Kiss Me Once

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Kiss Me Once Page 9

by Stella Tack


  »Danke, Ryan«, sagte ich betont freundlich. »Du kannst gehen. Ich werde dich heute nicht mehr brauchen.«

  Ryan zögerte kurz, doch dann nickte er langsam. »Hast du heute eigentlich schon was gegessen?«

  Mein Magen knurrte bei dem Wort gegessen. Und das nicht ohne Grund. Schließlich war es inzwischen schon später Nachmittag und ich hatte seit dem Frühstück nichts mehr als einen Kaffee getrunken. Trotzdem winkte ich ab und machte mich daran, den Mini-Kühlschrank, den ich im Walmart gekauft hatte, auszupacken. »Schon gut. Du musst mich nicht füttern.«

  Er verdrehte die Augen. »Hast du oder hast du nicht?«

  »Ich habe noch was Süßes in der Tasche«, antwortete ich abwesend.

  Ryan seufzte. »Ich meinte: Hast du heute eigentlich schon was … halbwegs Gesundes gegessen?«

  »Ich komme schon klar, Ryan. Danke.« Meine Stimme klang unglaublich müde und meine Augen brannten. Ryan sollte einfach verschwinden. Ich brauchte dringend etwas Luft zum Atmen. Zeit für mich allein. Um über all das nachzudenken, was heute schiefgegangen war – und was ich tun musste, damit ich es nicht noch schlimmer machte. Im Grunde sehnte ich mich nur noch danach, in mein Bett zu fallen und erst dann aufzuwachen, wenn die Welt wieder bunt und schön war. Oder es Pancakes zum Frühstück gab.

  Ryan nickte nur und wenig später schloss sich die Tür mit einem Klicken.

  Ich versuchte, mich wieder auf den Kühlschrank zu konzentrieren, doch die Anleitung ergab einfach keinen Sinn. Müde rieb ich mir die Stirn und gab es auf, diesen Kühlschrank heute noch aufbauen zu wollen. Wenn ich meine Klamotten auspackte, sollte das für heute auch reichen.

  Beim Auspacken und Zusammenlegen meiner Wäsche fiel mir zum ersten Mal auf, wie chaotisch ich eingekauft hatte. In meinem Rausch hatte ich einfach alles in den Korb geworfen, was mir billig, bunt und vor allem nützlich vorgekommen war, sodass ich jetzt unverhältnismäßig viele Socken hatte, aber nur vier Unterhosen sowie einige Shirts, die mir zwei Nummern zu groß waren. Aber egal. Im schlimmsten Fall konnte ich einen Knoten hineinmachen und es als bauchfreies Top tragen. Aber was hatte ich mir nur bei dem quietschgelben Minion-Shirt gedacht? Wahrscheinlich ähnlich viel wie bei den Einhornsocken.

  Kopfschüttelnd betrachtete ich die bunten Sachen. Mein Leben lang hatten die Farben elegantes Schwarz, schlichtes Nude und schmeichelndes Dunkelblau meine Welt dominiert. Meine Mutter hatte mir bis vor Kurzem sogar noch die Kleidung für den nächsten Tag herausgelegt. Ich war achtzehn, verdammt noch mal! Ich wollte selbst entscheiden, was ich anzog. Ich wollte selbst entscheiden, was ich aß und was ich in meiner Freizeit machte. Im Grunde hatte ich keine Ahnung, wer ich eigentlich war. Was ich mochte oder was ich tun würde, wenn ich selbst entscheiden könnte. Ich wollte auch endlich meine eigene Meinung sagen können. Nicht nur die Dinge, die von mir erwartet wurden. Ich wollte das aussprechen, was ich wirklich fühlte. Und ich wollte mit dieser Meinung gehört und respektiert werden.

  Und wahrscheinlich war das auch der Grund, warum ich im Walmart etwas eskaliert war und einfach alles, was Farbe hatte, in den Einkaufswagen geworfen hatte. Völlig egal, ob es zu kitschig, zu klein, zu groß oder zu mädchenhaft war. Aber aus Angst, dass mir jemand diese Dinge – diese Entscheidungsfreiheit – wieder wegnehmen könnte, hatte ich einfach alles zusammengerafft, was ich hatte finden können. Die nächsten Tage würde ich die Sachen aussortieren, die mir doch nicht gefielen.

