by Andrew Lane
»Und wir befinden uns gerade wo … in Frankreich?«
»Du hast die Landschaft erkannt? Ja, dieses Haus liegt in Frankreich. Während man euch auf dem Schiff und dann in der Kutsche hierhergebracht hat, wurdet ihr die ganze Zeit über betäubt gehalten.«
»Aber was ist mit MrSurd?«, fragte Sherlock. »Von ihm gibt’s nur einen.«
»MrSurd ist unersetzlich. Wohin ich gehe, geht auch er hin.«
»Sie sind Baron Maupertuis, nicht wahr?«
»Du überraschst mich schon wieder. Ich hätte nicht gedacht, dass mein Name weithin bekannt ist.«
»Ich … hab das anhand von Anhaltspunkten kombiniert.«
»Sehr clever. Wirklich sehr clever. Mein Kompliment für deine Kombinationsgabe. Und was hast du dir sonst noch so zusammenkombiniert?«
Virginia legte warnend eine Hand auf die seine. Aber Sherlock spürte plötzlich Stolz in sich aufkeimen – Stolz auf die Nachforschungen, die er unternommen hatte, auf die Sachverhalte, die er aufgedeckt hatte, und darauf, dass sich die Einzelteile der Verschwörung in seinem Kopf allmählich zu einem Bild zusammenzufügen begannen. Und außerdem, so sagte er sich, war es wichtig, dass Maupertuis erfuhr, dass seine Pläne nicht mehr länger geheim waren. »Ich weiß, dass Sie Bienen gehalten haben, und ich weiß, dass es sich um eine ausländische Spezies handelt, die aggressiver ist als jede europäische Bienenart. Das bedeutet, Sie halten die Tiere nicht, um Honig zu produzieren, sondern um ihrer Stachel willen. Sie wollen, dass sie Menschen verletzen oder töten.« Sein Hirn arbeitete jetzt auf Hochtouren und jonglierte fieberhaft mit diversen Fakten herum, um auf Muster zu stoßen, die er zuvor kaum für möglich gehalten hatte. Amyus Crowes Absicht war es gewesen, ihn zu unterrichten, ihn zu trainieren. Baron Maupertuis aber nahm ihn tatsächlich ernst … oder besser gesagt, betrachtete ihn als ernsten Gegner. Er hörte sich Sherlocks Schlussfolgerungen an, als hätten sie wirklich eine Bedeutung. Als wären es nicht bloß Antworten theoretischer Natur, die sich auf künstlich konstruierte Problemstellungen bezogen, in denen Hasen und Füchse involviert waren.
»Sie haben auch eine Fabrik betrieben, um Kleidung zu produzieren … Armeeuniformen, glaube ich.« Er hielt eine Sekunde inne. Da war etwas, das er mit seinen Gedanken noch nicht ganz greifen konnte, ein bedeutsames logisches Ziel, auf das alles hinauslief und dessen Elemente er bereits alle kannte. Mit Ausnahme des letzten, das einen eher intuitiven Sprung erforderte. »Einer ihrer Männer, ich glaube Wint war sein Name, hat ein paar Kleidungsstücke gestohlen und sie in seinem Haus gelagert. Er wurde von Bienen attackiert. Ein anderer Mann, der auf dem Anwesen meines Onkels als Gärtner arbeitete, hat zuvor in Farnham Kleidung hergestellt – für Sie, vermute ich mal. Auch er wurde von Bienen getötet. Hat er vielleicht ein paar der Kleidungsstücke für eigene Zwecke abgezweigt, Sie also sozusagen bestohlen?« Der mentale Nebel, der die letzte entscheidende logische Schlussfolgerung bisher noch vor ihm verhüllt hatte, begann sich nun zu lichten, und triumphierend fuhr er fort: »Also ist etwas in der Kleidung, das die Bienen dazu bringt anzugreifen. Sind die Kleidungsstücke in Kisten verpackt, passiert nichts. Aber wenn die Leute sie anziehen … werden die Bienen angelockt und stechen auf alle ein, die diese Kleidung tragen. Egal, um wen es sich handelt.«
Virginia hielt seine Hand nun fest umklammert. Aber Sherlock ignorierte sie.
