Kiss Me Once

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Kiss Me Once Page 10

by Stella Tack


  Seine Mundwinkel zuckten kurz, doch ansonsten blieb er genauso ausdruckslos wie zuvor. »Das ist bestimmt nur ein Fleck«, meinte er schließlich.

  Ich verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte den Kopf. Meine nackten Zehen krümmten sich auf dem kühlen Gras. »Der Fleck hat sich bewegt«, sagte ich.

  Ryan seufzte. Seine Schultern sackten plötzlich nach unten, fast so, als hätte ihm jemand sämtliche Fäden durchgeschnitten. Vielleicht sollte ich doch einfach wieder gehen? Ryan sah nicht aus, als würde er sich in naher Zukunft bewegen. Aber der Schein konnte auch trügen … und ich wollte nicht riskieren, dass bei seinem nächsten Ausbruch nicht ein Schuh, sondern ich durch die Luft flog.

  Als jedoch auch nach einer gefühlten Ewigkeit kein neuer Ausbruch kam, setzte ich mich zögernd neben ihn ins Gras. Vorsichtig stupste ich ihn mit der Schulter an. »Hey.«

  Ryan sagte nichts darauf. Aber immerhin warf er mich nicht gegen den Baum. Das war schon mal ein gutes Zeichen. Unsere Arme berührten sich leicht.

  Das Gras pikte ziemlich ungemütlich in die nackte Haut meiner Schenkel und etwas kitzelte mich. Ich wollte gar nicht so genau wissen, was es war. Geschweige denn, wie viele Beine es hatte. Das wollte man in Florida im Allgemeinen nicht unbedingt wissen.

  Ryan rührte sich immer noch nicht. Weder schickte er mich weg, noch gab er ein Zeichen, dass er mich gerne bei sich hatte. Ich spürte, wie der Wind sanft über meine nackten Füße strich. Das Rauschen der Blätter erinnerte mich ein bisschen an die Wellen, die unermüdlich an den Strand schlugen – und denen ich mein Leben lang gelauscht hatte. Irgendwo war ein dumpfer Knall zu hören, gefolgt von Gelächter. Ryan seufzte schwer und fuhr sich müde über die Augen.

  »Schwerer Tag?«, fragte ich und tat so, als wäre meiner besser gewesen.

  Er schnaubte leise. »Ja, so in der Art. Tut mir leid.«

  Ich lächelte. »Ich glaube, wenn, dann musst du dich bei dem armen Baum entschuldigen. Dein rechter Schuh hängt in seinen Ästen.«

  Er warf mir einen genervten Blick zu, doch dann seufzte er wieder. »Nein, wirklich, Ivy. Es tut mir leid wegen heute. Ich hätte dich nicht küssen sollen. Das war … dumm von mir.«

  »Schon gut«, flüsterte ich und spielte mit einem hohen Grashalm. »Dir geht’s aber nicht wegen mir schlecht, oder?« Ich zögerte. »Du musst keine Angst haben. Ich werde meinem Vater nichts davon erzählen«, sagte ich leise. Schon im gleichen Augenblick bereute ich es, überhaupt den Mund aufgemacht zu haben, denn Ryans Gesicht nahm einen abweisenden Ausdruck an, während er ein Stück von mir abrückte. Sofort wurde mir klar, warum. »Wer sagt, dass es mir schlecht geht?«

  »Keine Ahnung. Weibliche Intuition? Die Schuhe, die du gegen den Baum geworfen hast? Dein Gebrüll?« Zumindest das brachte ihn wieder zum Lächeln.

  »Und was sagt dir deine weibliche Intuition noch so alles?«

  »Mhm…«, ich tat, als würde ich angestrengt nachdenken, »dass du eine Dusche brauchst. Du müffelst.«

  Er lachte erstickt. »Sorry.«

  »Kein Ding.«

  Vielleicht war es gar nicht so schlecht, Ryan an meiner Seite zu haben. Vielleicht konnten wir wirklich so etwas wie Freunde werden.

  Zumindest dann, wenn mir mein Herz keinen Strich durch die Rechnung machte. Denn das dachte an etwas ganz anderes als an eine platonische Freundschaft.

  »Kann ich irgendetwas für dich tun?«, brach ich das Schweigen, das wieder zwischen uns entstanden war.

