Kiss Me Once

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Kiss Me Once Page 7

by Stella Tack


  »Man kann Sommersprossen bleichen lassen?«, fragte ich perplex. »Warum zur Hölle sollte man so was tun?«

  Ich bereute die Worte bereits in dem Augenblick, in dem sie aus meinem Mund kamen. Etwas Dunkles trat in Haidis Augen und wieder nahm ich diesen Ausdruck von Furcht … nein, von Gehetztheit wahr. Als würde sie vor etwas davonlaufen. Aber wovor? Hing es etwa damit zusammen, dass sie sich ihre Sommersprossen hatte bleichen lassen? Oh Gott! Vielleicht hatte sie einen Ex, der so bescheuert gewesen war, nicht jeden einzelnen dieser wundervollen Sprenkel anzubeten? Ich würde ihn so was von töten!

  »Ja, ich weiß, es ist bescheuert«, meinte Haidi und riss mich aus meinen Gedanken, die gerade stark gegen das fünfte Gebot verstießen. »Es hat auch extrem wehgetan.« Sie lachte künstlich und schnitt eine gequälte Grimasse. »Meine Haut war Wochen später noch rot und total aufgequollen. Außerdem bringt es nicht viel. Sobald ich rausgehe, kommen diese blöden Dinger nach und ich muss sie wieder bleichen lassen.«

  Ich stellte den geschmolzenen Pott Eis auf dem Boden ab und setzte mich bequemer hin. »Du solltest damit aufhören. Deine Sommersprossen sind wunderschön«, erklärte ich ihr sachlich und sah mit Genugtuung, wie sich die dunklen Schatten vor Überraschung aus dem klaren Blau ihrer Augen zurückzogen.

  »Meinst du das ernst?«

  »Todernst! Wenn du willst, werde ich jeder einzelnen deiner wundervollen Sommersprossen ein eigenes Sonett widmen.«

  Ein verhaltenes Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Flirtest du gerade mit mir?«

  »Gerade? Die ganze Zeit schon! Aber wie schön, dass es dir auffällt, dann kann ich mir das Sonett vielleicht doch sparen«, sagte ich und schenkte ihr mein bestes Bad-Boy-Grinsen.

  Haidi lachte und stützte dabei das Kinn in ihrer Hand ab. »Sonett, ja? Warum kein Haiku?«

  »Was zum Teufel soll das sein?«

  »Ein japanisches Gedicht mit einer 5-7-5-Silbenstruktur.«

  »Äh … ich kann kein Japanisch«, gestand ich.

  Haidi biss sich auf die Unterlippe und legte den Kopf schief, sodass ihr das Haar ins Gesicht fiel. Hastig strich sie es zurück, doch als sie merkte, dass sich ihr Zopf gelöst hatte, zog sie das Haargummi ab, sodass ihr Haar in ungebundenen Locken hinabfiel. »Haikus müssen nicht Japanisch sein. Hier ein Beispiel.« Sie räusperte sich.

  »Wenn ich dich sehe,

  Denke ich, wie es wohl schmeckt,

  Wenn wir uns küssen.«

  Ach. Du. Scheiße. Mein Mund wurde trocken. In mir zog sich etwas zusammen, von dem ich nicht mal gewusst hatte, dass es sich zusammenziehen konnte, während mein Herz davonjagte. Hatte sie gerade wirklich das gesagt, von dem ich dachte, dass sie es gesagt hatte? Das war … das war … »Das war … das schlechteste Gedicht, das ich jemals gehört habe«, flüsterte ich rau. »Das reimt sich ja nicht mal.«

  Sie lachte und grunzte dabei ein wenig. Schnell schlug sie die Hand vor den Mund, um das Geräusch zu dämpfen, aber ich hörte es trotzdem deutlich heraus. Oh Himmel! Wenn sie das noch mal tat, würde ich sterben. Oder sie küssen. Leider gab es keine Option mehr dazwischen.

  »Haikus müssen sich nicht reimen. Es kommt nur auf die Silbenzahl an.«

  »Das ist bescheuert!«

  »Das ist eben ein Haiku.«

  »Dann sind Haikus bescheuert.«

  Plötzlich wurde sie ernst und schob beleidigt die Unterlippe vor. »Na gut, dann eben nicht«, sagte sie und sah weg.

  Oh Shit! Ich musste mir dringend etwas einfallen lassen, wenn ich dieses Grunzen noch mal hören wollte. Und das wollte ich. Unbedingt. Schnell räusperte ich mich.