»Diese Männer da, die im Lagerhaus in Rotherhithe waren, … die haben davon gesprochen, dass die Kisten nach Ripon, Colchester und Aldershot transportiert werden sollen. Das sind alles Armeegarnisonen. Wenn also sämtliche Kisten zu Armeegarnisonen gebracht werden, dann handelt es sich bei der Kleidung wahrscheinlich um Uniformen. Was haben Sie gemacht? Sind Sie an so etwas wie einen Regierungsauftrag gekommen, um die britische Armee mit Uniformen zu beliefern? Die Soldaten tragen ihre neuen Uniformen vermutlich, während sie sich vorbereiten, nach Indien verlegt zu werden. Und dann …«
Sherlocks fieberhafte Gedankensprünge waren eine Zeit lang dem übrigen Teil seines nüchtern analysierenden Geistes vorausgeeilt. Aber nun takteten sie plötzlich wieder im Gleichklang. Sein Vater. Aldershot. Indien. Uniformen. »Und dann lassen Sie die Bienen frei, die sich daraufhin auf jeden Soldaten der britischen Armee stürzen, ob Gefreiter, Unteroffizier oder Offizier«, flüsterte er, entsetzt darüber, zu welcher Erkenntnis ihn die Logik gebracht hatte.
»Tausende von mysteriösen, aber unabwendbaren Todesfällen«, flüsterte der Baron von seinem Platz in der Dunkelheit am anderen Tischende aus. »Ein demoralisierender Schlag mitten ins Herz des Britischen Empires. Vollstreckt durch die winzige Biene – diesem kleinen Tierchen, das dafür sorgt, dass Tausende von Sonntag-Nachmittags-Teegesellschaften nicht auf ihren Honig verzichten müssen. Die darin liegende Ironie ist … irgendwie reizvoll.«
»Aber warum?« Sherlock hatte plötzlich Bilder von seinem Vater im Kopf. Bilder, in denen er mit geschwollenem Gesicht und von Beulen übersät zusammenbrach und langsam erstickte, während die Bienen wieder und wieder auf ihn einstachen.
»Warum?« Die Stimme des Barons war um keinen Deut lauter geworden, aber plötzlich lag eine Bösartigkeit darin, die vorher nicht dagewesen war. »Warum? Weil dein erbärmliches kleines Land sich der Wahnsinnsillusion von Größe hingibt, die dazu geführt hat, dass es die halbe Welt eroberte. Dabei ist es gar nicht leicht, ein Land zu finden, das kleiner ist als England. Ihr seid kaum mehr als ein Klecks auf der Landkarte. Es gibt keinen Globus auf der Welt, auf dem ein Kartograph in der Lage gewesen wäre, das Wort ›England‹ innerhalb der Inselgrenzen zu platzieren. Sie ist einfach zu klein. Und trotzdem besitzt ihr die Arroganz, die Frechheit und gebt euch der schieren Selbsttäuschung hin, zu glauben, dass die Welt nur für eure gütige Herrschaft geschaffen wurde. Und diese Welt hat sich dann auch noch einfach nur schläfrig umgedreht und euch gewähren lassen! Erstaunlich. Aber es gibt Männer, Militärs, die euren wilden Raubtierinstinkten Einhalt gebieten werden.
Die Grenzen des Britischen Empires müssen zurückgedrängt werden, und wenn auch nur, damit andere Länder Luft zum Atmen und etwas Raum zum Leben bekommen. Ich … repräsentiere eine Gruppe von solchen Männern … Deutsche, Franzosen, Amerikaner, Russen. Sie haben sich zusammengetan, um eure territorialen Ambitionen zu zügeln. Ihr werdet nicht ruhen, ehe sich die rot markierte Fläche des Britischen Empires über die ganze Landkarte ausgebreitet hat; und wir werden nicht ruhen, bis sich diese Fläche wieder auf eure mickrige Insel beschränkt.« Er hielt inne. »Und vermutlich noch auf Britisch Honduras und Südafrika. Britisch Honduras könnt ihr behalten.«
»Somit planen Sie also, die britische Armee durch einen einzigen Schlag zu vernichten.«