  Ryan sah mich verwirrt an. »Eigentlich ist es mein Job, für dich zu sorgen, nicht andersherum.«

  »Wir sitzen doch im gleichen Boot, oder? Also ist es nur fair, wenn ich auch ab und zu auf dich achtgebe«, versicherte ich ihm ernst.

  Ryan legte den Kopf schief und beobachtete mich nachdenklich. Dabei fiel ihm eine schwarze Haarsträhne ins Gesicht und es juckte mich in den Fingerspitzen, sie wegzustreichen. »Du bist so anders, Ivy.«

  »Wie meinst du das?«

  »Ich meine …« Er rang verzweifelt die Hände. »Warum bist du kein verwöhntes Rich Kid?«

  »Sollte ich denn eins sein?«, fragte ich verwirrt.

  »Ja«, rief Ryan aus und schien selbst überrascht von der Heftigkeit, mit der er das Wort ausgestoßen hatte. Er räusperte sich und verschränkte die Hände in seinem Nacken. »Ich meine: Warum bist du so nett? Du kennst mich nicht. Du wolltest mich nicht mal. Und trotzdem sitzt du mitten in der Nacht hier und leistest mir Gesellschaft, ohne zu wissen, warum.«

  »Mhm…« Seufzend stützte ich das Kinn auf meinen angezogenen Knien ab. »Es ist nicht so, dass ich was gegen dich persönlich habe, Ryan. Sonst hätte ich dich nicht …« Ich war froh, dass es so dunkel war, und er meine roten Wangen nicht sehen konnte. Verlegen biss ich mir auf die Unterlippe. »Ich will nur nicht ständig eingesperrt sein. Das war ich schon viel zu lange. Einsam und immer gelangweilt. Und das hat mich zu einem Menschen gemacht, auf den ich nicht sehr stolz bin. Oder zumindest hat es mich Dinge tun lassen, auf die ich nicht sehr stolz bin.« Ich seufzte. »Da wo ich herkomme, ist es schwer, man selbst zu sein, und ich schulde es jemandem … nein, eigentlich schulde ich es mir selbst, herauszufinden, wer ich wirklich bin.«

  »Und darum bist du hier?«

  »Hier bei dir oder hier an der UCF?«, fragte ich.

  Er zögerte. »An der UCF?«

  »Ja.« Ich lächelte traurig. »Darum bin ich hier.«

  Unsere Blicke trafen sich. Der Mond brachte seine grünen Augen zum Leuchten und warf tiefe Schatten auf sein Gesicht. Der Wind fuhr ihm durchs Haar und ließ es sanft tanzen. Schweigend blieben wir so lange sitzen, bis meine Füße einschliefen und mir die Augen fast zufielen.

  Als ich gerade dabei war, an seiner Schulter einzuschlafen, stand er plötzlich auf, sodass ich zur Seite kippte. Genervt funkelte ich ihn an. Ryan klopfte sich ungerührt das Gras von der Jeans. Aber immerhin hielt er mir die Hand hin und half mir hoch.

  Immer noch schweigend brachte er mich zurück in mein Zimmer. Er erzählte mir nicht, was ihn so aus der Fassung gebracht hatte. Und ich fragte auch nicht mehr nach. Aber zumindest warf er die Spinne hinaus. Danach konnte ich dann auch endlich wieder in Ruhe schlafen. Allerdings träumte ich von fluchenden Bäumen und wütenden Schuhen.

  Ivy

  Ich wachte von einem unglaublichen Lärm auf. Es dauerte ein paar Sekunden, bis ich begriff, wo ich war und wo dieser Krach herkam. Ächzend setzte ich mich auf, blinzelte ein paarmal gegen die Helligkeit und lauschte Dutzenden Füßen, die laut durch den Flur trampelten. Es dauerte weitere drei Sekunden, bis ich den vielen Füßen neue Studenten zuordnen konnte, die – so wie es gerade klang – Türen öffneten, wieder zuschlugen und Kartons über den Flur schleiften. Stimmen riefen kreuz und quer durcheinander und irgendein Mädchen lachte unglaublich schrill. Der fremde Geruch des Wohnheims stieg mir in die Nase und prompt begann mein Herz schneller zu schlagen. Ich war wirklich hier. Ich würde die nächsten Semester in diesem Wohnheim leben. Und ich würde Dutzende Menschen kennenlernen und im nächsten Jahr mit ihnen zusammenwohnen.

