121.
Das Leben kein Argument. Wir haben uns eine Welt zurecht gemacht, in der wir leben können – mit der Annahme von Körpern, Linien, Flächen, Ursachen und Wirkungen, Bewegung und Ruhe, Gestalt und Inhalt: ohne diese Glaubensartikel hielte es jetzt Keiner aus zu leben! Aber damit sind sie noch nichts Bewiesenes. Das Leben ist kein Argument; unter den Bedingungen des Lebens könnte der Irrthum sein.
122.
Die moralische Skepsis im Christenthum. – Auch das Christenthum hat einen grossen Beitrag zur Aufklärung gegeben: es lehrte die moralische Skepsis auf eine sehr eindringliche und wirksame Weise: anklagend, verbitternd, aber mit unermüdlicher Geduld und Feinheit: es vernichtete in jedem einzelnen Menschen den Glauben an seine "Tugenden": es liess für immer jene grossen Tugendhaften von der Erde verschwinden, an denen das Alterthum nicht arm war, jene populären Menschen, die im Glauben an ihre Vollendung mit der Würde eines Stiergefechtshelden umherzogen. Wenn wir jetzt, erzogen in dieser christlichen Schule der Skepsis, die moralischen Bücher der Alten, zum Beispiel Seneca's und Epiktet's, lesen, so fühlen wir eine kurzweilige Ueberlegenheit und sind voller geheimer Einblicke und Ueberblicke, es ist uns dabei zu Muthe, als ob ein Kind vor einem alten Manne oder eine junge schöne Begeisterte vor La Rochefoucauld redete: wir kennen Das, was Tugend ist, besser! Zuletzt haben wir aber diese selbe Skepsis auch auf alle religiösen Zustände und Vorgänge, wie Sünde, Reue, Gnade, Heiligung, angewendet und den Wurm so gut graben lassen, dass wir nun auch beim Lesen aller christlichen Bücher das selbe Gefühl der feinen Ueberlegenheit und Einsicht haben: – wir kennen auch die religiösen Gefühle besser! Und es ist Zeit, sie gut zu kennen und gut zu beschreiben, denn auch die Frommen des alten Glaubens sterben aus: – retten wir ihr Abbild und ihren Typus wenigstens für die Erkenntniss!
123.
Die Erkenntniss mehr, als ein Mittel. – Auch ohne diese neue Leidenschaft – ich meine die Leidenschaft der Erkenntniss – würde die Wissenschaft gefördert werden: die Wissenschaft ist ohne sie bisher gewachsen und gross geworden. Der gute Glaube an die Wissenschaft, das ihr günstige Vorurtheil, von dem unsere Staaten jetzt beherrscht sind (ehedem war es sogar die Kirche), ruht im Grunde darauf, dass jener unbedingte Hang und Drang sich so selten in ihr offenbart hat, und dass Wissenschaft eben nicht als Leidenschaft, sondern als Zustand und "Ethos" gilt. Ja, es genügt oft schon amour-plaisir der Erkenntniss (Neugierde), es genügt amour-vanité, Gewöhnung an sie, mit der Hinterabsicht auf Ehre und Brod, es genügt selbst für Viele, dass sie mit einem Ueberschuss von Musse Nichts anzufangen wissen als lesen, sammeln, ordnen, beobachten, weiter erzählen: ihr "wissenschaftlicher Trieb" ist ihre Langeweile. Der Papst Leo der Zehnte hat einmal (im Breve an Beroaldus) das Lob der Wissenschaft gesungen: er bezeichnet sie als den schönsten Schmuck und den grössten Stolz unseres Lebens, als eine edle Beschäftigung in Glück und Unglück; "ohne sie, sagt er endlich, wäre alles menschliche Unternehmen ohne festen Halt, – auch mit ihr ist es ja noch veränderlich und unsicher genug!" Aber dieser leidlich skeptische Papst verschweigt, wie alle anderen kirchlichen Lobredner der Wissenschaft, sein letztes Urtheil über sie. Mag man nun aus seinen Worten heraushören, was für einen solchen Freund der Kunst merkwürdig genug ist, dass er die Wissenschaft über die Kunst stellt; zuletzt ist es doch nur eine Artigkeit, wenn er hier nicht von dem redet, was auch er hoch über alle Wissenschaft stellt: von der "geoffenbarten Wahrheit" und von dem "ewigen Heil der Seele", – was sind ihm dagegen Schmuck, Stolz, Unterhaltung, Sicherung des Lebens! "Die Wissenschaft ist Etwas von zweitem Range, nichts Letztes, Unbedingtes, kein Gegenstand der Passion", – diess Urtheil blieb in der Seele Leo's zurück: das eigentlich christliche Urtheil über die Wissenschaft! Im Alterthum war ihre Würde und Anerkennung dadurch verringert, dass selbst unter ihren eifrigsten Jüngern das Streben nach der Tugend voranstand, und dass man der Erkenntniss schon ihr höchstes Lob gegeben zu haben glaubte, wenn man sie als das beste Mittel der Tugend feierte. Es ist etwas Neues in der Geschichte, dass die Erkenntniss mehr sein will, als ein Mittel.
