasse und blickte in eine andere Richtung. Aber die Stimme sprach weiter: »Warum kommst du mit dem Mädchen nicht einfach an Bord? Ja, wir wissen nämlich, dass es ein Mädchen ist. Haben euch beobachtet, seit ihr hier aufgetaucht seid. Was denn? Habt ihr etwa gedacht, ihr wäret unsichtbar?«
Sherlock blickte den Kai entlang zu der Stelle, wo der Lademeister stehengeblieben war und zu ihnen zurückblickte. Sein Gesichtsausdruck war mitleidig, aber entschlossen. Von ihm war keinerlei Hilfe zu erwarten.
Sherlock glitt von der Mauer, nahm Virginias Hand und half ihr herunter. »Zeit zu gehen«, sagte er. Aber als er sich umdrehte, sah er sich unversehens einem Halbkreis von Seeleuten und Hafenarbeitern gegenüber, die wie aus dem Nichts aufgetaucht zu sein schienen.
Virginia mit sich ziehend, versuchte er wegzurennen. Aber schwere Hände packten ihn und zerrten ihn von ihr fort. Er stolperte, die Hände hielten ihn jedoch mit eisernem Griff auf den Beinen. Er sah, dass auch Virginia stolperte. Doch im nächsten Augenblick nahm er nur noch eine Hand wahr, die mit einem zusammengeknüllten Stoffballen in der Innenfläche auf ihn zugeschossen kam und sich auf sein Gesicht presste. Ein schwerer, bitterer Medizingeruch drang ihm in die Nase. Dann stürzte er plötzlich in ein bodenloses Loch, das exakt die Farbe von Virginias Augen hatte. Ein abgrundtiefer Schlaf und entsetzliche Träume warteten auf ihn.
14
In seinen Träumen kämpfte Sherlock mit einer riesigen Schlange. Ihr Körper war so dick wie ein Bierfass und bestand, soweit er es sehen konnte, nur aus Muskeln und Rippen. Ihr Kopf sah aus wie ein flaches Dreieck mit zwei sägeartigen Zähnen an den Seiten. Sie kämpften irgendwo im Wasser, aber in seinem Traum war das Wasser so dick und schwarz wie Rübensirup. Die Schlange ringelte sich langsam um seinen Körper und zog sich zusammen, um seine Rippen zu brechen. Aber das zähflüssige Wasser erschwerte ihre Bewegungen, und Sherlock war in der Lage, den um ihn gewundenen Körper auseinanderzudrücken, indem er sich mit Armen und Beinen fest dagegenstemmte. Doch als er dann zu fliehen versuchte, wurden seine Schwimmbewegungen von dem zähflüssigen Wasser so grotesk verlangsamt, dass die Schlange erneut ihren Körper um ihn schlängeln und langsam wieder zudrücken konnte. Und so ging es immer weiter: Verstrickt in einem endlosen Kampf, versuchte Sherlock unaufhörlich der Schlange zu entkommen, während diese beharrlich bestrebt war, ihn zu umklammern.
Mit dem Gefühl, dass eine Menge Zeit verstrichen war, erwachte Sherlock endlich. Mund und Hals fühlten sich staubtrocken an, und als er mit der Zunge über den Gaumen fuhr, blieb sie zunächst daran haften. Außerdem war er am Verhungern.
Nach einer Weile fühlte er sich stark genug, um sich aufzusetzen, ohne dass ihm übel wurde. Und was er sah, ließ ihn vorübergehend Durst, Hunger und Übelkeit vergessen.
Er lag in einem Himmelbett, über das sich ein kunstvoll bestickter Baldachin wölbte. Sein Kopf ruhte auf weichen Daunenkissen und der Raum war mit dunklem Eichenholz getäfelt.
Erlesene, mit detailreichen Motiven verzierte Teppiche bedeckten die glänzend lackierten Bodendielen.
Es war derselbe Raum, in dem er aufgewacht war, nachdem man ihn im Boxring k.o. geschlagen hatte, auf dem Jahrmarkt am Rand von Farnham.
Aber wie war das möglich? Baron Maupertuis hatte das Anwesen doch aufgegeben und es völlig leer zurückgelassen. Er konnte doch unmöglich so rasch zurückgekehrt sein? Und warum sollte er so was tun?
Sherlock rollte sich vom Bett herunter und stellte sich aufrecht hin. Er fuhr sich mit einer Hand durchs Gesicht und war überrascht, als er um Mund und Nase herum auf irgendetwas Trockenes stieß. Er rieb daran, zog etwas davon von seiner Haut ab und betrachtete seine Finger. Sie waren mit Fäden einer schwarzen Substanz bedeckt. Er rieb die Finger aneinander und stellte verwundert fest, dass die Fäden leicht klebrig waren.
