Die fröhliche Wissenschaft (German Edition)

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Die fröhliche Wissenschaft (German Edition) Page 26

by Friedrich Wilhelm Nietzsche


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  Was ist Romantik? – Man erinnert sich vielleicht, zum Mindesten unter meinen Freunden, dass ich Anfangs mit einigen dicken Irrthümern und Ueberschätzungen und jedenfalls als Hoffender auf diese moderne Weit losgegangen bin. Ich verstand – wer weiss, auf welche persönlichen Erfahrungen hin? – den philosophischen Pessimismus des neunzehnten Jahrhunderts, wie als ob er das Symptom von höherer Kraft des Gedankens, von verwegenerer Tapferkeit, von siegreicherer Fülle des Lebens sei, als diese dem achtzehnten Jahrhundert, dem Zeitalter Hume's, Kant's, Condillac's und der Sensualisten, zu eigen gewesen sind: so dass mir die tragische Erkenntniss wie der eigentliche Luxus unsrer Cultur erschien, als deren kostbarste, vornehmste, gefährlichste Art Verschwendung, aber immerhin, auf Grund ihres Ueberreichthums, als ihr erlaubter Luxus. Insgleichen deutete ich mir die deutsche Musik zurecht zum Ausdruck einer dionysischen Mächtigkeit der deutschen Seele: in ihr glaubte ich das Erdbeben zu hören, mit dem eine von Alters her aufgestaute Urkraft sich endlich Luft macht – gleichgültig dagegen, ob Alles, was sonst Cultur heisst, dabei in's Zittern geräth. Man sieht, ich verkannte damals, sowohl am philosophischen Pessimismus, wie an der deutschen Musik, das was ihren eigentlichen Charakter ausmacht – ihre Romantik. Was ist Romantik? Jede Kunst, jede Philosophie darf als Heil- und Hülfsmittel im Dienste des wachsenden, kämpfenden Lebens angesehn werden: sie setzen immer Leiden und Leidende voraus. – Aber es giebt zweierlei Leidende, einmal die an der Ueberfülle des Lebens Leidenden, welche eine dionysische Kunst wollen und ebenso eine tragische Ansicht und Einsicht in das Leben, – und sodann die an der Verarmung des Lebens Leidenden, die Ruhe, Stille, glattes Meer, Erlösung von sich durch die Kunst und Erkenntniss suchen, oder aber den Rausch, den Krampf, die Betäubung, den Wahnsinn. Dem Doppel-Bedürfnisse der Letzteren entspricht alle Romantik in Künsten und Erkenntnissen, ihnen entsprach (und entspricht) ebenso Schopenhauer als Richard Wagner, um jene berühmtesten und ausdrücklichsten Romantiker zu nennen, welche damals von mir missverstanden wurden – übrigens nicht zu ihrem Nachtheile, wie man mir in aller Billigkeit zugestehn darf. Der Reichste an Lebensfülle, der dionysische Gott und Mensch, kann sich nicht nur den Anblick des Fürchterlichen und Fragwürdigen gönnen, sondern selbst die fürchterliche That und jeden Luxus von Zerstörung, Zersetzung, Verneinung; bei ihm erscheint das Böse, Unsinnige und Hässliche gleichsam erlaubt, in Folge eines Ueberschusses von zeugenden, befruchtenden Kräften, welcher aus jeder Wüste noch ein üppiges Fruchtland zu schaffen im Stande ist. Umgekehrt würde der Leidendste, Lebensärmste am meisten die Milde, Friedlichkeit, Güte nöthig haben, im Denken und im Handeln, womöglich einen Gott, der ganz eigentlich ein Gott für Kranke, ein "Heiland" wäre; ebenso auch die Logik, die begriffliche Verständlichkeit des Daseins – denn die