Love is Wild – Uns gehört die Welt (Love-is-Reihe 3): Roman (German Edition)

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Love is Wild – Uns gehört die Welt (Love-is-Reihe 3): Roman (German Edition) Page 20

by Engel, Kathinka


  »Du hast echt viel Liebe zu geben«, sage ich.

  »Möglich.« Sie lächelt glücklich. »Was ist mit euch? Wie verbringt ihr Weihnachten?«

  »Bei uns wird es richtig voll. Meine Mom, Lula, Charlie und Con kommen alle zu Besuch. Ich bin sehr gespannt, wie das so ist, wenn man eine große Familie hat«, erzählt Bonnie.

  »Curtis und ich fahren zu meinen Eltern auf die Farm«, sage ich. »Da ist es dann wie im Bilderbuch.«

  »Curtis und du?«, fragt Bonnie.

  »Ja, wie die letzten zwei Jahre auch schon.«

  »Habt ihr nicht an Weihnachten …«

  »Ob du es glaubst oder nicht, Curtis hat genau das Gleiche gesagt.«

  »Was habt ihr an Weihnachten?«, fragt Franzi.

  »Vor zwei Jahren haben wir an Weihnachten das erste Mal miteinander geschlafen.«

  »Oooooh«, macht sie.

  »Und denkst du, es wird wieder passieren?«, fragt Bonnie.

  »Keine Ahnung«, sage ich, denn ich habe mir in den letzten Wochen keine Gedanken darüber gemacht.

  »Aber du wärst nicht abgeneigt?«

  In meinem Körper hüpft etwas. »Vermutlich nicht«, erwidere ich und versuche, unbeteiligt zu klingen. Dabei wird mir gerade klar, dass auch meine Phase – wenn man sie denn so nennen will – vorbei ist.

  30

  Curtis

  New Orleans funkelt das ganze Jahr über. Es glänzt und strahlt, wenn man über die dunklen Ecken und die Armut hinwegsieht. Doch in der Vorweihnachtszeit übertrifft sich die Stadt selbst. Im French Quarter gibt es kein Haus, das nicht mit glitzernden Engeln oder Sternen verziert ist. Die Bäume, inzwischen kahl geworden, sind mit Lichterketten umwickelt und sehen vollkommen unwirklich aus – wie magische Krakenwesen mit leuchtenden Tentakeln.

  Der Dezember ist außerdem die Zeit der Firmenweihnachtsfeiern, und ich spiele beinahe jeden zweiten Abend mit unterschiedlichen Besetzungen Jazz-Versionen von Weihnachtsliedern in überteuerten Restaurants. Es ist leicht verdientes Geld, das ich zum Teil gleich in Geschenke für Amorys Familie investiere.

  Die Wochen fliegen nur so dahin, unsere Wohnung gleicht inzwischen ebenfalls einem Winter Wonderland, und ich bin fast überrascht, als Amory mich eines Tages fragt, ob ich schon gepackt hätte.

  »Ich habe heute Abend noch einen Gig, dachte, ich würde mich morgen früh drum kümmern«, sage ich und starre auf ihren seidenen Bademantel, der mit Sicherheit einen Spalt weiter offen ist, als Amory es beabsichtigt hat.

  Ihr Handy vibriert, und sie verzieht das Gesicht. Ich kann es nicht mit hundertprozentiger Gewissheit sagen, aber ich glaube, dass Richard ihr schreibt. Und das nervt mich. Er soll sie verflucht noch mal in Ruhe lassen. Allerdings kenne ich Amory gut genug, um mich nicht einzumischen. Sie regelt ihre Angelegenheiten ohne die Hilfe anderer.

  »Was um Himmels willen schenkst du meiner Familie?«, fragt Amory am nächsten Tag, als ich die verpackten Geschenke auf die Rückbank ihres kleinen Fiat lege. »Du verwöhnst sie.«

  Sie wirft ihren Wohnungsschlüssel in den Briefkasten der Nachbarin, die sich in unserer Abwesenheit um Hilbert und Lovelace kümmert, dann sind wir abfahrbereit.

  Wir teilen uns das Fahren auf. Ich navigiere uns durch New Orleans. Durch die funkelnden Straßen des French Quarter, die Mid City und dann auf die Interstate 10 durch Metairie. Wegen der hohen Mauern links und rechts vom Highway sieht man kaum etwas von dem Viertel, in dem ich viele Jahre meines Lebens verbracht habe. Hier und da sind sie unterbrochen, und ich erhasche einen Blick auf die einfachen Häuser, die sich zwischen kahlen Bäumen verstecken, oder auf die vereinzelten Apartment-Komplexe.

