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Feel Again

Page 38

by Mona Kasten


  »Ich muss Al anrufen«, murmelte er nach einer Weile und hob das Handy hoch, das er in seiner rechten Hand umklammert hielt. »Ich kann morgen Mittag nicht arbeiten.«

  »Darüber brauchst du dir keine Gedanken machen. Wir müssen erst mal rein. Sind Theodore und Mary da?«, fragte ich.

  Er nickte, dann schüttelte er den Kopf. »Grandma ist mit Ivy auf dem Wochenmarkt. Grandpa hat Ariel und Levi aus der Schule abgeholt.«

  »Okay«, sagte ich und nahm seine Hand. Seine Haut war eiskalt, und ich wünschte, ich hätte meine Handschuhe mitgenommen, als ich vom Mount Wilson losgefahren war.

  Er ließ sich von mir zur Haustür ziehen. Als er sie aufschließen wollte, zitterten seine Finger so heftig, dass er das Schlüsselloch mehrmals verfehlte und ich ihm den Schlüssel letztlich abnehmen musste, um selbst aufzuschließen. Ich schob ihn vor mir her durch die Tür.

  »Hallo?«, rief ich ins Haus und schlüpfte aus meinen schneebedeckten Schuhen. Dann half ich Isaac aus seiner Jacke – seine langen Gliedmaßen schienen gerade zu nichts zu gebrauchen zu sein – und legte sie auf der Kommode im Flur ab. »Jemand da?«, rief ich.

  »Wir sind im Wohnzimmer!«, kam Theodores Antwort.

  Wieder nahm ich Isaac bei der Hand. Der vertraute Duft dieses Hauses stieg mir in die Nase, und wäre die Situation nicht so angespannt gewesen, hätte ich das Gefühl, wieder hier zu sein, genossen.

  Theodore saß auf der Couch im Wohnzimmer, Ariel dicht an ihn gekuschelt und Levi auf seinem Schoß. Als er sah, dass Isaac mit mir gekommen war, lächelte er warm. Alleine seine Anwesenheit übte eine enorme Ruhe auf mich aus, und ich hoffte inständig, dass dies auch bei Isaac zutraf.

  Im Gegensatz zu den letzten Malen quietschte dieses Mal niemand, als wir in den Raum kamen. Ariel war still, als sie von der Couch glitt und auf Isaac zulief. Ich ließ seine Hand los, damit er seine Schwester auf den Arm nehmen konnte. Die beiden klammerten sich aneinander, und Isaac murmelte etwas in ihr Ohr, das ich nicht verstand.

  Ich ging zum Sofa und streichelte über Levis Kopf, bevor ich mich neben ihn und Theodore setzte. Theodore legte einen Arm um mich und drückte mich kurz an sich. Er sagte nichts.

  Es war gespenstisch still in dem sonst so lebendigen Haus. Man merkte ganz deutlich, dass etwas nicht stimmte. Am liebsten hätte ich Theodore gefragt, was genau passiert war, aber das wollte ich nicht vor den Kindern tun. Auch Isaac sagte nichts, sondern hielt weiterhin Ariel auf dem Arm und begann, mit ihr im Wohnzimmer auf und ab zu laufen, bis sich ihre verkrampfte Haltung ein kleines bisschen lockerte und sie ihn nur noch umarmte, anstatt zu erwürgen. Er schien genau so viel Trost in ihrer Umarmung zu finden, wie er ihr spendete, denn nach einer Weile war sein Blick klarer und nicht mehr ganz so verzweifelt.

  »Was ist das?«, fragte Levi unvermittelt und deutete auf meinen rechten Arm.

  Für einen Moment wusste ich nicht, was er meinte, aber dann sah ich, dass ich den Ärmel meines schwarzen Pullovers hochgeschoben hatte und er auf die kleine Schwalbe auf meinem Unterarm deutete.

  »Ein Tattoo«, antwortete ich.

  Levi wurde sofort hellhörig und setzte sich auf dem Schoß seines Großvaters auf. »Was ist ein Tattoo?«

  »Ein Tattoo ist ein Bild, das man sich auf die Haut malen lässt«, erklärte ich, und im nächsten Moment packte Levi meinen Arm, um ihn sich direkt vor die Nase zu halten.

  Theodore lächelte.

  »Was ist, wenn du badest?«, fragte Levi und sah mich skeptisch an.