»Nicht so sehr durch einen einzigen Schlag als vielmehr durch eine immer weiter um sich greifende Krankheit, die nur Soldaten befällt und niemand sonst. Die Bienen sind, wie du ja bereits weißt, ungewöhnlich aggressiv und territorial orientiert. Wir haben sie auf Aggressivität hin gezüchtet – und sie vermehren sich ausgesprochen schnell. Die Substanz, mit der wir die Uniformen getränkt haben, wird von den Körpern der Soldaten absorbiert und dann über die Haut wieder ausgeschwitzt. Riechen die Bienen das, gehen sie augenblicklich zum Angriff über. Sobald die Bienen aus ihren neuen Heimen freigelassen worden sind, werden sie sich im Laufe einiger Monate über ganz England ausbreiten und auf ihrem Weg alle Soldaten zu Tode stechen, denen sie begegnen. Für die nächste Angriffsphase werden wir an geheimen Orten in Europa weitere Völker züchten. Entsetzen, Angst und nackte Panik werden unsere effektivsten Verbündeten sein. Eine mysteriöse Seuche, die nur Soldaten befällt. Und England wird auf die Position verwiesen, die es verdient: die einer drittrangigen Nation.«
»Aber was ist mit den beiden Männern, die gestorben sind? Ihr Komplize und der Gärtner meines Onkels. Die waren nicht Teil der Verschwörung, oder?«
Ein Rascheln und Knarzen ertönte aus der Dunkelheit, als würde Baron Maupertuis die Achseln zucken. Oder als würde jemand bewirken, dass er es tat. »Ich wusste, dass einige Arbeiter Uniformteile gestohlen hatten, aber ich habe das durchgehen lassen. Das war ein Fehler. Einer der Bienenstöcke wurde von einem Pferd umgeworfen und die Bi
enen entkamen. Sie wurden wild, und als sie die Substanz auf den gestohlenen Uniformen witterten, griffen sie an. MrSurd musste die Königin retten und die überlebenden Bienen zurücklocken. Eine sehr mutige Aktion.«
»Nur ein Job, Sir«, ließ sich MrSurd von der anderen Seite des Raumes aus vernehmen.
Obwohl Sherlock bereits das meiste herausgefunden hatte, verschlug es ihm angesichts der blanken Unverfrorenheit der Verschwörung dennoch den Atem. Und so schrecklich der Plan einerseits auch war, so konnte Sherlock zunächst auch keine offensichtlichen Denkfehler darin entdecken. Wenn die Bienen so aggressiv waren, wie Maupertuis gesagt hatte, und die Uniformen so effektiv verteilt werden würden, wie der Baron es vorhatte, könnte es funktionieren. Nein, es würde funktionieren.
»Mein Bruder wird Sie aufhalten«, sagte Sherlock ruhig. Das war seine letzte Hoffnung.
»Dein Bruder?«
»Mein Bruder.«
Sherlock hörte ein Wispern im Dunkeln. Dem rauen, an aneinanderreibende Steine erinnernden Ton nach zu schließen, kam es von MrSurd.
»Ah«, sagte Maupertuis mit seiner dünn-trockenen Stimme. »Dein Name ist Sherlock Holmes. Dein Bruder muss Mycroft Holmes sein. Ein cleverer Mann. Wir hatten ihn schon mal als jemanden ins Auge gefasst, der für unsere Gruppe interessant sein könnte. Wie es aussieht, gerätst du nach ihm.«
»Ich habe ihm bereits ein Telegramm geschickt und berichtet, was hier vor sich geht«, sagte Sherlock so ruhig, wie er es eben fertigbrachte.
»Nein«, korrigierte ihn der Baron. »Das hast du nicht. Wenn dem so wäre, hättest du keine Veranlassung mehr gehabt, mein Schiff unter die Lupe zu nehmen. Mycroft Holmes hätte seine Agenten eingesetzt, um das zu erledigen.«
Seine Agenten? Auf einmal wurde sich Sherlock so richtig über das Ausmaß der Macht klar, über die sein Bruder verfügen musste.
Wieder war Gewisper vom anderen Ende des Raumes zu hören.
»Trotzdem werden wir uns wohl um deinen Bruder kümmern müssen«, flüsterte Maupertuis. »Wenn sich von deiner Intelligenz auf die seine schließen lässt, könnte er durchaus imstande sein, hinter unsere Pläne zu kommen, und versuchen sie zu vereiteln. Du und er werdet in derselben Woche sterben, vermutlich sogar am selben Tag. In derselben Stunde, wenn ich es arrangieren kann, denn ich bin ein Mann, der die Ordnung schätzt. Und außerdem bleiben so deinen Eltern die Ausgaben für zwei einzelne Begräbnisse erspart.«
Mit einem Mal wurde Sherlock in vollem Ausmaß der schreckliche Preis bewusst, den er für seine Arroganz zu zahlen haben würde. Indem er voller Stolz die ganze schreckliche Verschwörung aufgedeckt, Baron Maupertuis seine Cleverness demonstriert und – schlimmer noch – sich dann mit seinem einflussreichen Bruder gebrüstet hatte, hatte er sie beide zum Tode verurteilt.