Er erinnerte sich an den Stoffballen, der ihm auf den Mund gepresst worden war. Eine Chemikalie? Eine Droge, um ihn zu betäuben? Das war nicht unwahrscheinlich.
Und Virginia? Der plötzlich in ihm aufbrodelnde Zorn spülte die letzten Reste von Schlaf und Übelkeit aus seinem Körper. Was war mit Virginia passiert? Sollte jemand ihr etwas angetan haben, dann würde er ihn …
Was würde er? Ihn umbringen? Er war momentan nicht gerade in der Lage, so etwas zu tun.
Er musste Informationen sammeln. Herausfinden, was hier vor sich ging, und warum. Erst dann würde er etwas unternehmen können.
Sherlock ging zu den geschlossenen Vorhängen hinüber und zog sie zurück. Er hatte erwartet, auf trockene rote Erde und Hunderte von Bienenstöcken zu blicken. So wie beim letzten Mal, als er in diesem Raum gewesen war. Aber was er nun sah, ließ ihn überrascht zurücktaumeln.
In kurzer Entfernung zum Haus zog sich ein Strand aus grauem Sand entlang und dahinter erstreckte sich bis zum fernen Horizont eine Fläche aus rollenden, schaumgekrönten Wogen. Der Himmel war strahlend blau. Und irgendwo in der Ferne konnte Sherlock mehrere Segel erkennen.
Er schloss einen Moment lang die Augen und dachte nach. Halluzinierte er gerade? Durchaus möglich, vermutete er. Aber der Traum von der Schla
nge und dem sirupartigen Wasser hatte etwas Bizarres und Unlogisches in der Wahrnehmung gehabt. Etwas, das – im Nachhinein betrachtet – bewirkt hatte, dass ihm irgendwie klar gewesen war, dass er träumte. Wohingegen das da draußen klar erkennbar war und irgendwie echt aussah.
War das Bild, das sich ihm draußen vor dem Fenster bot, etwa genau das? Ein perfekt ausgeführtes Gemälde, das einem den Eindruck vermittelte, es mit realem Strand, Meer und Sonne zu tun zu haben, während es sich tatsächlich nur um Farbpigmente auf einer Leinwand oder einer Tafel handelte? Er öffnete wieder die Augen und sah noch einmal genauer hin.
In weiter Entfernung waren kleine, weiße w-förmige Umrisse zu erkennen, die über den Wellen kreisten, sich also bewegten, während er sie beobachtete. Seevögel, die sich im Aufwind treiben ließen. So etwas konnte man nicht in einem Bild vortäuschen. Was auch immer sich da draußen befand, war real.
Und da es in der Nähe von Farnham keinen Ozean gab, lag die logische Schlussfolgerung nahe, dass er sich nicht mehr in der Nähe von Farnham befand. Und vermutlich noch nicht einmal mehr in England. Der Kaimeister hatte erzählt, dass das Schiff Frankreich ansteuern würde. Das würde auch die merkwürdige Felsküste erklären.
Aber was war mit dem Raum? Das war vermutlich ganz simpel durch die Tatsache zu erklären, dass Baron Maupertuis ein Gewohnheitstier war und, wo immer er sich auch aufhielt, es zu schätzen wusste, wenn seine Umgebung stets so vertraut wie möglich war. Gesetzt den Fall, dass es sich bei dem Anwesen außerhalb von Farnham nicht um seinen Familiensitz handelte, so hatte er es vermutlich so umgebaut und umgestaltet, dass es dem glich, was er als sein Zuhause bezeichnete – wo immer es auch sein mochte. Wobei es sich dabei durchaus um dieses französische – wie sagte man hier doch gleich … Château? – handeln konnte, in dem er sich gerade aufhielt.