  Ich stutzte und sah hilfesuchend zu Theodore, doch sein Lächeln wurde bloß breiter. Dann überlegte ich kurz, wie ich einem Sechsjährigen pädagogisch wertvoll erklären sollte, was ein Tattoo war. »Tattoos werden mit einem magischen Stift aufgemalt, den man nicht abwaschen kann.«

  Levis Mund klappte auf und seine grünbraunen Augen wurden ganz groß. Er stieß ein leises »Whoa« aus, bevor er sich wieder mit konzentriertem Ausdruck über meinen Arm beugte und das kleine Symbol betrachtete. »Bleibt das für immer da?«

  Ich nickte. Dann lehnte Levi sich zurück und sah seinen Großvater mit ernstem Gesichtsausdruck an.

  »Ich möchte auch ein Tattoo«, verkündete er feierlich.

  Großartig. Nach Ariel hatte ich jetzt auch Levi auf den Geschmack gebracht. Warum ließ mich eigentlich überhaupt irgendjemand in die Nähe dieser Kinder? Ich ohrfeigte mich gerade innerlich, als ich plötzlich ein ganz anderes Geräusch hörte. Und zwar eines, mit dem ich absolut nicht gerechnet hatte, schon gar nicht an diesem Tag, in dieser Situation.

  Lachen.

  Ich drehte mich um und entdeckte Isaac am anderen Ende des Wohnzimmers. Er sah mich kopfschüttelnd an und lachte. Leise und rau, aber dennoch meinetwegen.

  Mein Herz begann, schneller zu schlagen.

  »Das machen wir, wenn du ein bisschen größer bist«, sagte er belustigt und kam mit Ariel auf dem Arm zu uns. Er ließ sich auf das andere Ende des Sofas fallen und behielt seine Schwester auf dem Schoß. Sie schmiegte ihr Gesicht an seine Brust, die Augen geschlossen. Sie sah so verängstigt aus, dass es mir die Kehle zuschnürte, vor allem weil ich wusste, wie fröhlich sie sonst immer gewesen war.

  »Wie groß?«, fragte Levi.

  Isaac hob den Arm so hoch, wie es ihm im Sitzen möglich war. »So groß in etwa.«

  Der Kleine sah traurig zu mir zurück. »Aber ich will auch ein Bild auf dem Arm.«

  »Dann malen wir dir eins mit einem Stift auf«, schlug ich vor.

  »Wirklich?«, fragte er begeistert.

  »Du musst mir nur sagen, was du für eines möchtest«, sagte ich nickend.

  Levi hüpfte von Theodores Schoß und rannte aus dem Raum. »Ariel, ich nehme deine Stifte, okay?«

  »Du gehst nicht in mein Zimmer!«, rief sie sofort. Schneller, als ich es für möglich gehalten hätte, sprang sie von Isaacs Schoß und rannte Levi hinterher.

  Kaum waren beide Kinder aus dem Wohnzimmer verschwunden, fragte Isaac: »Wie geht es ihr? Gibt es was Neues? Wann können wir sie besuchen?«

  »Sie ist immer noch im OP«, sagte Theodore ernst, aber ruhig.

  »Was ist überhaupt passiert?«, fragte ich leise.

  »Debbie hatte einen schweren Autounfall. Sie ist von der Fahrbahn gerutscht und hat sich überschlagen.«

  Bei seinen Worten lief mir ein eiskalter Schauer über den Rücken. »Oh Gott.«

  »Sie hat sich Knochen gebrochen und innere Verletzungen zugezogen«, fuhr er fort. »Seit fast zwei Stunden wird sie operiert.«

  Ich traute mich nicht, meine nächste Frage laut zu stellen, aber Theodore schien sie zu erahnen. »Sie wird wieder gesund«, sagte er mit fester Stimme. Er sah zu Isaac, der mit gesenktem Kopf dasaß und auf seine Hände starrte. »Daran müssen wir jetzt alle fest glauben.«

  Ich nickte, auch wenn ich keine Ahnung hatte, wie Debbies Chancen standen und ob Theodore das nur sagte, um Isaac und vielleicht auch sich selbst zu beruhigen. »Natürlich. Was kann ich tun?«

  »Du tust schon genug, indem du da bist, Sawyer.« Sein Blick zuckte kurz zu Isaac, dann wieder zurück zu mir.