  »Hier irgendwo wohnt meine Grandma«, sage ich und denke an die alte Frau aus Marigny. Ob sie ihr schon erzählt hat, dass ich wohlauf bin, wie sie es genannt hat?

  »In Metairie?«, fragt Amory.

  »Ja. Zumindest hat sie das, bis ich ausgezogen bin.«

  »Besuch sie doch mal«, schlägt sie vor.

  Ich lache. »Ich glaube nicht, dass ihr das recht wäre.«

  »Man will doch seinen Enkelsohn sehen.« Amory klingt entrüstet.

  »Nicht jeder«, sage ich. »Manche Leute wollen einfach nur ihre Ruhe.« Und damit ist die Unterhaltung beendet.

  Unsere Fahrt führt uns durch flaches, nacktes Sumpfland und am Lake Pontchartrain vorbei. Kurz darauf fahren wir auf die 55 Richtung Norden. Die Ortschaften, die wir links und rechts hinter uns lassen, heißen Tangipahoa, Chatawa oder Magnolia und sehen trotz ihrer romantischen Namen alle gleich aus.

  Amorys Handy vibriert, und aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sie leicht den Kopf schüttelt.

  »Keine guten Nachrichten?«, frage ich.

  »Nicht wirklich.«

  »Ist es … Richard?«

  Sie nickt. »Er geht mir schon seit ein paar Tagen auf die Nerven.«

  »Was will er?«

  »Reden. Sich aussprechen. Keine Ahnung. Mal ist er freundlich, mal drängt er mich.«

  »Was hast du vor?« Ich hoffe sehr, dass ihre Antwort etwas mit Ignorieren, bis er aufhört, Auf-den-Mond-Schießen oder Ähnlichem zu tun hat.

  »Ich schätze, wenn ich so weit bin, höre ich mir an, was er zu sagen hat.«

  Es ist nicht das, was ich mir erhofft hatte, aber ich beiße mir auf die Unterlippe und zwinge mich dazu, meine Klappe zu halten.

  Nach einer kurzen Pause in McComb übernimmt Amory das Steuer, und während der restlichen Fahrt ertappe ich mich immer wieder dabei, wie ich sie unauffällig mustere. Ich versuche, in ihrem Gesicht zu lesen, wenn ihr Handy vibriert, wenn ich einen blöden Witz reiße, wenn wir über Weihnachten sprechen.

  »Ich hoffe, Nicky hat die Sauerei im Badezimmer wirklich beseitigt«, sagt Amory, als wir hinter Vicksburg auf eine kleine Landstraße abbiegen.

  »Welche Sauerei?«, frage ich.

  »Er hat in der Dusche Frösche gehalten.«

  »Dein Bruder ist legendär«, sage ich, und Amory schnaubt amüsiert.

  Ein unauffälliges Schild weist den Weg nach Eagle Bend, und wir biegen nach links auf eine einspurige Straße ab. Zehn Minuten tuckern wir durchs tiefste Hinterland, dann sieht man durch die Bäume eine Ansammlung von Häusern.

  Eagle Bend ist eine andere Welt als New Orleans. Während meine Heimat vor Leben und Farben nur so strotzt, passiert hier absolut nichts, wenn man davon absieht, dass Nicky – oder Nick, wie er genannt werden will – unkonventionelle Haustiere im Badezimmer hält. Viel ländlicher als das hier wird es nicht mehr.

  Dort, wo Eagle Bend eigentlich aufhört, führt eine Einfahrt zum Bauernhof von Amorys Eltern. Ein filigran geschnitztes Schild, das in der einsetzenden Dämmerung fast nicht mehr zu sehen ist, kündigt die Ingold Farm an.

  Der Schotterweg wird gesäumt von mannshohen Büschen, und bereits von ferne sieht man die gemütlich beleuchteten Fenster des Farmhauses. Es ist ein modernisiertes weißes Holzhaus mit Säulen, die von der großzügigen Veranda in den ersten Stock reichen.

  Amory parkt ihren Wagen vor der Garage und zieht den Zündschlüssel. Die einsetzende Stille kommt mir auf einmal ohrenbetäubend vor, nachdem uns die letzten Stunden der Motorenlärm des Autos begleitet hat.

  »Wir sind da«, sagt Amory und sieht mich an. In ihrem Blick liegt vorsichtige Traurigkeit, gepaart mit etwas, das ich als Verheißung deute, aber das bilde ich mir mit Sicherheit nur ein.