Logik beruhigt, giebt Vertrauen –, kurz eine gewisse warme furchtabwehrende Enge und Einschliessung in optimistische Horizonte. Dergestalt lernte ich allmählich Epikur begreifen, den Gegensatz eines dionysischen Pessimisten, ebenfalls den "Christen", der in der That nur eine Art Epikureer und, gleich jenem, wesentlich Romantiker ist, – und mein Blick schärfte sich immer mehr für jene schwierigste und verfänglichste Form des Rückschlusses, in der die meisten Fehler gemacht werden – des Rückschlusses vom Werk auf den Urheber, von der That auf den Thäter, vom Ideal auf Den, der es nöthig hat, von jeder Denk- und Werthungsweise auf das dahinter kommandirende Bedürfniss. – In Hinsicht auf alle ästhetischen Werthe bediene ich mich jetzt dieser Hauptunterscheidung: ich frage, in jedem einzelnen Falle, "ist hier der Hunger oder der Ueberfluss schöpferisch geworden?" Von vornherein möchte sich eine andre Unterscheidung mehr zu empfehlen scheinen – sie ist bei weitem augenscheinlicher – nämlich das Augenmerk darauf, ob das Verlangen nach Starrmachen, Verewigen, nach Sein die Ursache des Schaffens ist, oder aber das Verlangen nach Zerstörung, nach Wechsel, nach Neuem, nach Zukunft, nach Werden. Aber beide Arten des Verlangens erweisen sich, tiefer angesehn, noch als zweideutig, und zwar deutbar eben nach jenem vorangestellten und mit Recht, wie mich dünkt, vorgezogenen Schema. Das Verlangen nach Zerstörung, Wechsel, Werden kann der Ausdruck der übervollen, zukunftsschwangeren Kraft sein (mein terminus ist dafür, wie man weiss, das Wort "dionysisch"), aber es kann auch der Hass des Missrathenen, Entbehrenden, Schlechtweggekommenen sein, der zerstört, zerstören muss, weil ihn das Bestehende, ja alles Bestehn, alles Sein selbst empört und aufreizt – man sehe sich, um diesen Affekt zu verstehn, unsre Anarchisten aus der Nähe an. Der Wille zum Verewigen bedarf gleichfalls einer zwiefachen Interpretation. Er kann einmal aus Dankbarkeit und Liebe kommen: – eine Kunst dieses Ursprungs wird immer eine Apotheosenkunst sein, dithyrambisch vielleicht mit Rubens, selig-spöttisch mit Hafis, hell und gütig mit Goethe, und einen homerischen Licht- und Glorienschein über alle Dinge breitend. Er kann aber auch jener tyrannische Wille eines Schwerleidenden, Kämpfenden, Torturirten sein, welcher das Persönlichste, Einzelnste, Engste, die eigentliche Idiosynkrasie seines Leidens noch zum verbindlichen Gesetz und Zwang stempeln möchte und der an allen Dingen gleichsam Rache nimmt, dadurch, dass er ihnen sein Bild, das Bild seiner Tortur, aufdrückt, einzwängt, einbrennt. Letzteres ist der romantische Pessimismus in seiner ausdrucksvollsten Form, sei es als Schopenhauer'sche Willens-Philosophie, sei es als Wagner'sche Musik: – der romantische Pessimismus, das letzte grosse Ereigniss im Schicksal unsrer Cultur. (Dass es noch einen ganz anderen Pessimismus geben könne, einen klassischen – diese Ahnung und Vision gehört zu mir, als unablöslich von mir, als mein proprium und ipsissimum: nur dass meinen Ohren das Wort "klassisch" widersteht, es ist bei weitem zu abgebraucht, zu rund und unkenntlich geworden. Ich nenne jenen Pessimismus der Zukunft denn er kommt! ich sehe ihn kommen! – den dionysschen Pessimismus.)