»Ich glaube, du hast mir jetzt alles gesagt, was du weißt«, fuhr Maupertuis fort, »und ich bin überrascht, wie viel du herausgefunden hast. Offensichtlich müssen wir in Zukunft noch diskreter vorgehen. Danke, zumindest dafür.«
»Aber warum London?«, fragte Sherlock rasch. Er spürte, dass die Dinge dem Ende zustrebten und man ihnen in Kürze das Leben nehmen würde. »Warum haben Sie die Bienenstöcke nicht gleich nach Portsmouth oder Southampton, sondern erst nach London transportieren lassen, bevor man sie hierher verfrachtete?«
»Deine Flucht hat uns früher zum Handeln gezwungen als geplant«, flüsterte der Baron. »In Portsmouth und Southampton waren keine Liegeplätze frei, und unser Schiff hat in London auf den Befehl zum Auslaufen gewartet. Es war im Grunde ineffizient, die Bienenstöcke nach London zu bringen, aber leider unvermeidlich. Und damit hat sich nun deine Nützlichkeit für mich erschöpft … deine und die des Mädchens, das neben dir sitzt. Ich wollte eigentlich drohen, sie umzubringen, um dich zum Reden zu zwingen. Aber Zwang war gar nicht erforderlich. Wenn es überhaupt ein Problem gab, dann bestand es darin, dich dazu zu bewegen, die Klappe zu halten.«
Gedemütigt blickte Sherlock Virginia an und spürte, wie er rot wurde. Aber Virginia lächelte ihn nur an. »Du hast verhindert, dass sie mir wehtun«, flüsterte sie. »Danke.«
»Keine Ursache«, antwortete Sherlock automatisch, ohne sich wirklich sicher zu sein, ob er sich das nun wirklich als Verdienst anrechnen sollte.
»MrSurd«, hörten sie Baron Maupertuis’ Stimme aus der Dunkelheit, und obwohl er flüsterte, drang seine befehlsgewohnte Stimme in jeden Winkel des Raumes.
»Wir müssen unsere Pläne beschleunigen. Erteilen Sie die Befehle. Begeben Sie sich zum Fort und lassen Sie die Bienen frei. Wenn sie die britische Hauptinsel erreicht und sich über das Land verteilt haben, werden die Uniformen schon ausgeteilt sein. Und dann werden Chaos und Verwirrung herrschen!«
15
Die Worte des Barons hallten kalt von den Wänden wider. Vor ihnen im Dunkeln war geschäftiges Geraschel zu hören, während ein Diener mit den Befehlen den Raum verließ. Sherlock warf einen Blick auf Virginia. Ihr Gesicht war kreidebleich, aber ihr Mund hatte sich zu einer entschlossenen Linie verhärtet. Er drückte ihre Hand, woraufhin Virginia ihm ein mattes Lächeln schenkte.
Ihr unbeugsamer Geist machte Sherlock Mut weiterzumachen.
»Ein grandioser Plan«, sagte er in die Dunkelheit gewandt. »Nur wird er nicht funktionieren.«
Einen Moment lang herrschte Stille. Lediglich unterbrochen von den merkwürdigen knarzenden und knarrenden Geräuschen, die er bereits im Haus des Barons in Farnham gehört hatte. Etwas, das klang wie eine vom Meerwasser benetzte Schiffstakelage, an der der Wind und die ruckartigen Bewegungen eines Schiffsrumpfes zerrten, der in den Wellen hin- und hergeschleudert wurde.
»Du scheinst ziemlich selbstsicher zu sein«, meldete sich die Stimme des Barons wieder. »Für ein Kind.«
»Denken Sie doch mal drüber nach. Ihr Plan ist nicht unbedingt wasserdicht, nur weil ihm zufällig zwei Männer zum Opfer gefallen sind. Durch alle möglichen Umstände könnte die Chemikalie zum Beispiel aus dem Uniformstoff herausgewaschen werden. Denken Sie daran, in England regnet es. Es regnet eine Menge. Und einige Soldaten werden ihre Uniformen schon einmal zum Waschen gebracht haben, bevor die Bienen sie erreichen. Vor allem die Offiziere.« Sherlock kam nun richtig in Fahrt, und sein Kopf sprudelte plötzlich nur so von Ideen, warum Maupertuis’ grandiose Verschwörung zum Scheitern verurteilt war.