  Er griff nach meiner Hand, und ich drückte sie fest. »Das ist doch selbstverständlich.«

  »Danke.« Er lächelte warm und erhob sich von der Couch. Auf dem Weg zur Küche drückte er Isaacs Schulter, doch der schien das gar nicht wahrzunehmen. Ich wollte so unbedingt etwas für ihn tun, ihn trösten oder ablenken. Ich wollte ihm sagen, dass ich genau wusste, wie er sich fühlte. Dass ich wusste, wie schlimm es war, wenn man Angst hatte, seine Eltern zu verlieren. Aber auch, dass ich wusste, dass er stark genug war, das durchzustehen. Egal, wie es ausgehen würde. Und dass ich für ihn da sein würde.

  Doch gerade, als ich etwas sagen wollte, polterten Ariel und Levi zurück ins Wohnzimmer – bewaffnet mit Massen von Stiften, die sie auf dem Wohnzimmertisch ausbreiteten. Während ich mich zu den beiden auf den Boden setzte und anfing, ihre Arme mit bunten Bildern zu verzieren, blieb Isaac mit gedankenverlorenem Gesichtsausdruck auf der Couch sitzen.

 
Kurz darauf kehrten Mary und Ivy vom Markt zurück. Ivy verstand zwar noch nicht, dass ihrer Mom etwas Schlimmes passiert war, aber sie merkte, dass etwas nicht stimmte, und war dementsprechend unruhig und quengelig.

  Den Rest des Nachmittags verbrachten wir damit, Kinderserien im Fernsehen zu schauen, Suppe zu essen, die Theodore gekocht hatte, und zu versuchen, nicht wie hypnotisiert das Telefon anzustarren in der Hoffnung, dass endlich der erwartete Anruf von Isaacs Dad kam.

  Am frühen Abend beschlossen Theodore und Mary, die Kinder ins Bett zu bringen. Levi verlangte laut, dass ich ihn zudecken sollte, und als Isaac meinen panischen Blick sah, musste er lachen und begleitete mich in das Zimmer. Während er die Vorhänge zuzog, machte ich die kleine orange Lampe neben Levis Bett an und half ihm dabei, sich zuzudecken, bis nur noch sein kleiner Kopf herausragte.

  »Wird alles wieder okay werden?«, fragte er kleinlaut.

  Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Isaac in seiner Bewegung erstarrte. Mit so viel Überzeugung, wie ich in dieser Situation aufbringen konnte, sagte ich: »Natürlich wird es das. Egal, wie schlimm manche Tage sind, Levi … es kommt immer alles wieder in Ordnung. Mach dir keine Sorgen.«

  Er sah mich nachdenklich an. »Okay.«

  »Okay«, sagte ich.

  »Aber was, wenn Mom nicht zurückkommt?«, fragte er, diesmal viel leiser.

  Die Worte trafen mich mitten ins Herz, und es kostete mich alle Mühe, meine Gesichtszüge nicht entgleiten zu lassen.

  Isaac lief schnellen Schrittes aus dem Raum. Ich hörte ihn noch im Flur, bevor irgendwo eine Tür laut ins Schloss fiel. Mit einem leisen Seufzen beugte ich mich wieder über Levi und strich ihm die Locken aus der Stirn.

  »Deine Mom wird wiederkommen, wenn es ihr besser geht, Levi. Da glaube ich ganz fest dran, und du musst mir dabei helfen«, flüsterte ich.

  Er nickte langsam.

  »Schlaf schön.« Ich stand vom Boden auf und schaltete das Licht neben der Tür aus, sodass nur noch das neben dem Bett leuchtete. Levi schloss die Augen und kuschelte sich in seine Decke, und ich schob mich durch die Tür und zog sie leise hinter mir zu. Dann ging ich zu Isaacs altem Kinderzimmer.

  Vorsichtig klopfte ich an der Tür. Als er nicht antwortete, öffnete ich sie vorsichtig und lugte durch den Spalt.

  Isaac saß mit gesenktem Kopf auf seinem Bett und starrte auf seine Hände. Ich hatte ihn schon traurig und niedergeschlagen erlebt, aber noch nie so. Es tat weh zu sehen, wie sehr er litt. Und am meisten tat es weh, dass ich ihn nicht so trösten konnte, wie ich wollte. Ich hätte ihn am liebsten in die Arme genommen und überhaupt nicht mehr losgelassen, aber … das war nicht mein Recht. Ich hatte ihn von mir gestoßen und das zwischen uns für beendet erklärt, und mit diesen Konsequenzen musste ich jetzt leben.