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  Wir Unverständlichen. – Haben wir uns je darüber beklagt, missverstanden, verkannt, verwechselt, verleumdet, verhört und überhört zu werden? Eben das ist unser Loos – oh für lange noch! sagen wir, um bescheiden zu sein, bis 1901 –, es ist auch unsre Auszeichnung; wir würden uns selbst nicht genug in Ehren halten, wenn wir's anders wünschten. Man verwechselt uns – das macht, wir selbst wachsen, wir wechseln fortwährend, wir stossen alte Rinden ab, wir häuten uns mit jedem Frühjahre noch, wir werden immer Jünger, zukünftiger, höher, stärker, wir treiben unsre Wurzeln immer mächtiger in die Tiefe – in's Böse –, während wir zugleich den Himmel immer liebevoller, immer breiter umarmen und sein Licht immer durstiger mit allen unsren Zweigen und Blättern in uns hineinsaugen. Wir wachsen wie Bäume – das ist schwer zu verstehn, wie alles Leben! – nicht an Einer Stelle, sondern überall, nicht in Einer Richtung, sondern ebenso hinauf, hinaus wie hinein und hinunter, – unsre Kraft treibt zugleich in Stamm, Aesten und Wurzeln, es steht uns gar nicht mehr frei, irgend Etwas einzeln zu thun, irgend etwas Einzelnes noch zu sein... So ist es unser Loos, wie gesagt: wir wachsen in die Höhe; und gesetzt, es wäre selbst unser Verhängniss – denn wir wohnen den Blitzen immer näher! – wohlan, wir halten es darum nicht weniger in Ehren, es bleibt Das, was wir nicht theilen, nicht mittheilen wollen, das Verhängniss der Höhe, unser Verhängniss...

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  Warum wir keine Idealisten sind. – Ehemals hatten die Philosophen Furcht vor den Sinnen – haben wir – diese Furcht vielleicht allzusehr verlernt? Wir sind heute allesammt Sensualisten, wir Gegenwärtigen und Zukünftigen in der Philosophie, nicht der Theorie nach, aber der Praxis, der Praktik... Jene hingegen meinten, durch die Sinne aus ihrer Welt, dem kalten Reiche der "Ideen", auf ein gefährliches südlicheres Eiland weggelockt zu werden: woselbst, wie sie fürchteten, ihre Philosophen-Tugenden wie Schnee in der Sonne wegschmelzen würden. "Wachs in den Ohren" war damals beinahe Bedingung des Philosophirens; ein ächter Philosoph hörte das Leben nicht mehr, insofern Leben Musik ist, er leugnete die Musik des Lebens, – es ist ein alter Philosophen-Aberglaube, dass alle Musik Sirenen-Musik ist. – Nun möchten wir heute geneigt sein, gerade umgekehrt zu urtheilen (was an sich noch eben so falsch sein könnte): nämlich dass die Ideen schlimmere Verführerinnen seien als die Sinne, mit allem ihrem kalten a
nämischen Anscheine und nicht einmal trotz diesem Anscheine, – sie lebten immer vom "Blute" des Philosophen, sie zehrten immer seine Sinne aus, ja, wenn man uns glauben will, auch sein "Herz". Diese alten Philosophen waren herzlos: Philosophiren war immer eine Art Vampyrismus. Fühlt ihr nicht an solchen Gestalten, wie noch der Spinoza's, etwas tief Änigmatisches und Unheimliches? Seht ihr das Schauspiel nicht, das sich hier abspielt, das beständige Blässer-werden –, die immer idealischer ausgelegte Entsinnlichung? Ahnt ihr nicht im Hintergrunde irgend eine lange verborgene Blutaussaugerin, welche mit den Sinnen ihren Anfang macht und zuletzt Knochen und Geklapper übrig behält, übrig lässt? – ich meine Kategorien, Formeln, Worte (denn, man vergebe mir, das was von Spinoza übrigblieb, amor intellectualis dei, ist ein Geklapper, nichts mehr! was ist amor, was deus, wenn ihnen jeder Tropfen Blut fehlt?...) In summa: aller philosophische Idealismus war bisher Etwas wie Krankheit, wo er nicht, wie im Falle Plato's, die Vorsicht einer überreichen und gefährlichen Gesundheit, die Furcht vor übermächtigen Sinnen, die Klugheit eines klugen Sokratikers war. – Vielleicht sind wir Modernen nur nicht gesund genug, um Plato's Idealismus nöthig zu haben? Und wir fürchten die Sinne nicht, weil – –

