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Love is Wild – Uns gehört die Welt (Love-is-Reihe 3): Roman (German Edition)

Page 32

by Engel, Kathinka


  »Du, Amory?«, fragt Esmé, deren Augen immer kleiner werden. Sie muss dringend schlafen.

  »Hm?« Ich kann den Blick nicht von dem kleinen Wesen auf meinem Arm abwenden.

  »Könntest du dir vorstellen, so was wie eine Patentante für ihn zu werden?«

  »Was?« Nun sehe ich doch auf.

  »Ich meine das ganz ernst. Er braucht jemanden wie dich. Jemanden, auf den man sich verlassen kann.«

  »Es wäre mir eine Ehre«, sage ich.

  Und kurz bevor Esmés Augen tatsächlich zufallen, sagt sie: »Ich habe übrigens einen Namen. Er soll David heißen. Davey.«

  »Davey«, flüstere ich.

  »Nach David Attenborough. Ich will, dass sein Name eine Bedeutung für unsere Freundschaft hat, weißt du?« Sie nimmt meine Hand und drückt sie einmal leicht. Erst jetzt merke ich, dass mir die Knochen ein bisschen wehtun, so sehr hat sie sie vorhin gequetscht. »Und wenn wir Glück haben, kriegt er eine ganz beruhigende Stimme und liest uns zum Einschlafen vor.«

  Ihre Augen fallen zu, doch ich bleibe mit Davey auf dem Arm einfach sitzen. An ihrer Seite. Als ihre Freundin. Denn Menschen ändern sich. Ganz so, als würden sie mehr als einmal geboren. Immer wieder. Und mit jedem Mal wird man ein bisschen mehr zu sich selbst. Ein bisschen mehr zu der Person, die man sein will. Mit jeder Herausforderung, jedem Rückschlag. Und auf einmal wird mir ganz warm. Ganz hoffnungsvoll zumute.

  Als Davey beginnt, leise Geräusche zu machen, stehe ich vorsichtig auf und nehme ihn mit nach draußen auf den Gang, um Esmé nicht zu wecken.

  Wir gehen auf und ab, ich wiege Davey hin und her. Er ist so leicht, so winzig. Seine kleinen Lippen verziehen sich zu einem Gähnen.

  »An deiner Stelle wäre ich auch müde«, sage ich, während seine Augen immer schwerer werden. »Du kannst stolz auf dich sein.«

  48

  Curtis

  Glastüren öffnen sich automatisch, ein Security-Mann beäugt mich kritisch, hält mich jedoch nicht auf. Sein Glück.

  »Amory Ingold.« Ich bin außer Atem, als ich am Empfang ankomme.

  »Sir, einen Moment bitte.« Eine Schwester in einem weiten, blumengemusterten Hemdchen zeigt auf die junge Frau neben mir, die gerade ein Formular ausfüllt.

  »Ich muss nur wissen, wo sie ist.«

  »Nehmen Sie einfach kurz Platz.« Sie deutet auf den Wartebereich. Müde aussehende Männer und Frauen, ein weinendes kleines Mädchen. Ein Mann in Trainingshose hat den Verband um seine Hand durchgeblutet. Er ist beinahe grün im Gesicht.

  Ich stoße mich vom Tresen ab und gehe einfach in irgendeine Richtung. Laufe durch einen hell beleuchteten Gang. Die Lichter spiegeln sich im grauen Plastikfußboden. Aufgeklebte farbige Pfeile weisen Wege in verschiedene Richtungen. Ich weiß nicht, wo ich hinsoll. Die grünen Pfeile führen nach links, die gelben nach rechts. Dazwischen gehen Türen ab, hinter denen Krankheit lauert. Wofür stehen noch mal die Pfeile? Mein Kopf hat es sich nicht gemerkt. Also gehe ich einfach weiter. Blicke hektisch hin und her auf der Suche nach irgendwas. Atme. Weitere Glastüren, Menschen in Rollstühlen. Ein alter Mann mit Tropf am Arm. Sein Krankenhaushemd bedeckt nicht einmal seinen Hintern. Ich schlage eine andere Richtung ein, rote Pfeile nun.

  »Suchen Sie etwas, Sir?«, fragt eine junge Frau in Hellblau.

  »Amory Ingold«, sage ich.

