by Stella Tack
Genüsslich schnappte ich mir eine ihrer Strähnen, die ich mir um den Finger wickelte, ehe ich sanft daran zupfte. »Hast du dich wieder verlaufen?«
Haidi fuhr herum und starrte mich mit diesen absurd riesigen Augen an. Ihr Mund klappte auf, als sie mich erkannte. Kurz sah es so aus, als wollte sie mir eine schnippische Bemerkung an den Kopf werfen, doch dann landete ihr Blick auf meinem nackten Oberkörper.
Amüsiert verschränkte ich die Arme vor der Brust. »Bevor du mich fragst, ob ich dich stalke … das hier ist mein Zimmer.« Demonstrativ klopfte ich mit den Fingerknöcheln an die dünne Tür von B11 und sah, wie Haidis Wangen rot wurden.
Sie räusperte sich und funkelte mich wütend an. »Ich sollte dir ein Glöckchen umbinden, damit du dich nächstes Mal nicht so an mich heranschleichen kannst.«
Ich grinste und ließ den Brustmuskel ein wenig zucken. »Wirst du denn jetzt öfter vor meiner Tür auftauchen?« Ich konnte es mir nicht verkneifen, ein wenig mit ihr zu flirten.
»Nein!«, sagte sie schnell. »Ich suche nur jemanden.«
Neugierig legte ich den Kopf schief. »Ich nehme mal an, dieser Jemand bin nicht ich?«
Sie schnaubte und schüttelte so heftig den Kopf, dass ihr Pferdeschwanz wild hin und her schwang. »Nein. Er soll in Zimmer B12 wohnen. Aber ich glaube, es ist gerade keiner da?«
»Mhm…« Verwirrt musterte ich sie. Warum suchte sie einen Jungen im Zimmer von Ivy Redmond? Und vor allem, warum nervte es mich, dass sie einen anderen Typen suchte? »Ich glaube, du verwechselst da was. In dem Zimmer wohnt noch keiner«, teilte ich ihr trotzdem freundlich mit. »Wen suchst du denn? Vielleicht kenne ich ihn ja?« Unwahrscheinlich, da ich mir die Akte mit den anderen Zimmernachbarn noch nicht angesehen hatte. Aber mit Haidi einen Unbekannten zu suchen, stellte ich mir allemal interessanter vor, als allein in meinem Zimmer zu hocken und Akten zu wälzen.
»Er …« Sie biss sich auf die rosa Unterlippe und sah unsicher zwischen mir und der Tür hin und her. »Ist nicht so wichtig. Wahrscheinlich habe ich nur etwas falsch verstanden. Ich sollte wieder runtergehen.«
Sie wollte gehen? Nein! »Hast du denn dein Zimmer schon zugewiesen bekommen?«, fragte ich schnell nach und versperrte ihr den Weg, als sie an mir vorbeigehen wollte.
Irritiert blieb sie stehen und guckte zu mir hoch. Am liebsten wäre ich ihr sogar noch näher gekommen. Nur ein Schritt und ich hätte ihre entzückenden Sommersprossen zählen können. Aber Haidi schien mir neben dezent durchgeknallt auch ziemlich scheu zu sein. Und ich hatte keine Lust, noch mal Gatorade in die Augen zu bekommen.
»Noch nicht«, sagte Haidi, während ihr Blick auf dem Schriftzug an meinem Rippenbogen hängen blieb. Ein Funkeln trat in ihre blauen Augen. Kurz schien sie abgelenkt zu sein, aber sie hatte sich schnell wieder unter Kontrolle. »Äh, ich kann erst später am Abend einziehen.«
»Weißt du schon, wo?«, bohrte ich nach. Hoffentlich klang ich dabei nicht zu sehr wie ein Stalker. Eigentlich sollte ich lieber die Klappe halten und sie gehen lassen, aber … ich wollte nicht.
Sie legte misstrauisch den Kopf schief. »Ich bin in diesem Wohnheim«, sagte sie vage.
In meinem Inneren ging eine kleine Party ab, aber nach außen hin versuchte ich, cool zu bleiben. »Wenn du willst, kannst du bis zu deinem Einzug bei mir die Zeit totschlagen. Es ist zwar nicht das Ritz, aber Netflix funktioniert«, bot ich unglaublich selbstlos an. Ich war gespannt auf ihre Reaktion. So ganz konnte ich die Kleine noch nicht einschätzen.