Ein seltsames Gefühl der Selbstzufriedenheit erfüllte ihn. Er war einer Sache auf die Spur gekommen, die von seinen Widersachern seiner Vermutung nach eigentlich dafür vorgesehen war, ihn zu verwirren und aus dem Gleichgewicht zu bringen. Als dann das Türschloss hinter ihm klickte und die Tür nach innen aufschwang, drehte er sich nicht einmal um. Er wusste bereits, was er dort zu sehen bekäme: zwei Diener in schwarzen Kniebundhosen, schwarzen Beinlingen, schwarzen Westen und kurzen schwarzen Jacken. Mit schwarzen Samtmasken im Gesicht. Genau wie beim letzten Mal. Er zählte im Kopf bis zehn und drehte sich um. Er hatte recht. Jedenfalls zum Teil. Die beiden Diener, die links und rechts in der Tür standen, waren genauso angezogen, wie er sich erinnerte. Allerdings stand noch ein dritter Mann in der Mitte des Türrahmens. Genauer gesagt, war er so riesig, dass er diesen fast vollständig ausfüllte. Seine Arme waren so dick wie die Beine eines normalen Mannes, während seine eigenen Beine den Umfang von Baumstämmen aufwiesen. Seine Hände glichen in Größe und Gestalt großen Schaufelblättern. Aber das, womit er in erster Linie die Aufmerksamkeit auf sich lenkte, war sein Kopf. Er war kahlgeschoren, doch seine Kopfhaut war so dicht von gewundenen braunen Narben überzogen, dass es auf den ersten Blick aussah, als hätte er einen üppigen Haarschopf auf dem Kopf. Über einem schlabberig sitzenden grauen Anzug trug er einen langen braunen Ledermantel, dessen weiter Schnitt und schiere Masse ihn sogar noch größer wirken ließen.
»Der Baron will dich sehen«, sagte er mit einer Stimme, die sich anhörte, als würden zwei Millionen Mahlsteine aufeinanderreiben.
»Und was ist, wenn ich den Baron nicht sehen will?«, erwiderte Sherlock ruhig. Die beiden Diener tauschten Blicke aus, aber der Narbenmann schüttelte nur leicht den Kopf. »Was der Baron will, kriegt er auch. Etwas anderes gibt es nicht.«
»Was ist, wenn ich mich weigere, mit euch zu gehen?«
»Dann packen wir dich am Kragen und tragen dich.«
Sherlock wusste, dass er sich kindisch benahm. Aber seine Widersacher sollten begreifen, dass er nicht einfach nur ein willenloses und passives Opfer war.
»Was, wenn ich mich am Türrahmen festkralle und mich weigere loszulassen?«
»Dann brechen wir dir die Finger und nehmen dich trotzdem mit.«
Der Mann lächelte, aber in seinem Ausdruck lag keine Spur von Heiterkeit. Es war lediglich ein bloßes Zurschaustellen seiner Zähne. Wie ein Tiger, der sich bereit zum Sprung auf sein Opfer machte. »Der Baron braucht von dir nur das, was übrig bleiben muss, um Fragen zu beantworten. Mehr nicht. Das bedeutet also deinen Kopf, damit dein Hirn denken und dein Mund sich bewegen kann, und deinen Brustkorb, damit deine Lungen atmen und dich am Leben halten können. Alles andere ist optional. Deine Wahl.«
Sherlock wartete noch einen Augenblick, nur um zu demonstrieren, dass er sich darüber bewusst war, eine Wahlmöglichkeit zu haben und diese auch in Anspruch nahm. Dann bewegte er sich auf die Tür zu. Der Narbenmann rührte sich nicht von der Stelle, bis Sherlock kurz davor war, in ihn hineinzulaufen. Erst dann drehte er sich etwas zur Seite. Doch gerade nur so viel, dass Sherlock durch die Tür kam.
»Mein Name ist MrSurd«, sagte er, als die beiden Diener und er Sherlock auf dem Korridor folgten. »Ich bin persönlicher Diener und Faktotum des Barons. Was immer er auch verlangt, ich erledige es. Will er ein Glas Madeira, gehört es zu meinen Aufgaben, ihm eines einzuschenken. Will er deinen Kopf auf einem Tablett, ist es meine Pflicht, ihn abzuschneiden und zu servieren. Kein Vergnügen, keine ehrenvolle Aufgabe. Einfach nur ein Job. Verstehst du mich?«
»Ich verstehe«, sagte Sherlock. »Sie waren das mit der Peitsche, als ich das letzte Mal beim Baron war, oder? Sie haben da im Dunkeln gestanden.«
»Nur ein Job«, wiederholte der Narbenmann. »Aber ein gut gemachter Job erfüllt mich mit großer Befriedigung.«
Der obere Korridor und die Treppe, die hinunter in die Haupthalle führte, sahen genauso aus, wie er sie von dem Anwesen in Farnham her noch in Erinnerung hatte. Unversehens ertappte Sherlock sich dabei, wie er nach den Hufspuren suchte, die Matty und er bei ihrer Flucht hinterlassen haben mussten. Doch halt, nein. Dies war nicht dasselbe Haus, sondern ein anderes. Eines, das einfach nur so aussah wie das in Farnham.