124.
Im Horizont des Unendlichen. – Wir haben das Land verlassen und sind zu Schiff gegangen! Wir haben die Brücke hinter uns, – mehr noch, wir haben das Land hinter uns abgebrochen! Nun, Schifflein! sieh' dich vor! Neben dir liegt der Ocean, es ist wahr, er brüllt nicht immer, und mitunter liegt er da, wie Seide und Gold und Träumerei der Güte. Aber es kommen Stunden, wo du erkennen wirst, dass er unendlich ist und dass es nichts Furchtbareres giebt, als Unendlichkeit. Oh des armen Vogels, der sich frei gefühlt hat und nun an die Wände dieses Käfigs stösst! Wehe, wenn das Land-Heimweh dich befällt, als ob dort mehr Freiheit gewesen wäre, – und es giebt kein "Land" mehr!
125.
Der tolle Mensch. – Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: "ich suche Gott! Ich suche Gott!" – Da dort gerade Viele von Denen zusammen standen, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein grosses Gelächter. Ist er denn verloren gegangen? sagte der Eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind? sagte der Andere. Oder hält er sich versteckt? Fürchtet er sich vor uns? Ist er zu Schiff gegangen? ausgewandert? – so schrieen und lachten sie durcheinander. Der tolle Mensch sprang mitten unter sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. "Wohin ist Gott? rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getödtet, – ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir diess gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch Nichts von dem Lärm der Todtengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch Nichts von der göttlichen Verwesung? – auch Götter verwesen! Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besass, es ist unter unseren Messern verblutet, – wer wischt diess Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnfeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Grösse dieser That zu gross für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine grössere That, – und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser That willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!" – Hier schwieg der tolle Mensch und sah wieder seine Zuhörer an: auch sie schwiegen und blickten befremdet auf ihn. Endlich warf er seine Laterne auf den Boden, dass sie in Stücke sprang und erlosch. "Ich komme zu früh, sagte er dann, ich bin noch nicht an der Zeit. Diess ungeheure Ereigniss ist noch unterwegs und wandert, – es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen. Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Thaten brauchen Zeit, auch nachdem sie gethan sind, um gesehen und gehört zu werden. Diese That ist ihnen immer noch ferner, als die fernsten Gestirne, – und doch haben sie dieselbe gethan!" – Man erzählt noch, dass der tolle Mensch des selbigen Tages in verschiedene Kirchen eingedrungen sei und darin sein Requiem aeternam deo angestimmt habe. Hinausgeführt und zur Rede gesetzt, habe er immer nur diess entgegnet: "Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?" –
126.
Mystische Erklärungen. – Die mystischen Erklärungen gelten für tief; die Wahrheit ist, dass sie noch nicht einmal oberflächlich sind.
127.
Nachwirkung der ältesten Religiosität. – Jeder Gedankenlose meint, der Wille sei das allein Wirkende; Wollen sei etwas Einfaches, schlechthin Gegebenes, Unableitbares, An-sich-Verständliches. Er ist überzeugt, wenn er Etwas thut, zum Beispiel einen Schlag ausführt,
er sei es, der da schlage, und er habe geschlagen, weil er schlagen wollte. Er merkt gar Nichts von einem Problem daran, sondern das Gefühl des Willens genügt ihm, nicht nur zur Annahme von Ursache und Wirkung, sondern auch zum Glauben, ihr Verhältniss zu verstehen. Von dem Mechanismus des Geschehens und der hundertfältigen feinen Arbeit, die abgethan werden muss, damit es zu dem Schlage komme, ebenso von der Unfähigkeit des Willens an sich, auch nur den geringsten Theil dieser Arbeit zu thun, weiss er Nichts. Der Wille ist ihm eine magisch wirkende Kraft: der Glaube an den Willen, als an die Ursache von Wirkungen, ist der Glaube an magisch wirkende Kräfte. Nun hat ursprünglich der Mensch überall, wo er ein Geschehen sah, einen Willen als Ursache und persönlich wollende Wesen im Hintergrunde wirkend geglaubt, – der Begriff der Mechanik lag ihm ganz ferne. Weil aber der Mensch ungeheure Zeiten lang nur an Personen