  »Haben Sie schon am Empfang gefragt?«

  Natürlich habe ich das. Hände locker lassen. Alles dreht sich. Ich ändere erneut meine Richtung, einfach nur, um von hier wegzukommen. Biege um eine Ecke. Langsam dämmert es mir, dass ich sie so nicht werde finden können. Ich hätte warten sollen. Bei dem blutenden Mann. Dem weinenden Mädchen. Wo ist sie? Warum ist sie hier, verflucht noch mal? Warum habe ich Bonnie nicht gefragt? Warum …

  Atme.

  Atme.

  Ich schließe die Augen. Lasse meine Hände locker.

  Atme.

  Und dann öffne ich die Augen, und da steht sie. Ein paar Meter vor mir. Sie hat mich nicht gesehen. Sie blickt auf etwas in ihrem Arm. Ein Bündel. Ein … Baby. Mit dem Zeigefinger zeichnet sie sein Gesicht nach. Sie lächelt. Lächelt so schön, dass es wehtut. Und wie automatisch bringe ich die Hand auf meine Brust. Spüre meinen Herzschlag durch mein T-Shirt hindurch.

  In meinem ganzen Leben habe ich noch nie etwas so Schönes gesehen. Etwas so Friedliches. Sie bewegt die Lippen, flüstert dem Baby Dinge zu, die ich nicht verstehen kann. Ihre blonden Haare fallen ihr in Wellen über die Schultern. Sanfte Wellen, die ich berühren möchte. Meine Finger sehnen sich nach ihr. Nach Berührung. Nach Nähe. Und doch rühre ich mich nicht vom Fleck. Bin wie hypnotisiert von ihrem Anblick. Beinahe kommt es mir vor, als würde sie leuchten. Als wäre sie die Lichtquelle. Nichts spielt mehr eine Rolle. Nichts um mich herum. Sie ist im Krankenhaus. Aber ihr geht es gut.

  Ohne den Blick von ihr abzuwenden, mache ich ein paar Schritte. Langsam. Zögerlich. Ich will sie nicht erschrecken. Nicht aus ihrer glücklichen Trance reißen.

  »Hi«, flüstere ich, als ich so nah bin, dass ich sie schon beinahe berühren kann.

  Sie sieht auf, einen kurzen Moment ist sie orientierungslos, als wäre ich der letzte Mensch, den sie an einem Ort wie diesem erwartet.

  »Hi!« Ein leises erstauntes Glucksen in ihrer Stimme.

  »Warum … hast du ein Baby auf dem Arm?«, frage ich.

  »Das ist Davey. Esmés Sohn.«

  »Oh. Wow. Esmés Sohn … Wie bist du … hat sie … ich … das …« In meinem Kopf rastet etwas ein. Jetzt ergibt alles Sinn. »Hallo, Davey.« Er hat die Augen geschlossen, schläft ganz friedlich auf Amorys Arm.

  »Wie geht’s ihr?«, frage ich. Auf einmal ist es einfach nur wichtig zu sprechen.

  »Gut. Sie hat es toll gemacht. Aber gerade schläft sie. Sie sind wohl beide ziemlich erledigt.« Als sie mich erneut ansieht, lächelt sie.

  »Warst du dabei?«

  Sie nickt. »Absolut furchterregend. Aber völlig verrückt.«

  »Wow.«

  »Was machst du hier?«, fragt sie nach einem kurzen Moment, in dem Davey im Schlaf ein knarzendes Geräusch von sich gibt.

  »Ich … ich wollte zu dir.«

  »Zu mir?«

  Vielleicht bilde ich es mir nur ein, doch ich glaube, ihr Gesicht hellt sich noch mehr auf, wenn das überhaupt möglich ist.

  »Ich musste dich sehen.«

  »Mich?«

  »Wen denn sonst?« Ich muss beinahe lachen.

  »Aber …«

  »Können wir uns setzen?«, frage ich und zeige auf eine Reihe grauer Sitzschalen an der Wand.

  »Klar.«

  Wir setzen uns nebeneinander, blicken auf Davey. Unsere Oberschenkel streifen sich. Und ich weiß, wenn das alles wäre, diese Berührung. Wenn ich nichts weiter kriegen könnte – ich würde sie dennoch nicht eintauschen wollen. Gegen nichts auf der Welt.

  »Was ist los?« Ihre Stimme ist sanft und dennoch voller Sorge.

  »Ich …« Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Ich will ihr alles gleichzeitig erzählen. Eigentlich will ich nicht einmal erzählen. Ich will einfach, dass sie alles weiß. Und dann – dann sehen wir weiter. »Ich will … Ich habe … Ich will mit dir zusammen sein.« Da ist es. Alles und doch nichts.

  »Okay?« Sie grinst.