  Völlig fertig ließ ich mich auf die nackte Matratze fallen und federte ein paarmal auf und ab. Sie roch neu. Ein wenig nach Chemikalien und überhaupt nicht nach Zuhause. Plötzlich kam mir der Gedanke, dass es mit Ryan vielleicht genauso war wie bei meiner neuen Kleidung. Ich hatte endlich die Möglichkeit gehabt, mir selbst einen Jungen auszusuchen – einen der mir gefiel und nicht meiner Mutter –, dass ich wohl ein bisschen übers Ziel hinausgeschossen war. Dabei hatte ich mich von meinem Übermut leiten lassen und meinen gesunden Menschenverstand einfach über Bord geworfen. Ich hatte es vermasselt.

  Schnell wischte ich mir über die Augen und setzte mich auf. Wahrscheinlich musste ich einfach ein wenig schlafen. Es war immerhin ein langer, aufwühlender Tag gewesen. Und ich hatte heute mehr geschuftet, als ich es gewohnt war. Es war gar nicht so einfach, Selbstständigkeit zu erreichen, wenn man immer jemanden um sich hatte, der sich um alles kümmerte. Und die wenigen Male, bei denen ich es selbst versucht hatte – und sei es nur das Rasenmähen –, hatte meine Mutter dafür gesorgt, dass mein Tatendrang im Keim erstickte. Beim letzten Mal, als ich die Einkäufe ins Haus getragen hatte, war eine Ming-Vase zu Bruch gegangen. Das hatte sie mir nie verziehen. Maria, unser Hausmädchen, war die Einzige gewesen, die mir mehr zugetraut hatte, als hübsche Kleidchen zu tragen und höfliche Konversation zu betreiben. Selbst wenn ihre Versuche, mir das Kochen beizubringen, meist in einer Katastrophe geendet hatten. Maria hatte sich davon nie aufhalten lassen. Egal wie miserabel das Endergebnis danach auch ausgesehen hatte. Sie meinte, solange ich lernen wollte, würde sie nicht aufhören, es mir beizubringen. Auch wenn es ewig dauern würde. Bei der Erinnerung an Marias fröhlichen mexikanischen Akzent, der unsere große sterile Küche mit Leben erfüllt hatte, zog sich meine Brust schmerzhaft zusammen. Ich vermisste sie.

  Ein plötzliches Klopfen riss mich aus meinen Gedanken. »Ja?«

  Ryan steckte den Kopf ins Zimmer und musterte mich stirnrunzelnd. »Ich habe was zu essen mitgebracht«, verkündete er und stellte ein paar Plastiktüten, aus denen es verdächtig nach chinesischem Essen roch, auf meinen Schreibtisch. Noch während ich ihn verblüfft ansah, drehte er sich auch schon wieder um und knallte die Tür hinter sich zu.

  »Nimm’s wieder mit! Ich kann mir selber Essen bestellen«, schrie ich die Tür an.

  Als Antwort knallte auch seine Zimmertür zu. Na toll. Finster starrte ich das Essen an, das unschuldig zurücksah und meine Nase mit seinen verführerischen Düften anlockte. Ich konnte es förmlich nach mir rufen hören.

  Nein! Ich würde nicht auf die dunkle Seite wechseln – auch wenn sie chinesisches Essen hatte. Mein Magen knurrte vorwurfsvoll. Schließlich konnte ich dem Geruch nicht länger widerstehen und lief etwas ungelenk zum Schreibtisch. Seufzend öffnete ich die oberste Box, nahm eine Frühlingsrolle und biss genüsslich hinein. Hmm, lecker.

  Als die Tür plötzlich wieder aufgerissen wurde, kleckerte ich mir vor Schreck prompt das T-Shirt voll. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie dämlich ich gerade aussah.

  »Waf if daf denn?«, nuschelte ich perplex und starrte auf die weiche Decke samt Kissen, die Ryan auf mein Bett geworfen hatte.

  Ryan verdrehte die Augen. »Nach was sieht es denn aus? Morgen gehen wir deinen Sicherheitsplan für Notfälle durch. Wenn du raus willst, sag Bescheid.«

  »Ähm … okay?«, nuschelte ich völlig verdattert, doch mein Security war schon wieder im Flur verschwunden. Ich hörte das scharfe Zuknallen seiner Tür und war wieder allein mit Frühlingsrollen, Chili-Shrimps, Rindfleisch süß-sauer. Und Ryans Duft, der überall im Raum hing.