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  "Wissenschaft" als Vorurtheil. – Es folgt aus den Gesetzen der Rangordnung, dass Gelehrte, insofern sie dem geistigen Mittelstande zugehören, die eigentlichen grossen Probleme und Fragezeichen gar nicht in Sicht bekommen dürfen: zudem reicht ihr Muth und ebenso ihr Blick nicht bis dahin, – vor Allem, ihr Bedürfniss, das sie zu Forschern macht, ihr inneres Vorausnehmen und Wünschen, es möchte so und so beschaffen sein, ihr Fürchten und Hoffen kommt zu bald schon zur Ruhe, zur Befriedigung. Was zum Beispiel den pedantischen Engländer Herbert Spencer auf seine Weise schwärmen macht und einen Hoffnungs-Strich, eine Horizont-Linie der Wünschbarkeit ziehen heisst, jene endliche Versöhnung von, "Egoismus und Altruismus", von der er fabelt, das macht Unsereinem beinahe Ekel: – eine Menschheit mit solchen Spencer'schen Perspektiven als letzten Perspektiven schiene uns der Verachtung, der Vernichtung werth! Aber schon dass Etwas als höchste Hoffnung von ihm empfunden werden muss, was Anderen bloss als widerliche Möglichkeit gilt und gelten darf, ist ein Fragezeichen, welches Spencer nicht vorauszusehn vermocht hätte... Ebenso steht es mit jenem Glauben, mit dem sich jetzt so viele materialistische Naturforscher zufrieden geben, dem Glauben an eine Welt, welche im menschlichen Denken, in menschlichen Werthbegriffen ihr Aquivalent und Maass haben soll, an eine "Welt der Wahrheit", der man mit Hülfe unsrer viereckigen kleinen Menschenvernunft letztgültig beizukommen vermöchte – wie? wollen wir uns wirklich dergestalt das Dasein zu einer Rechenknechts-Uebung und Stubenhockerei für Mathematiker herabwürdigen lassen? Man soll es vor Allem nicht seines vieldeutigen Charakters entkleiden wollen: das fordert der gute Geschmack, meine Herren, der Geschmack der Ehrfurcht vor Allem, was über euren Horizont geht! Dass allein eine Welt-Interpretation im Rechte sei, bei der ihr zu Rechte besteht, bei der wissenschaftlich in eurem Sinne (- ihr meint eigentlich mechanistisch?) geforscht und fortgearbeitet werden kann, eine solche, die Zählen, Rechnen, Wägen, Sehn und Greifen und nichts weiter zulässt, das ist eine Plumpheit und Naivetät, gesetzt, dass es keine Geisteskrankheit, kein Idiotismus ist. Wäre es umgekehrt nicht recht wahrscheinlich, dass sich gerade das Oberflächlichste und Aeusserlichste vom Dasein – sein Scheinbarstes, seine Haut und Versinnlichung – am Ersten fassen liesse? vielleicht sogar allein fassen liesse? Eine "wissenschaftliche" Welt-Interpretation, wie ihr sie versteht, könnte folglich immer noch eine der dümmsten, das heisst sinnärmsten aller möglichen Welt-Interpretationen sein: dies den Herrn Mechanikern in's Ohr und Gewissen gesagt, die heute gern unter die Philosophen laufen und durchaus vermeinen, Mechanik sei die Lehre von den ersten und letzten Gesetzen, auf denen wie auf einem Grundstocke alles Dasein aufgebaut sein müsse. Aber eine essentiell mechanische Welt wäre eine essentiell sinnlose Welt! Gesetzt, man schätzte den Werth einer Musik darnach ab, wie viel von ihr gezählt, berechnet, in Formeln gebracht werden könne – wie absurd wäre eine solche "wissenschaftliche" Abschätzung der Musik! Was hätte man von ihr begriffen, verstanden, erkannt! Nichts, geradezu Nichts von dem, was eigentlich an ihr "Musik" ist!...