geglaubt hat (und nicht an Stoffe, Kräfte, Sachen und so weiter), ist ihm der Glaube an Ursache und Wirkung zum Grundglauben geworden, den er überall, wo Etwas geschieht, verwendet, – auch jetzt noch instinctiv und als ein Stück Atavismus ältester Abkunft. Die Sätze "keine Wirkung ohne Ursache", "jede Wirkung wieder Ursache" erscheinen als Verallgemeinerungen viel engerer Sätze: "wo gewirkt wird, da ist gewollt worden", "es kann nur auf wollende Wesen gewirkt werden", "es giebt nie ein reines, folgenloses Erleiden einer Wirkung, sondern alles Erleiden ist eine Erregung des Willens" (zur That, Abwehr, Rache, Vergeltung), – aber in den Urzeiten der Menschheit waren diese und jene Sätze identisch, die ersten nicht Verallgemeinerungen der zweiten, sondern die zweiten Erläuterungen der ersten. – Schopenhauer, mit seiner Annahme, dass Alles, was da sei, nur etwas Wollendes sei, hat eine uralte Mythologie auf den Thron gehoben; er scheint nie eine Analyse des Willens versucht zu haben, weil er an die Einfachheit und Unmittelbarkeit alles Wollens glaubte, gleich Jedermann: – während Wollen nur ein so gut eingespielter Mechanismus ist dass er dem beobachtenden Auge fast entläuft. Ihm gegenüber stelle ich diese Sätze auf. erstens, damit Wille entstehe, ist eine Vorstellung von Lust und Unlust nöthig. Zweitens: dass ein heftiger Reiz als Lust oder Unlust empfunden werde, das ist die Sache des interpretirenden Intellects, der freilich zumeist dabei uns unbewusst arbeitet; und ein und derselbe Reiz kann als Lust oder Unlust interpretirt werden. Drittens: nur bei den intellectuellen Wesen giebt es Lust, Unlust und Wille; die ungeheure Mehrzahl der Organismen hat Nichts davon.
128.
Der Werth des Gebetes. – Das Gebet ist für solche Menschen erfunden, welche eigentlich nie von sich aus Gedanken haben und denen eine Erhebung der Seele unbekannt ist oder unbemerkt verläuft: was sollen Diese an heiligen Stätten und in allen wichtigen Lagen des Lebens, welche Ruhe und eine Art Würde erfordern? Damit sie wenigstens nicht stören, hat die Weisheit aller Religionsstifter, der kleinen wie der grossen, ihnen die Formel des Gebetes anbefohlen, als eine lange mechanische Arbeit der Lippen, verbunden mit Anstrengung des Gedächtnisses und mit einer gleichen festgesetzten Haltung von Händen und Füssen und Augen! Da mögen sie nun gleich den Tibetanern ihr "om mane padme hum" unzählige Male wiederkäuen, oder, wie in Benares, den Namen des Gottes Ram-Ram-Ram (und so weiter mit oder ohne Grazie) an den Fingern abzählen: oder den Wischnu mit seinen tausend, den Allah mit seinen neunundneunzig Anrufnamen ehren: oder sie mögen sich der Gebetmühlen und der Rosenkränze bedienen, – die Hauptsache ist, dass sie mit dieser Arbeit für eine Zeit festgemacht sind und einen erträglichen Anblick gewähren: ihre Art Gebet ist zum Vortheil der Frommen erfunden, welche Gedanken und Erhebungen von sich aus kennen. Und selbst Diese haben ihre müden Stunden, wo ihnen eine Reihe ehrwürdiger Worte und Klänge und eine fromme Mechanik wohlthut. Aber angenommen, dass diese seltenen Menschen – in jeder Religion ist der religiöse Mensch eine Ausnahme – sich zu helfen wissen: jene Armen im Geiste wissen sich nicht zu helfen, und ihnen das Gebets-Geklapper verbieten heisst ihnen ihre Religion nehmen: wie es der Protestantismus mehr und mehr an den Tag bringt. Die Religion will von Solchen eben nicht mehr, als dass sie Ruhehalten, mit Augen, Händen, Beinen und Organen aller Art: dadurch werden sie zeitweilig verschönert und – menschenähnlicher!
129.
Die Bedingungen Gottes. "Gott selber kann nicht ohne weise Menschen bestehen" – hat Luther gesagt und mit gutem Rechte; aber "Gott kann noch weniger ohne unweise Menschen bestehen" – das hat der gute Luther nicht gesagt!
130.
Ein gefährlicher Entschluss. – Der christliche Entschluss, die Welt hässlich und schlecht zu finden, hat die Welt hässlich und schlecht gemacht.
131.
Christenthum und Selbstmord. – Das Christenthum hat das zur Zeit seiner Entstehung ungeheure Verlangen nach dem Selbstmorde zu einem Hebel seiner Macht gemacht: es liess nur zwei Formen des Selbstmordes übrig, umkleidete sie mit der höchsten Würde und den höchsten Hoffnungen und verbot alle anderen auf eine furchtbare Weise. Aber das Martyrium und die langsame Selbstentleibung des Asketen waren erlaubt.