  »Wenn ich seh dein Haar,

  Packt mich das Verlangen,

  Daran zu ziehen.«

  Ich griff nach vorn, wickelte mir eine der seidigen Strähnen um den Finger und zog daran, bis Haidi gezwungen war, den Kopf in meine Richtung zu lehnen. Endlich war sie wieder da, wo ich sie haben wollte. Höchstens drei Zentimeter von meinem Mund entfernt. Träge lächelte ich sie an. »Und? Habe ich das gut haikutisiert?«

  »G…g…ganz hervorragend«, hauchte sie. Ihre Augen wurden immer größer. Was allerdings auch daran liegen konnte, dass ich immer noch sanft an ihren Haaren zog.

  »Du bist dran«, murmelte ich und streichelte mit der anderen Hand über ihr Knie. Schreckte sie zurück? War ich ihr zu nah? Zu schnell? Zu aufdringlich? Hatte ich überhaupt noch die Kontrolle über das, was ich hier tat? Die Antwort war in allen Fällen: nein. Zumindest sah ich weder Angst oder Ablehnung noch jenen gehetzten Ausdruck in ihren Augen. Nur dieses überwältigende Blau, das gerade dabei war, mich zu verschlingen.

  »Blau war die Farbe,

  Mit der ich dich überfuhr,

  Meines Barbie Cars.«

  »Das war sogar noch furchtbarer als das letzte Haiku«, wisperte ich.

  Sie schluckte. Dabei war sie mir so nah, dass mir das leichte Zittern ihrer Lippen nicht entging. »Sorry. Denken fällt mir gerade ein wenig schwer«, gab sie zu.

  »Mache ich dich etwa nervös?«, fragte ich.

  »Ziemlich.«

  »Gut«, flüsterte ich. Nur noch die Dicke eines Papierblatts trennte unsere Lippen. Ein Hauch von Nichts. Und doch war sie da, die Grenze, die ich nicht überschreiten sollte. Keine Ahnung, wann genau – wahrscheinlich zwischen dem grottigen Haiku eins und dem noch grottigeren Haiku zwei – war meine Hand von ihrem Knie zu ihrem Gesicht hochgewandert. Sanft umfasste ich ihre Wange und streichelte mit dem Daumen über ihr Kinn. Am Rand ihrer vollen Unterlippe entlang. Zitternd öffnete sie sich unter meiner Berührung. Plötzlich gab es kein Halten mehr, ich pfiff auf das Leben, die Konsequenzen, die blöden sich nicht reimenden Haikus, überbrückte den Hauch von Nichts zwischen uns und küsste Haidi.

  Ivy

  Plötzlich lagen seine Lippen auf meinen. Weiche Kurven, die sich an mich schmiegten und nach süßem Schokoladeneis schmeckten. Rays Unterlippe war ein wenig voller als die obere, und ich konnte spüren, wie sein Piercing meinen Mundwinkel berührte. Hatte ich zuvor noch gedacht, dass sich der silberne Ring kalt und wie ein Fremdgegenstand anfühlen würde, so wurde ich nun vom kompletten Gegenteil überrascht. Das Metall war beinahe heiß, während Ray seine Hände von meiner Wange nach oben in meine Haare wandern ließ. Ich fühlte jeden Zentimeter, den er dabei berührte. Gänsehaut breitete sich schrittweise von jener Stelle aus, die seine Fingerkuppen streiften, und ein kalter Schauer rieselte mir den Rücken hinab.

  Mein erster Instinkt war, mich loszureißen. Immerhin wurde ich gerade von einem praktisch Fremden geküsst. Ich kannte nicht mal Rays Nachnamen. Doch ich blieb still. Mein Herz raste vor Aufregung und ich fühlte, wie etwas in mir nachgab. Etwas, was ich viel zu lange unterdrückt hatte. Es war zwar Ray gewesen, der seine Lippen vorsichtig auf meine gelegt hatte, der seine Hände langsam in meinen Haaren vergraben hatte, aber ich war es schließlich, die ihn näher zog und seinen Kuss erwiderte.