  »Aber nicht so, wie du denkst. Du sollst nicht mit dem Typen zusammen sein, der unberechenbar ist.«

  Statt etwas zu sagen, sieht sie mich nur an. Und obwohl das eigentlich unmöglich ist, glaube ich, sie hat noch nie schöner ausgesehen. Noch nie schöner als in dem viel zu hellen Krankenhauslicht.

  »Ich habe eine Therapie begonnen.«

  »Du hast was?« Ihre Augen leuchten.

  »Eine Therapie begonnen, ja. Bei Jacob.«

  »Wann?«

  »Am Tag nachdem ich ausgezogen bin.«

  »Ich … äh … ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

  Doch sie muss auch nichts sagen, denn ich sehe selbst, dass sie perplex ist.

  »Ich gehe seit drei Monaten jede Woche zu ihm. Weil ich ein Mann sein möchte, mit dem jemand wie du zusammen sein kann. Und ich weiß, das bedeutet nicht, dass du das
Gleiche willst. Aber es bedeutet, dass ich nicht mehr der Grund bin, warum du es nicht willst.«

  »Bist du deswegen zu ihm gegangen? Damit du … damit ich …?«

  Ich nicke. »Anfangs ja. Und das ist bestimmt immer noch einer der Hauptgründe. Aber inzwischen – tue ich das auch für mich. Um mich in den Griff zu kriegen. Um all den Scheiß, den ich erlebt habe, einzuordnen. Manche Dinge kann man nicht mit sich selbst ausmachen. Und meine Vergangenheit gehört wohl dazu und …«

  »Ich bin so stolz auf dich!«, sagt sie.

  Ich lache leise. »Danke. Ich bin noch lange nicht ›austherapiert‹.« Mit den Fingern male ich Gänsefüßchen in die Luft. »So nennt man das wohl. Ich scheine ein etwas aufwendiger Fall zu sein. Aber ich werde weitermachen. Und Jacob hat gesagt, dass ich bereit bin. Also genau genommen hat er es so nicht gesagt, aber ich habe ihn bei unserer ersten Sitzung gebeten, mir Bescheid zu geben, wenn ich so weit bin, zu dir zu gehen. Und nach der Sitzung heute … Ich wollte dich so gern sehen. Und er hat gesagt, es sei in Ordnung. Und dann dachte ich, dir sei was passiert, als Bonnie gesagt hat, du wärst im Krankenhaus. Deswegen bin ich hergekommen. Völlig planlos und … Ziemlich dumm wahrscheinlich. Aber ich hatte mich halbwegs im Griff. Ich habe mich jetzt im Griff.«

  »Ich … du … Ich bin sprachlos.«

  »Das ist okay«, sage ich. »Ich habe gelernt, dass solche Dinge immer okay sind.« Ich grinse.

  »Aber als du deine Sachen geholt hast … Ich dachte, du wärst drüber hinweg. Über mich. Über uns …«

  »Wie soll das denn gehen?«, frage ich und hake meinen kleinen Finger unter ihren.

  »Du warst so … distanziert …«

  »Ich war noch nicht so weit. Ich musste dich auf Abstand halten. Sonst … ich wollte erst sicher sein, dass ich in der Lage bin, ein Mann zu sein, der … der es wert ist, mit dir zusammen zu sein. Der gut für dich ist. Oder zumindest nicht schlecht für dich.«

  »Du machst mich fertig«, sagt sie. Und dann lehnt sie ihren Kopf an meine Schulter.

  »Aber gut fertig? Oder schlecht fertig?«

  »Fertig auf die beste Weise«, sagt sie.

  Fertig auf die beste Weise. Genau so fühle ich mich auch. Das Gespräch mit meiner Großmutter, Jacobs Worte, die Sorge um Amory, sie jetzt hier neben mir zu haben, die flüchtige Berührung unserer kleinen Finger, die immer noch ineinander verhakt sind.

  »Was hältst du davon, wenn ich Davey zurück zu Esmé bringe und wir dann noch …«

  »… reden würden?«, frage ich. »Das wäre schön.«

  Amory nickt, steht auf. »Willst du kurz Hallo sagen?«

  »Ich weiß nicht. Denkst du, es wäre ihr recht?«

  »Komm!«

  Ich folge ihr zu einer der Türen. Nach einem leisen Klopfen tritt sie ein. Esmé liegt im Bett. Ihre Augenlider öffnen sich flatternd.

  »Schau mal, wer vorbeigekommen ist«, sagt Amory leise.