132.
Gegen das Christenthum. – Jetzt entscheidet unser Geschmack gegen das Christenthum, nicht mehr unsere Gründe.
133.
Grundsatz. – Eine unvermeidliche Hypothese, auf welche die Menschheit immer wieder verfallen muss, ist auf die Dauer doch mächtiger, als der bestgeglaubte Glaube an etwas Unwahres (gleich dem christlichen Glauben). Auf die Dauer: das heisst hier auf hunderttausend Jahre hin.
134.
Die Pessimisten als Opfer. – Wo eine tiefe Unlust am Dasein überhand nimmt, kommen die Nachwirkungen eines grossen Diätfehlers, dessen sich ein Volk lange schuldig gemacht hat, an's Licht. So ist die Verbreitung des Buddhismus (nicht seine Entstehung) zu einem guten Theile abhängig von der übermässigen und fast ausschliesslichen Reiskost der Inder und der dadurch bedingten allgemeinen Erschlaffung. Vielleicht ist die europäische Unzufriedenheit der neuen Zeit daraufhin anzusehen, dass unsere Vorwelt, das ganze Mittelalter, Dank den Einwirkungen der germanischen Neigungen auf Europa, dem Trunk ergeben war: Mittelalter, das heisst die Alkoholvergiftung Europa's. – Die deutsche Unlust am Leben ist wesentlich Wintersiechthum, eingerechnet die Wirkungen der Kellerluft und des Ofengiftes in deutschen Wohnräumen.
135.
Herkunft der Sünde. – Sünde, so wie sie jetzt überall empfunden wird, wo das Christenthum herrscht oder einmal geherrscht hat: Sünde ist ein jüdisches Gefühl und eine jüdische Erfindung, und in Hinsicht auf diesen Hintergrund aller christlichen Moralität war in der That das Christenthum darauf aus, die ganze Welt zu "verjüdeln". Bis zu welchem Grade ihm diess in Europa gelungen ist, das spürt man am feinsten an dem Grade von Fremdheit, den das griechische Alterthum – eine Welt ohne Sündengefühle – immer noch für unsere Empfindung hat, trotz allem guten Willen zur Annäherung und Einverleibung, an dem es ganze Geschlechter und viele ausgezeichnete Einzelne nicht haben fehlen lassen. "Nur wenn du bereuest, ist Gott dir gnädig" – das ist einem Griechen ein Gelächter und ein Aergerniss: er würde sagen "so mögen Sclaven empfinden". Hier ist ein Mächtiger, Uebermächtiger und doch Rachelustiger vorausgesetzt: seine Macht ist so gross, dass ihm ein Schaden überhaupt nicht zugefügt werden kann, ausser in dem Puncte der Ehre. Jede Sünde ist eine Respects-Verletzung, ein crimen laesae majestatis divinae – und Nichts weiter! Zerknirschung, Entwürdigung, Sich-im-Staube-wälzen – das ist die erste und letzte Bedingung, an die seine Gnade sich knüpft: Wiederherstellung also seiner göttlichen Ehre! Ob mit der Sünde sonst Schaden gestiftet wird, ob ein tiefes wachsendes Unheil mit ihr gepflanzt ist, das einen Menschen nach dem andern wie eine Krankheit fasst und würgt – das lässt diesen ehrsüchtigen Orientalen im Himmel unbekümmert: Sünde ist ein Vergehen an ihm, nicht an der Menschheit! – wem er seine Gnade geschenkt hat, dem schenkt er auch diese Unbekümmertheit um die natürlichen Folgen der Sünde. Gott und Menschheit sind hier so getrennt, so entgegengesetzt gedacht, dass im Grunde an letzterer überhaupt nicht gesündigt werden kann, – jede That soll nur auf ihre übernatürlichen Folgen hin angesehen werden: nicht auf ihre natürlichen: so will es das jüdische Gefühl, dem alles Natürliche das Unwürdige an sich ist. Den Griechen dage
gen lag der Gedanke näher, dass auch der Frevel Würde haben könne – selbst der Diebstahl, wie bei Prometheus, selbst die Abschlachtung von Vieh als Aeusserung eines wahnsinnigen Neides, wie bei Ajax: sie haben in ihrem Bedürfniss, dem Frevel Würde anzudichten und einzuverleiben, die Tragödie erfunden, – eine Kunst und eine Lust, die dem Juden, trotz aller seiner dichterischen Begabung und Neigung zum Erhabenen, im tiefsten Wesen fremd geblieben ist.
Die fröhliche Wissenschaft (German Edition) Page 13