  Ray stöhnte leise, als ich meine Fingerspitzen hilflos in sein Shirt krallte. Vermutlich hatte er in diesem Augenblick genauso wenig Kontrolle über sich selbst wie ich über mich. Seine Zunge stupste neckisch gegen meine und kurz darauf spürte ich den silbernen Stift ein wenig rau über meine Zunge kratzen. Gänsehaut breitete sich auf meinem ganzen Körper aus. Mein Atem beschleunigte sich und das Blut rauschte mir so laut in den Ohren, dass ich nichts anderes mehr hörte als das hektische Klopfen meines Herzens. Rays Herz schlug nicht minder schnell unter meinen Handflächen. Langsam ließ ich meine Hände zu seinen Haaren wandern. Die kleine Klammer hatte sich gelöst, sodass mir die dunklen Strähnen wie Seide durch die Finger flossen.

  »Was … was machen wir da?«, japste ich.

  Ray grinste. Es war ein solch verschmitztes Bad-Boy-Lächeln, dass sich mein gesamter Körper anspannte.

  »Wir können uns ja darauf einigen, dass wir zusammen unseren Horizont erweitern«, flüsterte er und hauchte federleichte Küsse auf meine Kehle. Flatternd senkten sich meine Wimpern. Seine Hände lösten sich von meinen Haaren und streichelten lang
sam über meine nackten Arme.

  »Ich glaube nicht, dass ich gerade einen Horizont habe«, gestand ich.

  Ich spürte sein Lächeln an meiner Haut. »Sondern?« Er ließ seine Hände sanft zu meinen Schultern hochwandern, sodass ich erneut eine Gänsehaut bekam.

  »Keine Ahnung.« Scharf sog ich die Luft ein, als er einen weiteren Kuss auf meine Kehle hauchte. »Wie nennt man das, wenn man etwas unglaublich Dummes tun will?«

  »Abenteuerlust?«, schlug er vor, sog mein Ohrläppchen ein und biss sanft hinein. Das Piercing in seiner Zunge reizte meine empfindliche Haut noch zusätzlich.

  »Oh Gott! …«

  Ray drückte mich sanft aufs Sofa zurück. Während seine Finger durch meine Haare wühlten, beugte er sich über mich und knabberte neckisch an meiner Unterlippe. Mein ganzer Körper bebte, als aus dem Knabbern wieder ein Kuss wurde und seine Zunge meine berührte. Sein Geschmack explodierte in meinem Mund und …

  »Ivy! Liebes, bist du da? Ist Ryan bei dir?«

  Ich erstarrte.

  Die Frauenstimme hallte wie ein Pistolenschuss durch den Raum und brachte die wundervolle Seifenblase um uns herum zum Platzen. Plötzlich stürmte die gesamte Umwelt wieder auf mich ein. Ich roch den künstlichen Zitronenreiniger, hörte das Ächzen der Aircondition … aber vor allem spürte ich, wie Ray sich versteifte. Seine Finger gruben sich in meine Haut, bevor er mich abrupt losließ und so schnell aufsprang, dass das Leder des Sofas knarrte.

  Sofort vermisste ich seine Wärme und einen Moment lang war ich völlig desorientiert. Was passierte hier gerade?

  »Ivy, Liebes? Wo bis… Oh, Ryan, wie schön, dich zu sehen! Ich hätte dich vorhin schon fast als vermisst gemeldet.« Libby stieß ein glucksendes Lachen aus, das nur verzerrt bei mir ankam.

  Erschrocken setzte ich mich ebenfalls auf und versuchte verzweifelt, meine Haare glatt zu streichen. Libbys rotwangiges Gesicht strahlte mich über das Sofa hinweg an. Nein, streng genommen lächelte sie uns beide an. Mein Blick huschte kurz zu Ray, der wie eine aufgeschreckte Katze neben mir stand – die Haare immer noch von meinen Händen zerwühlt. Er starrte die Sekretärin an, als wäre er gerade Zeuge eines Autounfalls geworden.

  »Wa…was?«, stammelte ich und lenkte Libbys Konzentration dadurch wieder auf mich. Ich hatte keine Ahnung, ob sie die Situation gerade richtig deutete oder nicht. Aber wenn sich zwei Teenager schwer atmend im gleichen Raum befanden und nicht wagten, sich in die Augen zu sehen, gab es eigentlich nur wenig Spielraum für Interpretationen.

  Libby lächelte jedoch nur unverbindlich und winkte mich zu sich. »Könntest du kurz mitkommen, Ivy? Mr Redmond ist in der Leitung und möchte mit dir sprechen.« Dann wandte sie sich an Ray. »Und mit dir auch, Ryan. Offensichtlich hat er dich genauso erfolglos zu erreichen versucht wie seine Tochter.«

  Ray zuckte so heftig zusammen, dass ich endlich aus meiner Starre hochschreckte. »Was? Das ist Ray.« Verwirrt sah ich zu Ray, der mich voller Panik anstarrte. Und es war dieser Ausdruck des puren Entsetzens, der bei mir den Groschen fallen und etwas in mir zu Eis gefrieren ließ. Angefangen mit meinen Lippen, die zuvor noch gebrannt hatten von seinem Kuss. Nein! Das konnte nicht wahr sein.