  Ich fühle mich ein bisschen fehl am Platz. Habe keine Ahnung, wie man sich in einer solchen Situation verhält. »Hi.« Ich winke unbeholfen.

  »Hi!« Sie setzt sich auf.

  »Einen coolen Sohn hast du da.«

  »Den coolsten«, bestätigt Amory und legt Davey in Esmés Arme. »Brauchst du noch was?«

  Esmé schüttelt den Kopf.

  »Denkst du, du kommst einen Moment alleine klar? Curtis und ich …«

  »Haut schon ab«, sagt Esmé grinsend.

  »Ich bin bald wieder da.« Sie drückt Esmé einen Kuss auf den Scheitel, und ich muss die Augen schließen, weil mein Herz so sticht, dass ich es kaum aushalte.

  In der Cafeteria setzen wir uns an einen Tisch am Fenster. Vor uns dampfende Pappbecher mit etwas, das aussieht wie Kaffee. Mehr Ähnlichkeit ist allerdings nicht festzustellen. Amory rührt in ihrer dunkelbraunen Brühe. Sie lächelt immer noch. Oder schon wieder. Schließlich bin ich derjenige, der das Schweigen bricht. Inzwischen bin ich richtig gut darin.

  »Also … ich habe es ernst gemeint, als ich gesagt habe, dass ich mit dir zusammen sein will. Das soll dir keinen Druck machen. Aber du sollst wissen, dass ich bereit bin. So was von bereit.« Sie sieht mich einfach nur an, dieses Lächeln auf den Lippen. Und weil sie nichts sagt, spreche ich weiter wie ein verdammter Profi. »Du musst keine Angst mehr haben. Ich kann dir zwar nicht versprechen, dass ich nie wieder ausrasten werde. Aber ich arbeite dran. Ich arbeite so hart, dass es seit drei Monaten nicht mehr passiert ist. Und ich werde nicht aufhören, bis ich nicht … ich weiß nicht … normal bin?«

  »Du musst gar nicht normal werden«, sagt sie. »Du sollst du selbst bleiben.«

  »Aber eine bessere Version von mir.«

  »Eine heilere Version«, schlägt sie vor, und ich glaube, das trifft es.

  »Ich habe meine Großmutter getroffen.«

  »Was? Wann?«

  »Heute. Bei Jacob. Er dachte, es wäre eine gute Idee, sie dazuzuholen. Und was soll ich sagen …« Mein Inneres zieht sich zusammen, als ich an alles denke, was hinter mir liegt. Ich schlucke, und dann erzähle ich. Von allem. Wie ich mit meinem Verhalten Leute von mir stieß, um mir selbst zu beweisen, dass ich es nicht wert war, geliebt zu werden. Von meiner Wut, die Ausdruck von Angst war, Angst davor, verlassen zu werden. Angst davor, nicht genug zu sein.

  »Und dann kamst du, und ich wollte so dringend gut genug sein, um dich in meinem Leben zu haben.«

  »Oh, Curtis«, sagt sie und schluckt.

  »Weißt du«, fahre ich fort, »dass meine Eltern damals gegangen sind, statt bei mir zu bleiben, das hat mich angeknackst. So richtig. Und alles, was ich danach gemacht habe, war ein Resultat daraus. Aber ich habe den Teufelskreis durchbrochen. Durchbreche ihn. Und wenn du willst, tu ich es weiterhin für dich.«

  »Auch für mich«, korrigiert sie.

  »Auch für dich.« Kurz wird meine Kehle eng, aber ich weiß jetzt, dass es ein Zeichen von Angst ist. Und dass man Angst überwinden muss. Deswegen atme ich einmal tief ein, presse meine Lippen auf ihre Hand, sehe sie an. »Ich liebe dich. Immer noch.«

  Während ich auf ihre Antwort warte, rast mein Herz so schnell, dass es in meinen Ohren rauscht.

  »Ich dich auch.«

  Ich stoße die Luft aus. Bin so erleichtert, so unendlich erleichtert, dass es scheint, als würden unsichtbare Gewichte von meiner Brust gehoben.