  Ryan

  Ich schloss die Tür hinter mir und musste erst einmal tief durchatmen. Im Nebenzimmer konnte ich Ivy herumlaufen hören. Ich stellte mir vor, wie sie wieder im Schneidersitz in diesem winzigen Zimmer saß, von Kartons umzingelt, die sie eindeutig selbst gepackt hatte, und ihr Zimmer einrichtete. Wäre ich nicht so überfordert mit dieser Situation gewesen, hätte ich mich neben sie gesetzt, mit ihr gegessen und ihr geholfen auszupacken. Wir hätten uns ausgesprochen, uns versöhnt und Ivy hätte wieder gelacht. Aber … ich konnte nicht. Vermutlich verhielt ich mich gerade wie ein Arschloch, aber ich wollte dieser Unterhaltung aus dem Weg gehen. Vielleicht hätten wir auch nur im Raum gesessen, etwas gegessen und uns angeschwiegen. Was ich aber auch nicht wollte. Okay, das Rindfleisch schon, aber das unangenehme Schweigen nicht. Weshalb ich also lieber hungrig in meinem Zimmer hockte und mich wie ein Vollidiot fühlte. Mein Karma war ohnehin nicht mehr zu retten.

  Seufzend zog ich mir das verschwitzte Shirt aus und streckte mich auf der nackten Matratze aus. Ivy hatte ja jetzt meine Deck
e und das Polster. Irgendwo musste ich noch einen Schlafsack eingepackt haben, aber mir war gerade viel zu heiß dafür. Um mich abzulenken, versuchte ich, mich auf den aufgewirbelten Staub zu konzentrieren, der überall im Zimmer herumtanzte, doch meine Gedanken wanderten immer wieder zu Ivy. Als mein Handy vibrierte, ignorierte ich es. Aber schließlich griff ich doch danach. Ich wusste, was kam. Um es so schnell und schmerzlos wie möglich hinter mich zu bringen, scrollte ich durch die eingegangenen Nachrichten. Elf insgesamt. Fünf von Carl Redmond. Drei von meinem Vater. Zwei von meiner Mutter. Und eine … mein Herzschlag setzte kurz aus. Mein Daumen verweilte über der Nummer, die seit Jahren nicht mehr dort aufgetaucht war. Zumindest nicht auf meinem Handy. Warum ausgerechnet heute?

  Nach all den Jahren hatte ich es inzwischen aufgegeben, auf eine Rückmeldung zu warten, auch wenn ich ihm beinahe wöchentlich auf die Mailbox sprach. Die ganze Familie hielt es so. Ohne zu wissen, ob er die Nachrichten überhaupt jemals abhörte.

  Da war er wieder. Der Grund, warum ich hier war. Warum ich all das tat und warum ich Ivy auf Abstand halten musste. Meine Kehle war plötzlich staubtrocken. Ich überlegte kurz, zögerte. Doch im nächsten Augenblick, noch bevor mein Hirn die Entscheidung wieder zurücknehmen konnte, drückte ich auf die grüne Taste und hielt mir das Handy ans Ohr. Ich lauschte dem leisen Tuten. Mein ganzer Körper war steinhart vor Anspannung. Wahrscheinlich hörte ich auch auf zu atmen. Zumindest so lange, bis das Tuten von einer Stimme abgelöst wurde, die ich seit langer Zeit nicht mehr gehört hatte.

  »Hallo, Ryan …«

  Ivy

  Das Geräusch einer zuschlagenden Tür weckte mich. Seltsam. Normalerweise schlief ich wie ein Stein. Mein Vater zog mich gerne damit auf, dass um mich herum die Welt untergehen könnte – und ich würde einfach weiterschlafen. Allerdings hatte ich auch nicht sonderlich gut geschlafen, da ich ungemütlich verrenkt eingeschlafen war. Der Laptop, auf dem immer noch eine Folge Supernatural lief, tauchte den Raum in blaues Licht.

  Desorientiert blinzelte ich die Decke über mir an. Sie kam mir nicht bekannt vor. Genauso wenig wie der Rest des Zimmers. Wo zum Teufel war i… oh, im Wohnheim. Gähnend rieb ich mir die Augen. Nachdem ich den Laptop zugeklappt und auf dem Boden abgestellt hatte, versuchte ich, wieder einzuschlafen. Vergeblich. Denn je länger ich auf der ungewohnten Matratze lag, desto stickiger kam es mir in dem Zimmer vor. Es roch immer noch nach Essen und das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, wurde immer stärker.