  »Ray? Oh, du meinst Ryan! Ihr habt also schon Spitznamen füreinander? Wie schön. Es wird deinen Vater sicher freuen, wenn er hört, dass ihr bereits gut miteinander auskommt. Ich glaube, er hatte diesbezüglich ein wenig Sorgen.«

  »Hatte er das?« Mit zitternden Beinen stand ich auf. Meine Knochen ächzten. Eventuell drang ein ähnlich kläglicher Laut auch aus meinem Mund.

  Ryans Kiefer waren angespannt, während er hastig in eine Ecke starrte. Sein Gesicht war sogar noch eine Spur blasser geworden. Das durfte nicht wahr sein. Verzweifelt hoffte ich darauf, dass Ray mich ansah. Dass er mir sagte, dass das alles nur eine dumme Verwechselung war! Ich wollte wieder dieses spitzbübische Grinsen um seine Mundwinkel sehen. Ich wollte hören, dass er Ray war. Ein einfacher Student. Ein normaler Typ mit unmöglichen Tattoos und Piercings. Nicht Ryan MacCain. Nicht der verdeckte Begleitschutz, den mir mein Vater aufs Auge gedrückt hatte, und für den ich nur ein Job war.

  Sämtliche Luft wich aus meinen Lungen und alles, was mich den gesamten Tag über zusammengehalten hatte, zerbrach vor meinen Augen in Tausende kleine Stücke. Die ganze Aufregung, meine Träume, meine Hoffnungen, Rays – beziehungsweise Ryans – Kuss … Das alles fiel in sich zusammen wie ein Kartenhaus.

  Wie betäubt wandte ich mich wieder an Libby. »Mein Vater will mit mir reden?«

  Sie nickte gutmütig. »Es klingt, als würde er sich große Sorgen um dich machen. Er hat weder dich noch Ryan auf dem Handy erreichen können.« Sie warf uns beiden einen tadelnden Blick zu. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Ryan die Zähne so fest zusammenbiss, dass sein Kiefer spannte.

  »Ich habe mein Handy im Auto vergessen«, erklärte ich tonlos und folgte Libby in ihr Büro.

  Ob Ryan uns auch nachkam, konnte ich nicht sagen, aber ich hoffte, dass er dort stehen blieb. Am besten für immer. Die aufsteigende Demütigung und bittere Enttäuschung schnitt mit jedem Schritt tiefer in meine Brust ein. Warum tat mein Herz schon so weh, wenn wir uns gerade erst kennengelernt hatten?

  Mit tauben Fingern nahm ich den Hörer entgegen, den Libby mir reichte, und hielt mir das altmodische Ding ans Ohr. Es roch nach Schweiß und fühlte sich unangenehm schmierig an. Am liebsten hätte ich gleich wieder aufgelegt.

  »Hallo?«, hauchte ich.

  Mein Vater schnaubte. »Wo ist dein Handy?«

  »Im Auto«, erklärte ich tonlos.

  »Was tut es da?«

  »Rumliegen.«

  »Bist du von allen guten Geistern verlassen?«, schrie mich mein Vater an. Gott sei Dank waren diese alten Hörer so schlecht, dass sie schon beinahe als schallgedämpft durchgingen. Mit meinem Hightechlautsprecher hätte es mir sonst das Trommelfell durchgeblasen. »Du kannst doch nicht einfach verschwinden und dann auch noch unerreichbar bleiben. Ich sterbe hier vor Sorge um dich!«

  »Tut mir leid«, sagte ich zaghaft. Ich wusste, dass er sich wirklich Sorgen gemacht hatte. Es war ihm deutlich anzuhören. Aber er erstickte mich damit. Nicht mal zweihundertfünfzig Meilen konnten ihn davon abhalten, mich ständig kontrollieren zu wollen. Und zwar mithilfe von Ryan MacCain, der geräuschlos hinter mich getreten war. Ich hatte ihn zwar nicht kommen gesehen, aber meine Nackenhaare hatten sich auf einmal aufgestellt.