  »Ich bin ein Versager«, sagte er tonlos.

  »Hör auf damit«, sagte ich ernst und durchquerte das Zimmer. Erst als ich vor ihm in die Hocke ging, sah ich, dass er ein Foto in den Händen hielt. Es war ein Abzug von jenem, das ich mit Ariels Kamera gemacht hatte, als Isaac und seine Mom zusammen am Klavier gesessen und gespielt hatten. Ich fuhr sanft mit meinen Fingern darüber. Es war wunderschön geworden, genau wie der Moment damals.

  Er schüttelte den Kopf. »Ich habe diesen Streit nie richtig mit ihr klären können. Wir haben monatelang nicht richtig miteinander geredet. Was soll ich nur machen, wenn sie stirbt?«

  »Hör. Auf«, sagte ich eindringlich und umfasste sein Gesicht. Auch wenn ich ihn eigentlich nicht hatte berühren wollen – er musste unbedingt in meine Augen sehen, wenn ich ihm die nächsten Worte sagte. »Deine Mutter wird nicht sterben, Isaac.«

  Sein Blick war genau so wie an jenem ersten Abend im Hillhouse, als ich mich darüber aufgeregt hatte, wie diese Mädchen ihn behandelten. Als würde er nur mich wahrnehmen, und alles andere auf der Welt wäre ihm in diesem Moment völlig gleichgültig.

  Ich musste meine Stimme klären, um weitersprechen zu können. »Außerdem weißt du nicht, wie es deiner Mutter geht, wenn du dich hier verkriechst.« Ich erhob mich und nahm ihm das Foto aus der Hand. Vorsichtig legte ich es auf den Nachttisch neben dem Bett. Danach griff ich nach seiner Hand. »Komm jetzt.«

  Er stand auf und folgte mir, ohne Widerstand zu leisten. Seine Hand war warm und lebendig, als er seine Finger mit meinen verschränkte.

  In der nächsten Stunde telefonierte ich durch die Gegend, während Isaac mit seinen Großeltern die Reste der Suppe aß. Ich sprach mit Al und schilderte ihm kurz, was geschehen war und dass Isaac es in den nächsten Tagen nicht zur Arbeit schaffen würde. Al brummte, aber ich merkte, dass ihm die Geschichte leidtat. Anschließend sprach ich mit Robyn, die mir sagte, es wäre völlig okay, wenn ich ihr ihren Wagen erst am nächsten Abend zurückbrachte. Dann sprach ich mit Dawn, die am liebsten sofort in Spencers Auto gesprungen und hierhergekommen wäre, wovon ich sie aber abhalten konnte. Isaac war am Rande eines Nervenzusammenbruchs, ich bezweifelte, dass ihm noch mehr Leute in diesem Haus gutgetan hätten.

  Um kurz vor zwölf rief Isaacs Dad an. Während wir zu viert auf der Couch saßen und auf Isaacs Handy starrten, das in der Mitte des Tisches lag und auf Lautsprecher gestellt war, erfuhren wir, dass Debbie die Operation gut überstanden hatte und jetzt schlief. Der Bruch in ihrem Bein war geschient, der instabile Beckenbruch operativ behandelt worden. Ihre Milz hatte entfernt werden müssen, weil sie beim Unfall gerissen war, und der Blutverlust, den sie erlitten hatte, war lebensbedrohlich gewesen, aber die Ärzte hatten ihn rechtzeitig stoppen können.

  »Sie wird es schaffen«, sagte Isaacs Dad. »Debbie wird es schaffen.«

  »Ich wusste es«, sagte Mary mit erstickter Stimme.

  »Debbie ist eben eine Kämpferin«, fügte Theodore hinzu.

  Ich sah zu Isaac. Einen Moment lang schien er nicht zu begreifen, was sein Vater da gerade gesagt hatte. Sein Blick zuckte vom Telefon zu seinen Großeltern, zurück zum Telefon und schließlich zu mir.

  Dann wich die Angst aus seinen Augen, und auf seinem Gesicht breitete sich ein wunderschönes Lächeln aus.