Prompt zog sie ein skeptisches Gesicht. »Ist das gerade eine Netflix-and-Chill-Anmache?«
Ich lachte. »Vielleicht. Wir können aber auch etwas anderes machen. Ich ziehe mir nur schnell was an und dann können wir ein Eis essen gehen. Also, falls du nicht zu viel Angst hast, mit deinem Beinahe-Mordopfer Zeit totzuschlagen.«
Sie zuckte zusammen und ein schuldbewusster Ausdruck trat in ihre Augen. Doch sie zögerte immer noch. Sie hatte also eindeutig Bedenken, mit mir allein zu sein. Warum auch immer. Meine Piercings konnten es jedenfalls nicht sein, die hatte sie eher fasziniert angestarrt. Fast so, als hätte sie noch nie welche gesehen. Aber wahrscheinlich wollte sie nur das Wohnheim nicht verlassen, falls der Typ, den sie suchte, doch noch auftauchte. Interessant, wie man einen Kerl nicht ausstehen konnte, obwohl man ihn noch nicht mal kannte.
»Unten im Gemeinschaftsraum gibt es einen Ben-&-Jerry’s-Automaten. Wir können dort abhängen«, schlug ich vor, während ich einen Blick aufsetzte, den meine kleine Schwester den heißen Hundeblick getauft hatte.
Haidi sah mich an. Eine zarte Röte kroch ihr in die Wangen und zum ersten Mal stieg mir ihr Geruch in die Nase. Sie duftete verführerisch. Ein wenig nach Erdbeere und Seife.
»Okay«, sagte sie schließlich und ich stieß einen inneren Triumphschrei aus.
»Schön! Gib mir fünf Sekunden zum Anziehen.«
Sie schmunzelte. »Klar, ich zähle und gehe schon mal runter.«
Eigentlich wollte ich nicht, dass sie ohne mich ging. Die Angst, dass sie abhaute, sobald ich hinter dieser Tür verschwand, ließ mich seltsam rastlos zurück. Aber da ich sie schlecht hinter mir ins Zimmer zerren konnte, nickte ich nur, schlüpfte an ihr vorbei hinein und warf mir innerhalb von Sekunden eine dunkle Cargo-Short und ein blaues T-Shirt über. Die noch leicht nassen Haare steckte ich wie gewohnt mit einer kleinen Klammer zur Seite und war so schnell wieder draußen, dass ich Ivy noch auf den Stufen einholte.
»Bereit für das Eis deines Lebens?«, wisperte ich ihr ins Ohr. Das erschrockene Keuchen, das ich ihr entlockte, als ich einen Arm um ihre Schulter legte, war einfach nur niedlich.
»Du hast sie doch nicht mehr alle.« Lachend stieß sie meinen Arm von ihrer Schulter.
Ich grinste nur und führte sie in Richtung des Gemeinschaftsraums. Erst jetzt fiel mir ein, dass ich eigentlich mein Handy hatte checken wollen. Es hatte zwar geklingelt, als ich es vorhin zum Aufladen angesteckt hatte, aber da war ich schon auf halbem Weg zu den Duschen gewesen. Egal. Was auch immer es war, es konnte bestimmt noch ein paar Stunden warten.
Ivy
Ich hätte Nein sagen sollen. Ich war mir so sicher, dass Ray nichts als Ärger bedeutete. Vor allem, als ich ihm im Flur wiederbegegnet war. Eigentlich hätte ich in diesem Augenblick sofort umdrehen und in die Verwaltung zurückgehen sollen. MacCain würde sich schon noch melden. Wahrscheinlich war er gerade auf dem Campus unterwegs und würde jeden Augenblick zurückkommen. Bis dahin wollte ich das reiche Anstandstöchterlein mimen und im Wohnheim warten.
Das war zumindest der ursprüngliche Plan gewesen. Mit Ray in der Nähe schien mir die Sache mit dem Bravsein jedoch wie ein Ding der Unmöglichkeit. Alles an ihm sprühte vor Selbstbewusstsein, der Schalk funkelte aus seinen grünen Augen heraus, sodass sich mir die Härchen auf meinen Unterarmen aufstellten.