  Der Gedanke machte mich gleichermaßen unglaublich glücklich wie auch schrecklich nervös. Holy Moly! Ich würde Menschen kennenlernen. Ganz normale Studenten, die keine Ahnung hatten, wer ich war oder wie viel Geld mein Vater verdiente. Ich musste keine Unterhaltungen über Zinssätze, Aktien und Kalkulationen führen. Kein Interesse an Golf heucheln oder so tun, als würde mir Foie gras schmecken. Denn hier gab es keine Foie gras, sondern … überfordert blieb ich an dem Gedanken hängen. Was gab es hier? Zumindest keine Angestellten, die mir Diätmüsli und frisch gepressten Orangensaft vor die Nase stellten. Ich würde nie wieder dieses schreckliche Zeug essen müssen, das nach Sägespänen schmeckte. Meine Mutter schwor darauf, weil es satt und gleichzeitig dünn wie ein Besenstiel machte. Aber eben auch genauso schmeckte. Ich hatte es gehasst. Jeden Morgen hatte ich allein an der Kücheninsel gesessen, hatte der Haushälterin beim Bügeln zugesehen und mühsam versucht, das Zeug runterzuschlucken. Aber jetzt, jetzt könnte ich essen, was auch immer ich wol
lte. Völlig unabhängig von der Kalorienzahl. Die mögliche Auswahl, die mir dabei durch den Kopf schoss, war so überwältigend, dass ich mich zurück ins Bett fallen ließ und an die Decke starrte. Konnte man Gummibärchen frühstücken? Oder Twinkies? Bestimmt war das möglich, ich musste es nur tun. Und als Allererstes würde ich einen Kaffee trinken.

  Die Vorstellung machte mich so glücklich, dass ich schwungvoll aus dem Bett sprang, mir Duschgel und Handtuch schnappte und ins Bad huschte. Obwohl ich vorher noch laute Schritte gehört hatte, begegnete mir jetzt niemand. Auch im Gemeinschaftsbad war es leer, sodass ich mich ungestört fertig machen konnte. Sobald ich nicht mehr das Gefühl hatte, eine Geruchsbelästigung zu sein, wickelte ich mich in mein Handtuch und schnitt mir selbst im Spiegel eine Grimasse. Nachdem ich mir die Zähne geputzt hatte, tapste ich wieder zurück in mein Zimmer, wo ich entschlossen meinen Schrank durchwühlte, in den ich gestern noch alles fein säuberlich eingeräumt hatte. Was sollte ich anziehen? Nein! Was wollte ich anziehen? Wie auch bei der Essensfrage überforderte mich die Entscheidungsfreiheit ein bisschen. Insbesondere, als mir langsam klar wurde, dass ich wirklich von zu Hause ausgezogen war. Heute konnte ich essen, was ich wollte, anziehen, was mir gefiel. Und vor allem, ich konnte endlich die Person sein, die ich immer hatte sein wollen. Nur, was wollte ich? Wer wollte ich sein?

  Als ich Miami verlassen hatte, hatte ich es noch gewusst. Ich hatte ein Ziel vor Augen gehabt. Eine genaue Vorstellung von meiner Zukunft an der UCF. Doch jetzt saß ich hier und hatte schlagartig keine Ahnung mehr, wie ich anfangen sollte, ich selbst zu sein. Und vor allem, wo fing ich an und wo hörte ich wieder auf?

  Völlig überfordert starrte ich auf das schwarze Shirt in meiner Hand hinab. Der Stoff war schlicht und nichtssagend. Genau wie ich selbst in den letzten Jahren. Der Ausschnitt rund und edel, nicht zu auffällig. Warum hatte ich das überhaupt eingekauft? Nein, kein Schwarz heute! Ich brauchte Farbe. Schließlich fand ich einen Jeansrock mit hohem Bund und ein grünes Top, das zum Teil aus Spitze bestand. Beim Kaufen hatte ich es sehr hübsch gefunden. Meine Mutter hätte es eher als nuttig bezeichnet. Aber für den ersten Tag meines neuen Lebens war es perfekt. Schnell schlüpfte ich in die Klamotten, warf die Haare nach vorn und band mir die langen Strähnen zu einem hohen, unordentlichen Knoten zusammen.