  »Sie sind da!«, ertönt es nun auch von der Eingangstür. Es ist Nicky, der in diesem Moment die Veranda herunterspringt und auf uns zugerannt kommt. Beowulf, der alte Hund, trottet hinter ihm her.

  Wir steigen aus, ich hole Gepäck aus dem Kofferraum, während Amory die Arme ausbreitet und ihren Bruder fest an sich drückt. Doch der macht sich schnell los und stürmt auf mich zu.

  »Curtis!«, ruft er und umarmt auch mich. »Ich muss dir unbedingt was zeigen.«

  »So? Was denn?«, frage ich mit einem breiten Grinsen im Gesicht, das ich von mir so gar nicht kenne. Ich atme tief ein. Es riecht nach Land, nach Tieren. Nach sauberer Luft.

  Nicky nimmt mich an der Hand und will mich zum Haus ziehen.

  »Lass mich erst noch deiner Schwes
ter beim Ausladen helfen«, sage ich lachend.

  »Das kann sie allein«, erwidert Nicky.

  »Aber es wäre nicht sehr nett.«

  Jetzt taucht auch Amorys Mom in der Tür auf und winkt.

  »Schön, dass ihr da seid«, ruft sie. Das ist eins der Dinge, das ich über Amorys Familie gelernt habe: Sie rufen viel. Manchmal unterhalten sie sich schreiend durchs ganze Haus, statt einen kurzen Weg zurückzulegen.

  »Hi, Mom«, ruft Amory zurück. Sie hat sich ihre Tasche um die Schulter gehängt und balanciert einige Geschenke auf ihrem Arm. Mit der Hüfte schließt sie die Fahrertür.

  Auch ich bin vollbepackt, als ich mich hinter Amory auf den Weg zum Haus mache. Nicky springt aufgeregt neben uns her, und selbst Beowulf macht Anstalten, so etwas wie Freude Ausdruck zu verleihen, indem er immer mal wieder heiser bellt und mit dem Schwanz wedelt.

  »Hi, Mrs Ingold«, sage ich, als wir so nah sind, dass ich ihr breites Strahlen erkennen kann.

  »Agatha«, korrigiert sie mich.

  »Hi, Agatha.« Ich habe keine Ahnung, warum es für mich so schwierig ist, sie beim Vornamen zu nennen. Ich schätze, es liegt daran, dass ich so wenig Erfahrung im Umgang mit Eltern habe.

  Agatha will ihre Tochter in die Arme schließen, doch das Gepäck macht es unmöglich. »Lass mich erst mal ablegen, Mom«, sagt Amory.

  Im Wohnzimmer prasselt ein gemütliches Feuer im Kamin. Daneben ragt ein gigantischer Weihnachtsbaum bis zur Decke, der über und über mit Kugeln, Lichterketten und Zuckerstangen behängt ist. Amory lässt ihre Tasche von der Schulter rutschen und legt die Geschenke neben dem Baum ab.

  »Seth, die Kinder sind da!«, ruft Agatha die Treppe hoch und schließt erst Amory und dann mich in ihre Arme. »Herzlich willkommen, Curtis«, sagt sie. »Wir freuen uns, dass du da bist.« Ihr Überschwang versetzt mir einen leichten Stich. Über meine Anwesenheit freut sich normalerweise niemand. »Nicky fragt schon den ganzen Tag, wann ihr endlich kommt«, fährt sie fort. Nickys »Nick, Mom!« ignoriert sie. »Und eigentlich wollte Seth nur eine E-Mail schreiben«, ruft sie erneut in den ersten Stock hinauf.

  Amory grinst mich an und zuckt entschuldigend mit den Schultern. Dabei finde ich ihre Familie großartig. Vielleicht ein bisschen laut, vielleicht ein bisschen gefühlsduselig, aber es ist schön zu sehen, wie normale Familien funktionieren. Nicky lässt sich mit Beowulf auf einem ziemlich ramponierten Hundekissen neben der Tür nieder und krault den alten Hund zwischen den Ohren. Die Aufregung unserer Ankunft war offenbar schon zu viel für ihn.

  Aus der Küche duftet es nach Essen. Eine Mischung aus Eintopf und Lebkuchen, die bewirkt, dass selbst mir ganz heimelig zumute wird.