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  Unser neues "Unendliches". – Wie weit der perspektivische Charakter des Daseins reicht oder gar ob es irgend einen andren Charakter noch hat, ob nicht ein Dasein ohne Auslegung, ohne "Sinn" eben zum "Unsinn" wird, ob, andrerseits, nicht alles Dasein essentiell ein auslegendes Dasein ist – das kann, wie billig, auch durch die fleissigste und peinlich-gewissenhafteste Analysis und Selbstprüfung des Intellekts nicht ausgemacht werden: da der menschliche Intellekt bei dieser Analysis nicht umhin kann, sich selbst unter seinen perspektivischen Formen zu sehn und nur in ihnen zu sehn. Wir können nicht um unsre Ecke sehn: es ist eine hoffnungslose Neugierde, wissen zu wollen, was es noch für andre Arten Intellekt und Perspektive geben könnte: zum Beispiel, ob irgend welche Wesen die Zeit zurück oder abwechselnd vorwärts und rückwärts empfinden können (womit eine andre Richtung des Lebens und ein andrer Begriff von Ursache und Wirkung gegeben wäre). Aber ich denke, wir sind heute zum Mindesten ferne von der lächerlichen Unbescheidenheit, von unsrer Ecke aus zu dekretiren, dass man nur von dieser Ecke aus Perspektiven haben dürfe. Die Welt ist uns vielmehr noch einmal "unendlich" geworden: insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, dass sie unendliche Interpretationen in sich schliesst. Noch einmal fasst uns der grosse Schauder – aber wer hätte wohl Lust, dieses Ungeheure von unbekannter Welt nach alter Weise sofort wieder zu vergöttlichen? Und etwa das Unbekannte fürderhin als, den "Unbekannten" anzubeten? Ach, es sind zu viele ungöttliche Möglichkeiten der Interpretation mit in dieses Unbekannte eingerechnet, zu viel Teufelei, Dummheit, Narrheit der Interpretation, – unsre eigne menschliche, allzumenschliche selbst, die wir kennen...

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  Warum wir Epikureer scheinen. – Wir sind vorsichtig, wir modernen Menschen, gegen letzte Ueberzeugungen; unser Misstrauen liegt auf der Lauer gegen die Bezauberungen und Gewissens-Ueberlistungen, welche in jedem starken Glauben, jedem unbedingten Ja und Nein liegen: wie erklärt sich das? Vielleicht, dass man darin zu einem guten Theil die Behutsamkeit des "gebrannten Kindes", des enttäuschten Idealisten sehn darf, zu einem andern und bessern Theile aber auch die frohlockende Neugierde eines ehemaligen Eckenstehers, der durch seine Ecke in Verzweiflung gebracht worden ist und nunmehr im Gegensatz der Ecke schwelgt und schwärmt, im Unbegrenzten, im "Freien an sich". Damit bildet sich ein nahezu epikurischer Erkenntniss-Hang aus, welcher den Fragezeichen-Charakter der Dinge nicht leichten Kaufs fahren lassen will; insgleichen ein Widerwille gegen die grossen Moral-Worte und –Gebärden, ein Geschmack, der alle plumpen vierschrötigen Gegensätze ablehnt und sich seiner Uebung in Vorbehalten mit Stolz bewusst ist. Denn Das macht unsern Stolz aus, dieses leichte Zügel-Straffziehn bei unsrem vorwärts stürmenden Drange nach Gewissheit, diese Selbstbeherrschung des Reiters auf seinen wildesten Ritten: nach wie vor nämlich haben wir tolle feurige Tiere unter uns, und wenn wir zögern, so ist es am wenigsten wohl die Gefahr, die uns zögern macht...