Während Ray mich durch das Treppenhaus nach unten führte, lief in meinem Kopf I Knew You Were Trouble von Taylor Swift in Dauerschleife. Verdattert starrte ich auf seine schlanken Finger, die sich sanft um meine schlossen. Keine Ahnung, wie er es geschafft hatte, plötzlich meine Hand zu halten. Gerade hatte ich noch seinen Arm weggeschubst, im nächsten Augenblick zog er mich auch schon an der Hand hinter sich her. Wenn ich gewollt hätte, hätte ich mich jederzeit von ihm lösen können. Aber … damn it … ich wollte nicht. Es fühlte sich einfach zu gut an, seine Finger passten perfekt zwischen meine. Und wie würde es sich erst anfühlen, wenn er mich richtig umarmte? Oder mich an sich presste? Schon im Park war mir aufgefallen, wie ausgesprochen durchtrainiert er war. Es war nicht so, dass einen sein Sixpack erschlug. Aber er hatte einfach unglaublich definierte Brust- und Bauchmuskeln. So was bekam man nicht, wenn man stumpf pumpte, sondern nur, wenn man sich viel bewegte. Über seinen Oberkörper und seine Arme zogen sich schwarze, kunstvoll aufgetragene Tattoos, die extrem gut aussahen. Vor allem der Schriftzug an seinem Rippenbogen hatte es mir angetan. Was auch immer da geschrieben stand, ich wollte unbedingt wissen, was. Nur müsste ich ihn dafür noch mal oben ohne sehen und dabei hoffentlich vor Nervosität nicht in Ohnma
cht fallen. Ich bekam immer noch leichte Schnappatmung, wenn ich an den Wassertropfen dachte, der frech unter dem Bund seines tief liegenden Handtuchs verschwunden war. Die Hüftknochen hatten hervorgestanden und zusammen mit der Leiste ein scharfes V gebildet, bei dem … oh Gott.
»Woran denkst du gerade?« Rays Atem streifte meine Wange. Ich zuckte leicht zusammen und sah betont nicht in seine Richtung.
»An was total Ekliges«, murmelte ich und erntete ein ungläubiges Schnauben.
»So siehst du aus, wenn du an etwas Ekliges denkst?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Vielleicht? Wie schaue ich denn?«
Er grinste frech. »Als würdest du gleich anfangen zu sabbern.«
Ein ersticktes Lachen brach aus mir heraus. Ray war einfach unmöglich. Mit seinen Tattoos und den Piercings hätte er auch genauso gut von einem anderen Planeten stammen können. Zumindest einem anderen als jenem, von dem ich stammte. Er war so vollkommen anders, als ich erwartet hatte. Und irgendwie schaffte er es, eine Schale zu knacken, von der ich gedacht hatte, dass sie mich für immer umhüllt hätte. Aber es tat gut, mit ihm herumzualbern. Und Ray schien es zu gefallen, wie ich über ihn – oder eigentlich über mich selbst – lachte.
Plötzlich spürte ich eine flüchtige, kaum wahrnehmbare Berührung an meinen Haarspitzen. Es war nur ganz sanft und zart, aber er schien eindeutig Kontakt zu mir zu suchen. Ich ließ es zu und tat so, als hätte ich es nicht bemerkt. Irgendwie gefiel es mir, wie er an meinen Haaren – meinen neuen Haaren – herumspielte. Und es gefiel mir, dass ihm mein neues Selbst sympathisch war. Mein Herz tat einen glücklichen Sprung, hielt jedoch jäh inne, als wir die Tür zur Verwaltung passierten. Zögernd blieb ich stehen. Ach ja, da war ja noch was.
»Geh schon mal vor«, sagte ich und deutete in Richtung des Gemeinschaftsraums. »Ich muss nur schnell Bescheid geben, dass ich … äh … hier bin.« Oh Gott! Lahmer ging es wirklich nicht.
Ray schien das ähnlich zu sehen, denn er starrte mich verwirrt an. »Du musst in der Verwaltung Bescheid geben, dass du mit mir ein Eis isst?«
»Äh, ja, so in etwa.« Bevor er weiterbohren konnte, huschte ich durch den Verbindungsgang zur Tür, klopfte schnell und streckte den Kopf hinein. »Libby?«
»Ja, Mäuschen?« Die krausen blonden Locken tauchten hinter dem grässlichen Drucker auf.
»Haben Sie meinen Security schon erreicht?«, erkundigte ich mich, während ich einen nervösen Blick hinter mich warf. Doch Ray war bereits in Richtung Gemeinschaftsraum verschwunden und ich konnte nur noch seine Schuhe auf dem Linoleum quietschen hören.
»Noch nicht, Liebes. Hast du ihn denn oben gefunden?«
»Äh … ja«, flunkerte ich. Hoffentlich sah ich nicht genauso schuldig aus, wie ich mich fühlte. »Sie können also aufhören, ihn anzurufen. Ich bin im Gemeinschaftsraum, falls Sie mich brauchen.«
»Sehr schön, danke fürs Bescheid geben, Liebes!« Libby ächzte, als sie einen Packen Papier hochhob und neben dem Drucker ablegte. »Ich hole dich dann, sobald dein Zimmer bezugsfertig ist.«
»Danke!« Schnell lief ich zurück. Dabei musste ich mich streng zurückhalten, um nicht vor Aufregung wie eine Irre zu quietschen. Ich hatte jetzt ein Eis-Date!