  »Nicky, du sollst dich nicht zum Hund auf das Kissen setzen. Seth? Hörst du nicht?« Nicky seufzt, und Agatha wuselt ein paar Stufen die Treppe hinauf, linst um die Ecke, kommt wieder herunter. »Habt ihr Hunger? Natürlich habt ihr Hunger, ihr wart ja ewig unterwegs.«

  »So lang ist das gar nicht, Mom«, sagt Amory, doch für ihre Eltern ist New Orleans eine so andere Welt, dass es vermutlich nichts bringt, darauf zu beharren.

  »Seth?«, ruft Agatha noch mal, und endlich erhält sie eine Antwort. Es ist ein ersticktes Fluchen oder so etwas in der Art, und kurz darauf hört man im ersten Stock eine Tür und Schritte.

  »Entschuldigt, dass ich nicht Teil eures Empfangskomitees sein konnte«, sagt er, »aber ich kämpfe gegen das Internet.«

  »Solltest du nicht mit dem Internet kämpfen?«, fragt Agatha. »Es geht nicht darum, dass du es besiegen sollst, es geht nur um eine einzige E-Mail.«

  »Die schreibt sich nun mal nicht von allein.«

  »Nein, die schreibst du zusammen mit deinen beiden Zeigefingern, während du lautstark schimpfst«, sagt Agatha, und Nicky kichert. »Runter von dem Kissen jetzt«, scheucht sie ihn. »Deck lieber mal den Tisch.«

  »Ich will Curtis noch was zeigen.«

  »Das hat Zeit bis nach dem Essen.«

  »Hat es nicht!«

  »Hat es doch.«

  Ich zucke entschuldigend mit den Schultern. »Nach dem Essen, versprochen.«

  Wie auch in den letzten Jahren gibt es am Weihnachtsabend Eintopf mit Würsten. Doch das große Festmahl für morgen steht schon in den Startlöchern. Die ganze Küche ist voller Gemüse.

  »Wie viele Leute erwartest du, Mom?«, fragt Amory.

  »Curtis hat Hunger. Oder, Schatz?«

  »Äh, ja«, sage ich und setze mich auf den Stuhl neben Nicky, auf den er hektisch klopft.

  »Die Gans hat dieses Jahr über fünf Kilo«, sagt Seth. »Keine Ahnung, wer die gefüttert hat.«

  »Das war der Mann, der einen Kampf gegen das Internet führt«, sagt Agatha.

  »Kann Nicky euch nicht helfen?«, fragt Amory, während sie einen Teller nach dem anderen mit großen Mengen Eintopf befüllt.

  »Das hab ich!«, sagt Nicky vorwurfsvoll. »Ich habe alles eingestellt, den Computer mit dem WLAN verbunden. Dad weiß genau, was er machen muss.«

  »Und trotzdem funktioniert es nicht. Ich habe sogar einen Neustart versucht.« Seth seufzt theatralisch. »Das Internet hasst mich.«

  »Hast du den Router eingeschaltet?«, fragt Nicky.

  »Hast du den Router ausgeschaltet?«, fragt Amory.

  »Ich mag keine Strahlen im Haus«, erklärt Seth.

  »Na, dann wird es daran liegen«, sagt Nicky.

  »Aber eure Telefone haben doch auch Internet, wenn der Router nicht eingeschaltet ist …«

  »Was bedeutet, dass du ohnehin von Strahlen umgeben bist«, sagt Agatha. »Ob du willst oder nicht, Seth, ohne Internet geht’s eben nicht mehr.«

  Ich lehne mich zurück, genieße die Szene. Merke, wie mein Geist ganz müde wird, irgendwie benebelt. Von der Gemütlichkeit, der Wärme. Dem Duft des himmlischen Eintopfs. Ich nehme einen Schluck von dem selbst gemachten Apfelsaft. Es ist tatsächlich eine andere Welt hier. Eine heile Welt. Eine Welt ohne Internet. Und in diesem Moment, in dem die Menschen um mich herum als Familie zusammen sind und sich auf Weihnachten freuen, wird mir schmerzlich bewusst, dass es nicht meine Familie ist. Ich bin nur für einen Augenblick Teil davon. Für einen schönen, unwirklichen Augenblick, in dem meine Kehle auf einmal wieder enger wird.

  31

  Amory

  »Ich hab dir dein Zimmer hergerichtet. Curtis, du schläfst im Gästezimmer.« Meine Mom zeigt auf die Tür neben der Treppe.