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  Unsre langsamen Zeiten. – So empfinden alle Künstler und Menschen der "Werke", die mütterliche Art Mensch: immer glauben sie, bei jedem Abschnitte ihres Lebens – den ein Werk jedes Mal abschneidet –, schon am Ziele selbst zu sein, immer würden sie den Tod geduldig entgegen nehmen, mit dem Gefühl: "dazu sind wir reif". Dies ist nicht der Ausdruck der Ermüdung, – vielmehr der einer gewissen herbstlichen Sonnigkeit und Milde, welche jedes Mal das Werk selbst, das Reifgewordensein eines Werks, bei seinem Urheber hinterlässt. Da verlangsamt sich das tempo des Lebens und wird dick und honigflüssig – bis zu langen Fermaten, bis zum Glauben an die lange Fermate...

  377.

  Wir Heimatlosen. – Es fehlt unter den Europäern von Heute nicht an solchen, die ein Recht haben, sich in einem abhebenden und ehrenden Sinne Heimatlose zu nennen, ihnen gerade sei meine geheime Weisheit und gaya scienza ausdrücklich an's Herz gelegt! Denn ihr Loos ist hart,
ihre Hoffnung ungewiss, es ist ein Kunststück, ihnen einen Trost zu erfinden – aber was hilft es! Wir Kinder der Zukunft, wie vermöchten wir in diesem Heute zu Hause zu sein! Wir sind allen Idealen abgünstig, auf welche hin Einer sich sogar in dieser zerbrechlichen zerbrochnen Uebergangszeit noch heimisch fühlen könnte; was aber deren "Realitäten" betrifft, so glauben wir nicht daran, dass sie Dauer haben. Das Eis, das heute noch trägt, ist schon sehr dünn geworden: der Thauwind weht, wir selbst, wir Heimatlosen, sind Etwas, das Eis und andre allzudünne "Realitäten" aufbricht... Wir "conserviren" Nichts, wir wollen auch in keine Vergangenheit zurück, wir sind durchaus nicht "liberal", wir arbeiten nicht für den "Fortschritt", wir brauchen unser Ohr nicht erst gegen die Zukunfts-Sirenen des Marktes zu verstopfen – das, was sie singen, gleiche Rechte", "freie Gesellschaft", "keine Herrn mehr und keine Knechte", das lockt uns nicht! – wir halten es schlechterdings nicht für wünschenswerth, dass das Reich der Gerechtigkeit und Eintracht auf Erden gegründet werde (weil es unter allen Umständen das Reich der tiefsten Vermittelmässigung und Chineserei sein würde), wir freuen uns an Allen, die gleich uns die Gefahr, den Krieg, das Abenteuer lieben, die sich nicht abfinden, einfangen, versöhnen und verschneiden lassen, wir rechnen uns selbst unter die Eroberer, wir denken über die Nothwendigkeit neuer Ordnungen nach, auch einer neuen Sklaverei – denn zu jeder Verstärkung und Erhöhung des Typus "Mensch" gehört auch eine neue Art Versklavung hinzu – nicht wahr? mit Alle dem müssen wir schlecht in einem Zeitalter zu Hause sein, welches die Ehre in Anspruch zu nehmen liebt, das menschlichste, mildeste, rechtlichste Zeitalter zu heissen, das die Sonne bisher gesehen hat? Schlimm genug, dass wir gerade bei diesen schönen Worten um so hässlichere Hintergedanken haben! Dass wir darin nur den Ausdruck – auch die Maskerade – der tiefen Schwächung, der Ermüdung, des Alters, der absinkenden Kraft sehen! Was kann uns daran gelegen sein, mit was für Flittern ein Kranker seine Schwäche aufputzt! Mag er sie als seine Tugend