  »Okay, gut«, sage ich, was mir als Antwort im nächsten Moment absolut lahm vorkommt. Aber nun ist es so. »Und jetzt erzähl mir von Esmé und dir.«

  Amory grinst. »Sie stand einfach vor der Tür, nachdem du ausgezogen warst. Auf der Suche nach dir. Offensichtlich schwanger. Und … na ja … ich habe zwar mit Religion nicht viel am Hut, aber die Weihnachtsgeschichte fand ich immer gut. Wahrscheinlich, weil ›Weihnachten‹ drinsteckt. Jedenfalls lernt man da, dass man schwangere Frauen nicht wegschickt. Wir haben uns ausgesprochen. Sie hat sich entschuldigt. Und auf einmal war alles wie früher. Nur dass sie immer dicker wurde. Sie ist in dein Zimmer gezogen.«

  »Also ist sie in ihr Zimmer gezogen.«

  Amorys Augen strahlen, als wäre sie über meine Reaktion erstaunt.

  »Keine Sorge«, sage ich. »Ich habe schließlich ein eigenes Haus.«

  »Ich würde es gerne sehen«, sagt sie vorsichtig.

  »Du bist jederzeit eingeladen. Allerdings ist es noch nicht ganz fertig. In letzter Zeit … Na ja, sagen wir, ich hatte dringendere Dinge zu erledigen. Aber wenn du willst … vielleicht hast du ja Lust … ich weiß nicht …«

  »Sehr gerne«, sagt sie, und auf meinem Arm bildet sich eine Gänsehaut.

  49

  Amory

  Hinter den Dächern von Marigny geht gerade die Sonne unter. Ihr orangefarbener Schein taucht die ganze Straße mit ihren schmucken, bunten Häuschen in ein warmes Licht. Wilde Vorgärten und dick blühende Magnolien am Straßenrand duften nach Frühling, nach warmem, schwerem New-Orleans-Frühling.

  Ich gehe die Hausnummern eine nach der anderen ab. Bis ich stehen bleibe. Vor einem Haus, das alles andere als schmuck ist. Die Farbe ist abgeblättert, die Tür schief. Die Veranda hängt an einer Stelle durch. Im Vorgarten liegt verbogenes Wellblech. In diesem M
oment öffnet sich quietschend die Haustür. Und nun ist auch der letzte Zweifel beseitigt. Hier lebt er. Ich schlucke.

  »Es ist, wie gesagt, noch nicht fertig.« Curtis tritt auf die Veranda und stützt sich mit seinen gebräunten Armen auf das Geländer.

  »Aber sicher ist es?«, frage ich, denn es könnte ebenso gut einsturzgefährdet sein.

  Er lacht. »Bislang hat es gehalten.«

  Mit zögerlichen Schritten gehe ich durch den Vorgarten. Curtis reicht mir eine Hand und zieht mich die knarzenden Holzstufen nach oben und in seine Arme.

  »Schön, dass du da bist«, sagt er in mein Ohr, und auf einmal spielt es keine Rolle mehr, dass sein Haus aussieht, als würde es beim leisesten Windhauch umgepustet. Denn ich bin völlig erfüllt von ihm. Seiner Wärme, seinem Geruch.

  »Willst du reingehen?«, fragt er.

  »Ich weiß nicht, will ich?«, gebe ich zurück.

  Er kneift mich in die Seite. »Sei nett zu meinem Haus!«

  »Ach so, es ist ein Haus! Ja, jetzt, wo du es sagst …«

  Curtis lacht und zieht mich wieder an sich, um mir einen Kuss auf den Scheitel zu drücken. Dann tritt er nach drinnen. Aber ich bleibe wie angewurzelt stehen. Mein Blick ist auf das große X geheftet, das auf die Tür gesprayt wurde.

  »Ist das …«, beginne ich, kann den Gedanken allerdings nicht zu Ende bringen.

  »Ach so, ja, das sehe ich gar nicht mehr.« Er zuckt mit den Schultern.

  »Warum hast du es nicht übermalt?«, frage ich, denn dieses Symbol muss ihn doch tagtäglich daran erinnern, was er verloren hat.

  »Ich bin noch nicht dazu gekommen. Wollte erst mal mich selbst … hinkriegen.«

  Ich nicke und spüre, wie mein Herz so fest für ihn schlägt, wie es noch nie für irgendjemanden geschlagen hat.

  Drinnen erleuchtet eine Glühbirne den kahlen Raum. Die Wände sind nicht tapeziert, der Boden ist nackter Stein. Doch Curtis’ Augen leuchten, als wäre dies ein Palast.

  »Das ist das Wohnzimmer«, sagt er.

  »Und das Schlafzimmer?«, frage ich, denn in der einen Ecke liegt eine Matratze auf dem Boden. Das einzige Möbelstück. Wenn man es denn so nennen will.

  »Ich wollte irgendwie nicht dort schlafen, wo früher meine Eltern …«

 

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