  Kurz überlegte ich, noch Make-up aufzulegen, doch sofort meldete sich ein bitter schmeckender Widerwille gegen diese Routine. Der Griff zur Make-up-Tube war so gewohnt, dass meine Finger irritiert zuckten, als ich mich dagegen entschied. Es hatte Tage gegeben, da waren so viele Schichten Concealer auf mein Gesicht gespachtelt gewesen – Schichten, die meine Wangenknochen höher, meine Nase schmaler, meine Lippen voller und meine Augen größer wirken lassen sollten –, dass ich jedes Gefühl in den Gesichtsmuskeln verloren hatte. Wie eine Porzellanpuppe. Perfekt. Schön. Gefühllos. Das hatte mir ein bisschen Angst gemacht. Und das tat es immer noch. Einen Moment lang drohte mich die Furcht, nicht gut genug auszusehen, zu überwältigen, doch mein Wunsch, endlich keine Maske mehr tragen zu müssen, gewann schließlich doch die Oberhand. Plötzlich unterbrach ein leises Klopfen an der Tür meine Gedanken.

  »Ja?«, sagte ich verdutzt.

  Die Tür schwang auf und Libby aus der Verwaltung strahlte mich an. »Ivy, Liebes! Bist du endlich wach?«, fragte sie gut gelaunt. Als sie meinen überraschten Gesichtsausdruck sah, lachte sie. »Es ist Mittag«, fügte sie hinzu. »Ryan ist schon seit acht Uhr auf den Beinen. Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.«

  »Oh, Entschuldigung.« Verlegen lächelte ich sie an. »Ich bin eine Langschläferin.«

  »Ach so?« Libby sah mich verwundert an. Sie wirkte ein bisschen so, als gäbe es so etwas wie Langschläfer nicht in ihrer rosaroten Frühaufsteherwelt. »Na, wie auch immer. Ich wollte eigentlich nur fragen, ob du dich gestern noch gut eingerichtet hast.« Die Frage war zwar nett gemeint, aber mir war sofort klar, dass sie nur ihren Kontrollgang machte, um später alles meinem Vater erzählen zu können.

  »Danke. Es geht mir gut. Ich wollte etwas frühstücken gehen und mich danach mit ein paar der anderen Studenten bekannt machen.« Ich bemühte mich um einen lockeren Ton, da ich wusste, dass sie jedes Wort eins zu eins an meine Eltern weitergeben würde.

  Sie nickte zufrieden. »Das klingt nach einem guten Plan. Es gibt eine gute Smoothie-Bar am Campus, die auch leckere Sandwiches anbietet. Du solltest mit Ryan hingehen.« Ein seltsamer Ausdruck trat in ihre Augen. »Der junge Mann ist unten. Er scheint mir ein wenig zu viel Energie zu haben. Ist gut, wenn er die loswird.« Das klang beinahe, als sollte ich mit ihm Gassi gehen.

  »Okay.« Ich pflasterte ein nichtssagendes Lächeln auf meine Lippen. »Mach ich. Danke, Libby!«

  »Ach, nicht doch.« Wieder strahlte sie mich an. »Melde dich einfach, wenn du etwas brauchst.«

  Ich nickte und sie schloss sichtlich zufrieden mit sich selbst die Tür. Seufzend sah ich auf mein Handy und überlegte kurz, ob ich Libby die Arbeit abnehmen und einfach selbst meine Eltern anrufen sollte. Doch alles in mir sträubte sich gegen diesen Gedanken. Der Widerwille war so übermächtig, dass ich das Handy in meine Handtasche warf, in die Flipflops schlüpfte und zur Tür hinausging.

  Nur keine falsche Scheu zeigen! Ich würde das schon schaffen. Mich mit ein paar Leuten zu unterhalten, konnte ja nicht so schwer sein. Ryan zu finden auch nicht, ich musste nur den schlechten Scherzen folgen. Und danach würde ich frühstücken … oder eher zu Mittag essen. Mir den restlichen Campus ansehen und danach … danach … keine Ahnung. Aber irgendetwas würde mir schon einfallen.

  Ich holte mir eine Flasche Wasser aus dem Automaten in der Mitte des Flurs und schraubte den Verschluss auf. Gerade als ich einen Schluck trinken wollte, öffnete sich die Tür schräg gegenüber und ein Mädchen kam heraus. Ihre hellbraunen Haare fielen ihr locker um die Schultern. Als sie mich bemerkte, schenkte sie mir ein freundliches Lächeln.

  »Morgen!«, begrüßte sie mich.