zur Schau tragen – es unterliegt ja keinem Zweifel, dass die Schwäche mild, ach so mild, so rechtlich, so unoffensiv, so "menschlich" macht! – Die "Religion des Mitleidens", zu der man uns überreden möchte – oh wir kennen die hysterischen Männlein und Weiblein genug, welche heute gerade diese Religion zum Schleier und Aufputz nöthig haben! Wir sind keine Humanitarier; wir würden uns nie zu erlauben wagen, von unsrer, "Liebe zur Menschheit" zu reden – dazu ist Unsereins nicht Schauspieler genug! Oder nicht Saint-Simonist genug, nicht Franzose genug. Man muss schon mit einem gallischen Uebermaass erotischer Reizbarkeit und verliebter Ungeduld behaftet sein, um sich in ehrlicher Weise sogar noch der Menschheit mit seiner Brunst zu nähern... Der Menschheit! Gab es je noch ein scheusslicheres altes Weib unter allen alten Weibern? (- es müsste denn etwa die "Wahrheit" sein: eine Frage für Philosophen). Nein, wir lieben die Menschheit nicht; andererseits sind wir aber auch lange nicht "deutsch" genug, wie heute das Wort "deutsch" gang und gäbe ist, um dem Nationalismus und dem Rassenhass das Wort zu reden, um an der nationalen Herzenskrätze und Blutvergiftung Freude haben zu können, derenthalben sich jetzt in Europa Volk gegen Volk wie mit Quarantänen abgrenzt, absperrt. Dazu sind wir zu unbefangen, zu boshaft, zu verwöhnt, auch zu gut unterrichtet, zu "gereist": wir ziehen es bei Weitem vor, auf Bergen zu leben, abseits, "unzeitgemäss", in vergangnen oder kommenden Jahrhunderten, nur damit wir uns die stille Wuth ersparen, zu der wir uns verurtheilt wüssten als Augenzeugen einer Politik, die den deutschen Geist öde macht, indem sie ihn eitel Macht, und kleine Politik ausserdem ist: – hat sie nicht nöthig, damit ihre eigne Schöpfung nicht sofort wieder auseinanderfällt, sie zwischen zwei Todhasse zu pflanzen? muss sie nicht die Verewigung der Kleinstaaterei Europa's wollen?... Wir Heimatlosen, wir sind der Rasse und Abkunft nach zu vielfach und gemischt, als, "moderne Menschen", und folglich wenig versucht, an jener verlognen Rassen-Selbstbewunderung und Unzucht theilzunehmen, welche sich heute in Deutschland als Zeichen deutscher Gesinnung zur Schau trägt und die bei dem Volke des historischen "Sinns" zwiefach falsch und unanständig anmuthet. Wir sind, mit Einem Worte – und es soll unser Ehrenwort sein! – gute Europäer, die Erben Europa's, die reichen, überhäuften, aber auch überreich verpflichteten Erben von Jahrtausenden des europäischen Geistes: als solche auch dem Christenthum entwachsen und abhold, und gerade, weil wir aus ihm gewachsen sind, weil unsre Vorfahren Christen von rücksichtsloser Rechtschaffenheit des Christenthums waren, die ihrem Glauben willig Gut und Blut, Stand und Vaterland zum Opfer gebracht haben. Wir – thun desgleichen. Wofür doch? Für unsern Unglauben? Für jede Art Unglauben? Nein, das wisst ihr besser, meine Freunde! Das verborgne ja in euch ist stärker als alle Neins und Vielleichts, an denen ihr mit eurer Zeit krank seid; und wenn ihr auf's Meer müsst, ihr Auswanderer, so zwingt dazu auch euch – ein Glaube!..

 

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