  Nach einem ausgiebigen Abendessen, das vor allem die Verweigerung alles Digitalen meines Dads, die Essensmassen, die weiß Gott wer während der nächsten Tage verschlingen soll, und die Geschichte jedes einzelnen Tiers, das zurzeit auf dem Hof wohnt, zum Gegenstand hatte – Nicky ließ sich nicht bremsen, nachdem er einmal angefangen hatte –, stehen wir nun im ersten Stockwerk meines Elternhauses. Die alten Dielen knarzen leise. An den Wänden hängen Bilder von Nicky und mir. Von ein paar Hunden, die inzwischen das Zeitliche gesegnet haben, von meinen Großeltern.

  »Vielen Dank, Mrs … Agatha«, sagt Curtis.

  »Sehr gern, Mr Curtis«, erwidert meine Mom, und Nicky, dessen Augen schon fast zufallen, kichert.

  Curtis fährt sich etwas verlegen über den Nacken. »Was wolltest du mir eigentlich zeigen?«, fragt er an Nicky gewandt.

  »Was ich gebaut habe«, sagt Nicky und gähnt. »Ein Froschhaus.«

  »Ein Froschhaus?«

  »Ja, wie ein Vogelhaus, nur für Frösche. Aber das machen wir morgen.« Er reibt sich die Augen, und mir geht das Herz auf. Nicky sieht so niedlich aus mit seinem runden Gesicht und den dunklen Locken. Sein Sweatshirt ist ihm etwas zu klein und spannt über seinem Bauch.

  Nachdem wir Gute Nacht gesagt haben, bringe ich das Gepäck in mein altes Zimmer. Ich lasse mich aufs Bett fallen, höre Nicky im Badezimmer nebenan Zähne putzen. Es sind diese vertrauten Geräusche, die bekannten Gerüche, die machen, dass mein Kopf ganz leicht wird. Man hat das Gefühl, hier draußen gibt es nichts als Harmonie, nichts als Idylle.

  Ich frage mich, ob Curtis alles hat, was er braucht, und beschließe, noch einmal nach ihm zu sehen. Vorsichtig klopfe ich an seine Zimmertür.

  »Ja?«

  Ich öf
fne sie einen Spalt. »Ich bin’s.«

  »Komm rein«, sagt er.

  »Ich wollte nur wissen, ob du noch was brauchst.«

  »Alles gut.«

  Ich stehe etwas unschlüssig in der Tür. Es ist gleich Mitternacht, und er ist von der Fahrt und dem Familientrubel mit Sicherheit ebenso erschlagen wie ich.

  »Danke, dass ich wieder mit euch feiern kann«, sagt er und blickt mich ernst aus seinen blauen Augen an. Sein Gesicht sieht entspannt aus. Wehmütig, aber doch entspannt. Wenn es nicht lädiert ist, gehört es zu den besten Gesichtern, die ich kenne. »Ich weiß, du hattest es dir ein bisschen anders vorgestellt.«

  »Danke, dass du dir den Irrsinn meiner Familie wieder antust«, gebe ich zurück. »Und ich wäre, ehrlich gesagt, mit niemandem lieber hier.«

  Er sieht mich an. Schluckt. Sein Adamsapfel hüpft wie in Zeitlupe auf und ab. Ich höre ihn ausatmen. »Wenn du solche Dinge sagst …«, er verzieht den Mund zu einem schiefen Grinsen, will gerade weitersprechen, doch da besinnt er sich offenbar eines Besseren und lacht leise.

  Mein Mund ist auf einmal ganz trocken. Ich erinnere mich an Weihnachten vor zwei Jahren. Wie wir alles um uns herum vergaßen. Wie auf einmal Curtis’ Lippen auf meinen lagen. Wie der Hunger aufeinander größer war als alles um uns herum. Wie unser erster Kuss zu meiner erotischen Fantasie wurde, zu der ich zurückkehre, wenn ich mit mir allein bin.

  »Was passiert, wenn ich solche Sachen sage?«, frage ich frech, um meine Gedanken zu überspielen.

  »Gute Nacht, Amory«, sagt er grinsend, statt auf meine Frage zu antworten.

  Er erhebt sich vom Bett, um die Tür zu schließen. Doch ich stehe nach wie vor einfach nur da.

  »Willst du nicht ins Bett?«, fragt er. »Morgen ist Weihnachten. Da möchtest du doch sicher fit sein.«

  »Ja«, beeile ich mich zu sagen und bin mir auf einmal der Nähe zwischen uns bewusst.

  »Und ansonsten …«

  »Hm?«, mache ich.

  »… weißt du ja, wo du mich findest.« Seine Stimme klingt rau. Dann schließt er die Tür, und ich trolle mich leicht verwirrt und mit seinem Geruch in der Nase in mein altes Kinderzimmer.

 

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