  Seufzend stand ich auf, holte eine Flasche Gatorade hervor und tapste mit nackten Füßen zum Fenster. Während ich trank, blickte ich nach draußen. Die Aussicht aus dem Wohnheim war so anders als die aus der Strandvilla, in der ich aufgewachsen war. Daher dauerte es auch eine Weile, bis ich mich orientiert hatte. Als ich auf den dunklen Rasen blickte, sah ich zu meiner Verwunderung eine Gestalt mitten auf der Grünfläche sitzen und in den Himmel starren. Schräg. Wer saß denn mitten in der Nacht draußen? Noch dazu ohne T-Shirt? Erst als mein Blick auf die vom Mondlicht beleuchteten Tattoos fiel, wurde mir klar, wer da unten saß. Ryan. Meine Brust zog sich zusammen. Gebannt starrte ich ihn an, während ich unbewusst seine Umrisse auf der Scheibe nachfuhr. Das Ganze hatte beinahe etwas Unwirkliches an sich.

  Doch je länger ich ihn beobachtete, desto mehr hatte ich das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Ryans Haltung wirkte unnatürlich steif, irgendwie verkrampft. Und auch sein Gesichtsausdruck war angespannt. Mein Atem beschlug das Fenster, als ich mich so weit vorlehnte, dass ich mir fast die Nase platt drückte. Was machte er denn da?

  Plötzlich sprang er ruckartig auf und lief unruhig auf und ab – wie ein Raubtier in einem Käfig. Vor Schreck ließ ich die Flasche Gatorade fallen, die ich zum Glück gerade ausgetrunken hatte. Sonst hätte ich jetzt auch noch eine schreckliche Sauerei aufwischen können.

  Gebannt und gleichzeitig verwirrt beobachtete ich Ryan dabei, wie er wütend gegen etwas trat, das wie eine Dose aussah. Das Blech rotierte und knallte gegen einen Baum. Wenig später prallte auch Ryans Schuh an dieselbe Stelle. Holy Moly – mein Bodyguard hatte nicht mehr alle Tassen im Schrank! So leise wie möglich kippte ich das Fenster und lauschte. Ryans wütende Stimme drang nur schwach zu mir herauf, trotzdem konnte ich ihn fluchen hören. Mein Bodyguard hatte offenbar auch keine Teller mehr im Schrank.

  »Dieser Idiot! Dieser verdammte, verschissene …«

  Als auch sein zweiter Schuh gegen den Baum prallte, konnte ich nur irritiert den Kopf schütteln. Vielleicht sollte ich lieber Harry anrufen, um einen neuen Bodyguard zu bestellen … Meiner war offensichtlich kaputt. Nicht dass es mich wunderte, aber … na ja.

  Ich beobachtete noch eine Weile, wie Ryan laut fluchend auf und ab lief, doch dann beschloss ich, wieder ins Bett zurückzugehen. Sollte mein Bodyguard doch machen, was er wollte.

  Schnell schlüpfte ich unter die Decke und zog sie mir bis zum Kinn hoch. Ich schloss die Augen und versuchte, wieder einzuschlafen. Doch plötzlich fing meine Nase an zu jucken. Ich kratzte sie und drehte mich auf die andere Seite. Aber jetzt kitzelte einer meiner Zehen. Ich drehte mich noch ein paarmal hin und her, doch egal wie sehr ich mich bemühte, ich konnte nicht einschlafen. Meine Gedanken wanderten immer wieder zu Ryan.

  Seufzend schlug ich die Augen auf und starrte an die Decke. Verdammt, so wurde das nichts. Solange Ryan da unten war, würde ich nicht schlafen können. Angespannt lag ich im Bett und versuchte herauszufinden, ob der Fleck dort oben eine Spinne oder doch nur ein großer Fleck war. Ich hoffte auf Letzteres. Die Spinnen in Florida konnten so groß wie eine Hand werden und ich hatte keine Lust, mir jetzt auch noch einen achtbeinigen Sparringskampf zu liefern.

  »Verdammt …«, brüllte Ryan. Der Rest des Satzes wurde vom Wind davongetragen.

  Verdammt was? Meine Neugier wurde immer größer. Aber als plötzlich eine Stille einkehrte, die schwerer auf meinen Ohren lastete als zuvor Ryans Gebrüll, wurde ich unruhig. Hatte er sich wieder beruhigt? Oder waren ihm die Sachen zum Werfen ausgegangen? Es blieb auch weiterhin ruhig und ich begann, mir ernsthaft Sorgen zu machen. Was war nur los mit ihm? Ein bitterer Geschmack legte sich auf meine Zunge. Ich atmete tief durch, schloss die Augen und versuchte, jeden Gedanken an Ryan zu verdrängen. Was auch immer ihn belastete, es ging mich nichts an. Er war nicht mein Problem, sondern ich seins.