»Statt die von Ihnen gelieferten Uniformen zu benutzen, ziehen einige Soldaten vielleicht ihre alten Waffenröcke vor und behalten sie, oder sie bringen ihren Regimentsschneider dazu, ihnen eine neue zu schneidern. Ich weiß nicht viel von Frankreich, Deutschland oder Russland, aber die Leute in England mögen es nicht, gesagt zu bekommen, was sie zu tun oder anzuziehen haben. Sie finden stets Mittel und Wege, um solche Anweisungen zu umgehen.«
»Und was ist mit den Bienen?«, fügte Virginia unerwarteterweise hinzu. »Wie viele von ihnen werden die Hauptinsel tatsächlich erreichen? Wie viele Bienen brauchen Sie, um alle Gegenden abzudecken, in denen die Armee stationiert ist? Haben Sie auch wirklich genug? Und was ist, wenn es einen Kälteeinbruch gibt und die Bienen sterben, oder wenn es in England irgendein Tier gibt, das sie frisst, oder wenn sie sich einfach irgendwo niederlassen, einen neuen Staat gründen und hier zu einem Teil der natürlichen Umgebung werden? Aller Wahrscheinlichkeit nach werden sie sich mit den einheimischen Bienen kreuzen, mit den britischen Bienen, und jede Spur von Aggressivität verlieren, auf der Ihr Plan beruht.«
»All diese Faktoren sind berücksichtigt worden«, erwiderte der Baron mit knochentrockener Stimme. Aber Sherlock hatte den Eindruck, dass dabei zum ersten Mal so etwas wie Unsicherheit durchklang. »Und selbst wenn einige Uniformen vorher gewaschen worden sind und ein paar Bienen sterben, was soll’s? Viele Angriffe werden trotzdem erfolgreich sein. Es wird ein Massensterben geben. Und die britische Armee wird gelähmt sein vor Angst. Gelähmt.«
»Sie verstehen einfach nicht, wie die Briten denken, nicht wahr?«, spottete Sherlock. In seinem Geist blitzten Erinnerungen an diverse Schulstunden auf, an das, was er – zusammengekauert auf einem Stuhl in der Bibliothek seines Vaters – in Büchern und Zeitungen gelesen oder von seinem Bruder Mycroft gehört hatte.
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»Haben Sie jemals etwas von dem Todesritt der leichten Brigade gehört?«
Das Knarren und Knarzen stoppte abrupt, und plötzlich hatte Sherlock das Gefühl, als ob viele Ohren aufmerksam seinen Worten lauschten.
»Oh, ja«, zischte der Baron. »Ich habe von dem Todesritt der leichten Brigade gehört.«
»Während des Krimkrieges 1854«, fuhr Sherlock unbeeindruckt fort, »bekamen die Soldaten des 4. und 13. leichten Dragonerregiments, des 17. Ulanenregiments sowie des 8. und 11. Husarenregiments während der Schlacht von Balaclava den Befehl, die russischen Stellungen anzugreifen. Sie stürmten durch ein enges Tal voran, in dem sie von vorne und von beiden Seiten russischem Kanonenfeuer ausgesetzt waren. Trotzdem sind sie einfach weitergeritten und haben, ohne in Panik zu geraten oder zu meutern, ihre Befehle ausgeführt. Ich behaupte nicht, dass blinder und bedingungsloser Gehorsam eine gute Sache ist, aber britische Soldaten haben praktisch ein Rückgrat aus Eisen und die Disziplin mit der Muttermilch aufgesogen. Ich weiß das, denn mein Vater ist Offizier. Sie geraten nie in Panik. Niemals. Nein, selbst wenn es Tote gibt, wird man damit umgehen, als wäre es ein gewöhnlicher Cholera- oder Pockenausbruch. Verstehen Sie denn nicht? Sie werden es einfach ignorieren. Das ist es, was die Briten zu tun pflegen. Deswegen ist das Britische Empire so groß und so stark. Wir ignorieren einfach die Dinge, die uns nicht passen.«
»Gut gesprochen«, sagte der Baron. »Aber das kaufe ich dir nicht ab. Offensichtlich möchtest du daran glauben, dass euer Empire auf stabilem Felsfundament errichtet ist. Doch da irrst du dich. Die Fundamente sind morsch, und das prachtvolle Gebäude darauf wird in sich zusammenfallen, wenn man nur kräftig genug dagegentritt.
Du denkst, dass morgen noch alles so ist wie heute. Aber das wird nicht der Fall sein. Die Welt wird sich ändern und das Gleichgewicht der Mächte sich zu Gunsten meiner Partner in der Paradol-Kammer verschieben.«
Paradol-Kammer? Was war das? Während Maupertuis weitersprach, prägte sich Sherlock den seltsamen Begriff genau ein. Könnte sich das doch noch als wichtiger und verhängnisvoller Versprecher erweisen, der Mycroft sicher brennend interessieren würde.