Ryan
Ihr Lachen war mit Abstand das Schönste, was ich jemals gehört hatte. Hölle, klang das kitschig und abgedroschen. Normalerweise hätte ich mich für so einen Gedanken selbst ausgelacht, wenn es nicht so verdammt wahr gewesen wäre. Ich musste mich wirklich zusammenreißen, sie nicht die ganze Zeit anzustarren. Zum Glück schien sie auch etwas durchgeknallt zu sein, sonst wäre der Gentleman in mir wahrscheinlich sofort auf die Knie gegangen und hätte um ihre Hand angehalten. So ein Lachen sollte verboten werden.
Während ich schon mal in den Gemeinschaftsraum ging, überlegte ich, welches Eis Haidi wohl gerne aß. Dem diabetesfördernden Inhalt ihrer Handtasche nach zu urteilen, galt bei ihr wohl die Regel je mehr, desto besser, weshalb ich für uns beide Chocolate Caramel Cookie Dough herausließ. Und weil ich ein Sadist war, nahm ich nur eine große Packung, damit wir sie uns teilen mussten. Oder konnten. Oder durften, was auch immer. Während die Packung in die Öffnung runterpolterte, musste ich wieder an Haidis Gesichtsausdruck denken, als sie zur Verwaltung gelaufen war. Es schien, als hätte sie ein schlechtes Gewissen. Aber weshalb? Sollte ich fragen, was sie bedrückte? Seit sie mich bei der Verbindung niedergerannt hatte, kam sie mir irgendwie angespannt vor. Sie versuchte es zwar zu verbergen, aber die leicht hochgezogenen Schultern und das nervöse Zurückstreichen ihrer Haare verrieten, dass sie irgendwas beunruhigte. Nur was? Mein antrainierter Beschützerinstinkt war sofort angesprungen, und ich suchte schon die ganze Zeit an ihrer Haltung und dem Flackern in ihren Augen nach Anzeichen dafür, was der Grund für ihr zurückhaltendes Verhalten sein könnte. Aber was auch immer es war, das ihr Kummer bereitete, es ging mich nichts an. Haidi war nicht mein Job.
Ich warf einen kurzen Blick aus der Tür und musste grinsen, als ich Haidi aus der Verwaltung zurückkommen sah. Sie schien in Gedanken noch ganz woanders zu sein, doch mit jedem Schritt wurde ihr Lächeln breiter. Damit sie mich nicht dabei erwischte, wie ich sie anstarrte, warf ich mich auf das Ledersofa, das unter meinem Gewicht knarrte. Keine Ahnung, wer auf die grandiose Idee gekommen war, Kunstleder als Bezug zu wählen. Wahrscheinlich der gleiche Idiot, der auch Spiegel neben offenen Duschen installierte. Jedenfalls klebte ich innerhalb von Sekunden auf dem schmutzigen Bezug fest. Ich wollte gar nicht wissen, woher die Flecken auf dem Sofa kamen.
»Hey! Sorry, dass du warten musstest«, sagte Haidi und setzte sich im Schneidersitz mir gegenüber. Ich zog meine Beine ein und rutschte ein Stück zurück, um ihr Platz zu machen.
»Kein Problem. Eis?« Ich hielt den Kübel des ateriösen Verderbens in die Höhe. Sofort begannen Haidis Augen zu leuchten.
»Ich liebe diese Sorte«, rief Haidi.
Amüsiert betrachtete ich ihr vor Freude strahlendes Gesicht, bevor ich mich wieder zusammenriss, den Deckel abnahm und ihr einen der beiden Holzlöffel reichte. Mit Feuereifer stach sie in die cremige Masse und schaufelte sich so viel Eis in den Mund, dass sie Backen bekam wie ein Hamster.
»Oh Gog, ig bin im Eifimmel!« Stöhnend schloss sie die Augen und leckte anschließend genüsslich über die Lippen.
Scheiße! Schnell sah ich weg und nahm mir einen großen Löffel Eis. Erst Sekunden später wurde mir klar, was für einen gigantischen Fehler ich gemacht hatte. »Aaaah! Hirnfrost.« Fluchend umklammerte ich meinen Schädel und hörte, wie Haidi mich auslachte.