Virginia stand neben einem großen Teakschrank in der Halle. Direkt vor dem Raum, in dem, wie Sherlock sich erinnerte, Baron Maupertuis auf sie warten würde. Bewacht wurde sie von zwei maskierten Dienern, die sich neben ihr postiert hatten.
»Alles in Ordnung?«, fragte er.
»Nur ein paar seltsame Träume«, erwiderte sie. »Ich bin auf Sandia geritten, aber er war so wild, dass ich ihn beim besten Willen nicht kontrollieren konnte. Wir sind einfach weiter und weiter durch eine komische Landschaft geritten, die immer in dem Augenblick zerflossen ist, in dem ich einen Blick darauf geworfen habe.« Sie schüttelte sich, um die unangenehme Erinnerung loszuwerden. »Und was ist mit dir?«
»Schlangen«, sagte er nur.
»Was war das für ein Zeugs, mit dem sie uns betäubt haben? Mein Kopf fühlt sich immer noch ganz benebelt an.«
»Ich glaube, es war Laudanum, in Alkohol gelöstes Opium. Meine Mutter und mein Vater haben es auf Anordnung des Arztes immer meiner kranken Schwester verabreicht. Ich erkenne den Geruch wieder. Es wird aus Mohn gemacht.«
»Mohn?« Sie lachte. »Den hab ich noch nie gemocht. Das sind ganz gruselige Blumen.«
MrSurd schob sich an ihnen vorbei und öffnete die Tür zu dem Raum, in dem der Baron auf sie wartete. Mit einer Geste forderte er sie auf einzutreten.
Wie bei ihrer letzten Begegnung lag der Raum im Dunkeln. Am Kopfende eines riesigen Tisches waren zwei Stühle platziert worden. Das andere Ende des Tisches lag im Schatten verborgen. Schwere schwarze Vorhänge verhüllten die Fenster und verhinderten, dass Sonnenlicht ins Zimmer drang. Die wenigen Wandbereiche, die Sherlock erkennen konnte, waren mit Schwertern und Schildern bedeckt. Und an einer Stelle war sogar eine vollständige Ritterrüstung aufgestellt worden, die so arrangiert war, dass der in der Rüstung steckende imaginäre Ritter ein Schwert in der Hand hielt.
MrSurd bedeutete ihnen, sich zu setzen. Sherlock spielte mit dem Gedanken, sich zu weigern. Aber dann nahm er etwas in MrSurds Blick wahr. Etwas, das ihn zu dem Schluss kommen ließ, dass der Diener genau dies nicht nur von ihm erwartete
, sondern sich sogar regelrecht wünschte, um Sherlock eine schmerzhafte Lektion erteilen und ein für alle Mal sicherstellen zu können, dass er gehorchte.
Also setzte sich Sherlock lieber, während Virginia neben ihm Platz nahm.
MrSurd und die vier Diener gingen zum anderen Ende des Raumes und verschwanden in der Dunkelheit.
Eine Weile war es still im Zimmer. Abgesehen von einem feinen Knarren und Knarzen, Geräuschen, wie sie unter Spannung stehende Taue und Holz von sich geben und die Sherlock schon beim letzten Mal aufgefallen waren.
Dann erklang eine flüsternde Stimme, die sich wie trockene Blätter anhörte, die im Wind raschelten. »Du beharrst darauf, meine Pläne zu durchkreuzen, und dabei bist du doch nur ein Kind. Wegen dir war ich gezwungen, eines meiner Anwesen aufzugeben.«
»Sie scheinen es zu lieben, wenn ihre Häuser identisch konstruiert und eingerichtet sind«, sagte Sherlock. »Warum? Ziehen Sie es vor, dass die Dinge alle gleich aussehen?«
Eine Weile herrschte Stille, und jeden Augenblick erwartete Sherlock, zu spüren zu bekommen, wie sich die aus der Dunkelheit schnellende Peitschenspitze in sein Fleisch schnitt.
Aber stattdessen antwortete die Stimme.
»Wenn ich einmal etwas gefunden habe, das ich mag«, sagte sie, »sehe ich keinen Grund darin, etwas anderes zu ertragen. Ob nun der Grundriss und die Einrichtung eines Hauses oder ein Regierungssystem … Sobald ich etwas gefunden habe, das funktioniert, will ich es duplizieren, damit die Dinge absolut identisch sind, wo immer ich auch bin. Ich finde das … irgendwie tröstlich.«
»Und deswegen kleiden Sie ihre Diener auch in schwarze Masken. So können Sie sich der Illusion hingeben, dass Sie – egal, wo Sie sich gerade aufhalten – stets von denselben Leuten umgeben sind.«
»Sehr scharfsinnig.«