  Danach war es, als hätte jemand eine riesige Last von allen unseren Schultern genommen. Isaac rief Eliza an und wiederholte alles, was sein Vater gesagt hatte, während Theodore und Mary das Gästezimmer herrichteten, mir Handtücher und Waschzeug raussuchten und dabei halfen, das Bett frisch zu beziehen. Ich versuchte mehrmals, ihnen zu sagen, dass ich das auch alleine konnte, aber anscheinend ließ sich das nicht mit ihrer Idee von Gastfreundschaft vereinbaren. Dabei merkte ich deutlich, wie sehr ihnen der Tag zugesetzt hatte. Inzwischen sah man ihnen ihr Alter an, und ihre schleppenden Bewegungen verrieten mir, dass sie dringend Schlaf brauchten.

  Ich wünschte ihnen eine gute Nacht, bevor ich in das T-Shirt schlüpfte, das Mary mir aus Isaacs Zimmer gebracht hatte, und mich ins Bett legte. Ich war erschöpft von der Aufregung und der Sorge um Isaacs Familie, aber gleichzeitig seltsam glücklich, dass ich die Möglichkeit gehabt hatte, in dieser Situation für ihn da zu sein. Und nicht nur für ihn. Für seine ganze Familie. Für Theodore, Mary, Ariel, Levi und Ivy … Sie alle lagen mir am Herzen, und das war ein ganz neues Gefühl für mich. Noch vor wenigen Monaten hätte ich niemals so viele Menschen so nahe an mich herangelassen. Aber heute konnte ich es. Heute konnte ich mich sogar voller Gewissheit hinstellen und sagen, dass egal, wie schlimm einem eine Situation erscheinen mochte, es immer wieder gut werden würde. Und ich würde alles tun, auch in den nächsten Wochen für sie da zu sein, wenn sie mich brauchten. Mit diesem Gedanken im Kopf drehte ich mich auf die Seite und döste ein.

  Ich wachte wenig später wieder auf, als sich die Tür zum Gästezimmer öffnete. Ich blinzelte verwirrt und rieb mir die Augen. Es war stockdunkel, bloß schemenhaft konnte ich den Schrank und die Vorhänge erkennen, genau wie die Gestalt, die gerade die Tür hinter sich zuzog. In ein paar Schritten war Isaac bei mir. Ich hielt den Atem an, als er sich neben mich in das kleine Gästebett legte. Erst nachdem ich die Gewissheit hatte, dass ich nicht träumte, schaffte ich es, die Decke ein Stück anzuheben, damit er darunt
erschlüpfen konnte. Sein warmer Körper war meinem so nahe, dass ich kaum wagte zu atmen.

  »Alles okay?«, flüsterte ich.

  Er schlang einen Arm um mich und zog mich noch enger an sich, bis ich an meinem Rücken spüren konnte, wie sich seine Brust hob und senkte.

  »Jetzt ist es besser.«

  Es gab so viele Dinge, die ich ihm sagen wollte. Ihn fragen musste. Aber dafür war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Also legte ich meinen Arm über seinen und hielt ihn einfach nur fest.

  KAPITEL 35

  Am nächsten Morgen war die Stimmung nach wie vor angespannt, auch wenn sich alle große Mühe gaben, das nicht vor den Kindern zu zeigen. Ich half Mary und Theodore dabei, Frühstück zu machen und Schulbrote zu schmieren, während Isaac versuchte, Ariel aufzumuntern, die total schlecht geschlafen hatte.

  Ich beobachtete die beiden. Ariel stocherte lustlos in ihrem Rührei rum, während Isaac leise auf sie einredete und es irgendwie schaffte, sie davon zu überzeugen, wenigstens ein bisschen zu essen. Es war ein Fehler, zu glauben, Kinder würden nicht mitbekommen, was in ihrem Umfeld geschah. Im Gegenteil, sie waren ganz besonders empfänglich für Gefühle und Stimmungen. Das wusste ich aus Erfahrung. Ich hatte damals gemerkt, dass etwas nicht stimmte, lange bevor Mom mir erzählt hatte, dass Dad krank war und nicht mehr gesund werden würde.

  Nach dem Frühstück brachen Isaac und ich direkt zum Krankenhaus auf. Während der Fahrt sprach Isaac kaum, aber ich ließ ihn, weil ich spürte, wie nervös er war. Als wir aus dem Auto stiegen, war sein Gesicht aschfahl, und er lief so schnell über den Parkplatz, dass ich Mühe hatte, auf dem glatten Weg hinterherzukommen.

  An der Rezeption wurden wir von einer freundlichen Krankenschwester begrüßt.

 

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