  Doch der Schlaf wollte einfach nicht kommen. Meine Augen flogen auf, irrten durch den Raum und … Plötzlich bewegte sich der Fleck über mir. Mein Herz machte einen Satz, genauso wie der Rest von mir. Verfluchte Spinnen! So schnell ich konnte, sprang ich aus dem Bett und stolperte dabei über die Flasche, die ich am Boden hatte liegen lassen. Shrimp!

  Hektisch richtete ich mich wieder auf. Was sollte ich jetzt nur tun? Verzweifelt sah ich mich um. Mein Blick blieb an Ryan hängen, der immer noch draußen stand. Seine Schultern hingen herab und er sah irgendwie … verloren aus. Mein Magen zog sich zusammen. Vielleicht sollte ich doch zu ihm gehen? Vielleicht brauchte er ja jemanden zum Reden? Und mit dem Gefühl, sich verloren zu fühlen, kannte ich mich schließlich aus. Denn mir ging es meistens nicht anders. Ich gab mir einen innerlichen Ruck, zog mir schnell noch ein anderes T-Shirt über, das ich auf den Schreibtischstuhl geworfen hatte, und ging aus dem Zimmer.

  Während ich durch den dunklen Flur hastete, versuchte ich mir einzureden, dass ich hauptsächlich wegen der Spinne flüchtete. Ryan war offiziell durchgeknallt, weshalb ich mich in Zukunft von ihm fernhalten würde – genauso wie von meinem Zimmer und der Spinne, die dieses besetzte. Trotzdem würde ich kurz nachsehen, ob es Ryan gut ging, und ihn danach fragen, ob wir die Zimmer tauschen könnten. Ich war schon halb die Treppe runter, als endlich der Bewegungsmelder anging und das Treppenhaus in grelles Licht tauchte. Ein wenig desorientiert lief ich weiter. Ein Wunder, dass ich mir im Dunkeln nicht den Hals gebrochen hatte. Unten angekommen, öffnete ich schnell die Tür nach draußen.

  Sofort schlug mir die schwüle Nachtluft entgegen, Grillen zirpten. Irgendwo in der Ferne hörte man die dumpfen Töne einer Party, die wahrscheinlich in einer der Verbindungen gefeiert wurde. Vorsichti
g, um mir nicht aus Versehen den Zeh an einem der Wassersprinkler zu stoßen, lief ich zu dem Rasenstück unter meinem Fenster.

  Als ich Ryan entdeckte, blieb ich zögernd stehen. Er hatte sich zwar wieder ins Gras gesetzt, aber seine Hände waren immer noch zu Fäusten geballt. Er bebte und schnaubte wie ein Pferd, das gerade einen Spurt zurückgelegt hatte … Vielleicht war die Spinne doch die bessere Gesellschaft. Zumindest hatte ich nicht bedacht, wie Ryan reagieren würde, wenn ich einfach so auftauchte.

  Nervös verlagerte ich mein Gewicht von einem Bein aufs andere, als plötzlich etwas unter meinem Fuß knackte. Ryans Kopf fuhr ruckartig zu mir herum. Scheiße! Jetzt war es zu spät für einen Rückzug. Seine Augen brauchten nur wenige Sekunden, um mich zu fixieren. Wie ein Wolf, der seine Beute anvisierte. Ich zuckte zurück.

  »Was machst du hier?«, fragte er mich kalt.

  Ich schluckte und hob unschuldig die Hände. »Ähm, gar nichts. Nur … nur fragen, ob du Hilfe beim Schuhewerfen brauchst«, sagte ich lahm.

  Ryan schnaubte. »Du solltest schlafen, Ivy.«

  »Du auch«, gab ich zurück.

  »Ich bin älter als du, also darf ich auch länger aufbleiben«, konterte er ausdruckslos.

  Genervt verdrehte ich die Augen. Ich spürte, wie wieder die Gereiztheit von heute Abend in mir hochschwappte. »Ach, ich bitte dich, du bist höchstens ein Jahr älter als ich.« Wütend starrten wir uns an. Ich weigerte mich, seinem Blick auszuweichen.

  Es war Ryan, der sich als Erstes abwandte. »Bitte geh wieder rein«, sagte er leise. Harte Schatten durchschnitten sein Gesicht und ließen es älter wirken.

  »Ich kann nicht«, flüsterte ich.

  »Warum nicht?«

  Ich zögerte, trat nervös von einem Bein aufs andere. »Da ist eine Spinne in meinem Zimmer«, sagte ich schließlich und hielt die Luft an.

 

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