  Mein Vater schnaubte. »Du bist einfach unverantwortlich.«

  »Ich weiß.« Das war ich wirklich. Der Beweis stand gerade hinter mir und atmete in meinen Nacken.

  »Diese Sache kann nur funktionieren, wenn ich dir vertrauen kann, Ivy. Und im Augenblick zweifle ich daran, dass du bereits verantwortungsbewusst genug bist, um so viel Selbstständigkeit aufzubringen.«

  »Ich weiß, aber …«

  »Nichts aber, Ivy! Seit heute Morgen beweist du mir andauernd, wie jung du noch bist. Ich hätte auf mein Bauchgefühl hören sollen. Ich hätte dieser Collegesache nie zustimmen sollen.« Mein Vater schnaubte. »Ein Jahr soziale Arbeit in meiner Firma hätte dir bestimmt gutgetan. Vor allem, um ein wenig mehr über Verantwortung zu lernen. Und danach hättest du wie deine Mutter in Princeton studieren können. Sie ist übrigens gerade unten und hat schon das dritte Glas Bordeaux hinter sich. Wir sind maßlos …«

  »Mutter hat immer das dritte Glas hinter sich. Egal, was los ist«, erwiderte ich plötzlich gereizt. Meine Finger krampften sich um den Hörer.

  Mein Vater konnte mich gerne wegen meiner Fehler bzw. meiner Unverantwortlichkeit anbrüllen und zurechtweisen. Aber nicht wegen der Trinkerei meiner Mutter. Diesen Hut setzte ich mir nicht auf – und mein Vater ihn mir normalerweise auch nicht.

  Ich machte mich schon bereit, mir mit ihm ein saftiges Schreiduell zu liefern, als mir eine große Hand sanft, aber bestimmt den Hörer aus der Hand nahm. Überrumpelt sah ich zu Ryan hinauf.

  »Mr Redmond? Hier ist Ryan MacCain. Sie wollten mich sprechen?«, erkundigte er sich ruhig. Mir fiel auf, wie professionell er plötz
lich klang. Wie ein Security. Was er ja auch war.

  Mein Vater schrie etwas in den Hörer. Ich konnte zwar kein Wort verstehen, aber es klang nicht gerade freundlich. Die meisten Leute warfen bei diesem Ton ihre Nerven weg. Ryan schien sich davon jedoch nur minder beeindrucken zu lassen. Hätte er nicht die andere Hand zu einer Faust geballt, hätte ich ihm niemals angemerkt, dass er nervös war. Was tat er da? Beschützte er mich etwa gerade vor meinem eigenen Vater? Vor lauter Verwirrung schaffte ich es nicht, den Blick von ihm zu lösen. Stattdessen beobachtete ich gebannt sein Mienenspiel, während er penibel darauf achtete, nicht in meine Richtung zu sehen.

  »Ich verstehe, Sir«, sagte Ryan gelassen. »Natürlich.« Er lächelte gequält. »Nein. Sie müssen sich keine Sorgen machen. Das Zimmer ist bezugsfertig. Es gab allerdings eine kurzfristige Änderung mit den Zimmernummern. Ivy wird Zimmer B12 beziehen, damit sie näher am Notausgang ist.«

  Aha. Mir wurde gerade so einiges klar.

  Plötzlich umklammerte Ryan den Hörer so fest, dass seine Fingerknöchel weiß hervortraten. »Natürlich. Nein. Ich werde ihr persönlich helfen, die Sachen in ihr Zimmer zu bringen. Sowohl ihre Stundenpläne als auch der grobe Tagesablauf sind Ihnen schon zugeschickt worden. Mein Vater hat ebenfalls eine Kopie mitgenommen. Er sollte eigentlich bald in Miami ankommen. Ich … nein …« Endlich warf er mir einen Blick zu. Seine Augen blitzten wütend. »Nein, ich dachte, Ihre Tochter käme erst übermorgen an.«

  Aha. Daher wehte also der Wind. Schnaubend verschränkte ich die Arme vor der Brust. Ich würde nicht allein die Verantwortung für dieses Verwechslungsspiel übernehmen. Schließlich war er mein Bodyguard! Hätte er nicht wissen müssen, wie ich aussah?

  »Nein, es ist kein Problem. Ich habe alles im Griff«, log Ryan aalglatt. »Natürlich. Ja, grüßen Sie meinen Vater von mir. Natürlich. Hier …« Ryan warf mir den Hörer wieder zu. Hektisch fing ich ihn auf und hielt ihn mir ans Ohr.

 

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