»Anfänger!« Sie spachtelte noch mehr Eis in sich hinein und ich merkte, dass meine geniale Aufreißerstrategie, uns ein Eis zu teilen, kläglich versagte. Haidi verputzte deutlich mehr als die Hälfte ganz allein. In Rekordgeschwindigkeit.
»He, lass mir auch was!«, forderte ich und stach in die Eismasse, wobei sich unsere Holzlöffel kreuzten. Herausfordernd funkelten wir uns über den Rand des Bechers hinweg an.
»Niemals. Alles meins!« Sie lachte und stieß meinen Stiel zur Seite.
»Willst du mich etwa herausfordern?« Ich zog provozierend eine Augenbraue hoch. »Ich warne dich. Ich kann Jiu-Jitsu!« Was nicht mal gelogen war. Es war Teil der Ausbildung gewesen.
»Jetzt habe ich aber Angst!«, zog sie mich auf. »Und ich kann Zumba auf der Wii! Also überleg es dir gut, ob du wirklich mein Eis essen willst!«
»Dein Eis?«
»Mein Schatz.« Sie zog den Kübel an sich. Aber ich weigerte mich, loszulassen und ließ mich von ihr mitziehen, sodass sich unsere Nasenspitzen fast berührten.
Ich unterdrückte ein Lachen, als Haidi mich herausfordernd anfunkelte. Wärme breitete sich in meinem gesamten Körper aus, während wir uns mit Blicken maßen. In diesem Augenblick musste ich meine Meinung revidieren: Haidi hatte keine Angst.
Während meiner Ausbildung hatte ich oft Angst in den Augen meiner Kollegen gesehen. Wir hatten oft genug geübt, Gefühle anhand von Mimik und Gestik zu erkennen. Das Zucken einer Augenbraue verriet manchmal mehr über eine Person als
der Müll, der aus ihrem Mund kam. Aber Haidi war kein ängstlicher Mensch. Ihr Blick sprühte voller Entschlossenheit, Lebensfreude und einer Energie, die mich vollkommen gefangen nahm und meine Finger zittern ließ. Nein, Haidi hatte keine Angst. Im Gegensatz zu mir. Denn das hier jagte mir einen Heidenbammel ein. Wann hatte ich mich das letzte Mal so gefühlt? Wenn überhaupt jemals, musste es schon sehr lange her sein.
Ihr Atem streifte meine Lippen. Ihr Geruch stieg mir in die Nase und reizte meine Sinne. Schon nach wenigen Atemzügen hatte ich das Gefühl, high zu sein. Fasziniert betrachtete ich ihr Gesicht. Ich zählte fünf Sommersprossen auf ihrem Nasenrücken. Drei Flecken auf ihrem linken Wangenknochen. Sechs auf dem rechten. Drei Punkte befanden sich direkt über ihrer linken Augenbraue. Wie ein Sternbild auf einer Himmelskarte. Am liebsten würde ich diese drei Punkte nachfahren. Die Finger über ihre Haut wandern lassen, mich in ihrem langen Haar vergraben. Mich an ihr festklammern. Sie an mich ziehen und …
»Habe ich was im Gesicht?«
»Was?« Verwirrt starrte ich sie an. Sie runzelte die Stirn, was die drei Sommersprossen über ihrer Augenbraue zum Tanzen brachte.
»Habe ich was im Gesicht oder warum guckst du so komisch?«, wiederholte sie langsam, als wäre ich verrückt. Was ich auch war: verrückt nach Haidi.
»Du hast da Sommersprossen«, murmelte ich, und bevor ich mich zurückhalten konnte, griff ich nach vorn und fuhr die drei Punkte an ihrer Stirn nach. »Die sind so blass. Beinahe silbern. Warum?«
Haidi sah mich mit großen Augen an. Und dieser Augenaufschlag. Fuck! Ich war hier gerade dabei, mich in ernsthafte Probleme zu manövrieren. Mayday! Houston, wir haben ein Problem! Es hieß Haidi und war gerade dabei, mich mit drei Sommersprossen in den emotionalen Ruin zu treiben.
»Ich lasse mir die Sommersprossen bleichen«, antwortete Haidi zögerlich. »Die da …«, sie zeigte auf ihre Nase, »… sind die einzigen, die übrig geblieben sind. Ich weiß, dass es komisch aussieht. Normalerweise trage ich Make-up, um sie zu überdecken.« Haidi wurde rot und rückte ein Stück von mir ab. Ihre Hände glitten von dem Eis ab, das inzwischen schon beinahe komplett geschmolzen war. Na ja, zumindest der mickrige Rest, den sie übrig gelassen hatte.