  Ich grinste und wollte antworten, verschluckte mich aber prompt an meinem Wasser. Hustend beugte ich mich vornüber und röchelte. Als ich wieder aufsah, war das Mädchen schon im Treppenhaus verschwunden. Na toll! Ade, potenzielle neue beste Freundin. Da hieß es noch, Frauen wären multitaskingfähig, aber offensichtlich überforderte es meinen Horizont, Wasser zu trinken und gleichzeitig Kontakte zu knüpfen. Seufzend schraubte ich den Deckel wieder auf die Flasche, verstaute sie in meiner Tasche und klopfte an Ryans Tür. Libby hatte zwar behauptet, er wäre unten, aber ich wollte nicht erst runtergehen, nur um danach festzustellen, dass er doch in seinem Zimmer war. Aber als nach ein paar Augenblicken kein verschlafenes Knurren kam und auch sonst nichts gegen die Tür knallte, ging ich davon aus, dass er entweder im Schlaf erstickt war oder sich wirklich unten befand.

  Mit frischem Tatendrang machte ich mich auf den Weg. Im Treppenhaus wich ich einem Studenten aus, der gerade Kartons hochschleppte. Ich lächelte ihn an, bekam dafür aber nur ein angestrengtes Schnaufen als Antwort. Schnell schlüpfte ich an ihm vorbei. Nicht, dass ich noch eine Lavalampe gegen den Kopf geknallt bekam. Holy Moly! Ich wusste gar nicht, dass es solche Dinger noch gab.

  Gerade als ich mich im Eingangsbereich umschaute, hörte ich Ryans Lachen aus dem Gemeinschaftsraum. Bei dem rauen Klang verknotete sich prompt mein Magen und ich krümmte nervös die Zehen in den Flipflops. Wie würde Ryan auf mich reagieren? Vor allem nach unserem Aufeinandertreffen gestern Nacht? In meinem Kopf liefen alle möglichen Szenarien ab.

  Erstens: Er sah mich genervt an und warf mir einen Schuh an den Kopf.

  Zweitens: Er sagte »Guten Morgen« und ignorierte mich ansonsten.

  Drittens: Er freute sich, küsste mich und gestand mir seine ewig währende Liebe.

  Oh Gott! Entschlossen schüttelte ich den Kopf, gab mir selbst einen Ruck und folgte Ryans Stimme. Er saß auf dem Sofa und unterhielt sich mit zwei Mädchen. Bei der Erinnerung, was wir beide gestern auf genau diesem Sofa gemacht hatten, blieb ich ruckartig stehen. Eine Bewegung, die die Aufmerksamkeit der Mädchen auf mich lenkte. Irritiert sahen sie auf. Beide wirkten,
als kämen sie frisch aus dem Barbiekarton: knappe Kleidchen, falsche Haare und ein fast genauso falsches Lächeln. Sie starrten mich so lange an, bis Ryan endlich auffiel, dass er keine Zuhörerinnen mehr hatte, und den Kopf nach hinten drehte. Seine Haare streiften dabei die Sofalehne und die Tattoos auf seinem Nacken bewegten sich geschmeidig. Unsere Blicke trafen sich. Das Grün seiner Augen schien sich zu intensivieren und ich glaubte, ein Lächeln über seine Lippen huschen zu sehen.

  »Oh, du bist es nur«, sagte er schließlich.

  Das Lächeln war verschwunden. Wahrscheinlich war es ohnehin nur ein Produkt meiner Fantasie. Die beiden Mädchen kicherten. Sie kicherten! Für einen Augenblick war ich sprachlos. Was ging denn hier ab?

  »Und dann?«, fragte das Mädchen und setzte einfach das Gespräch fort, als wäre ich gar nicht anwesend. Ryan wandte sich wieder an die Mädchen. Da er halb von der Sofalehne verdeckt wurde, konnte ich seinen Gesichtsausdruck nicht genau sehen, aber ich bildete mir ein, dass er sie frech angrinste. Fassungslos beobachtete ich, wie er die Hand hob und ihr spielerisch über den Arm strich.

  »Dann musste mir der Magen ausgepumpt werden und ich konnte drei Jahre lang keine Marshmallows mehr sehen, ohne würgen zu müssen«, sagte er und alle drei brachen in Gelächter aus. Das Mädchen rechts von Ryan hatte ein so penetrantes Lachen, dass sich mir sämtliche Nackenhaare aufstellten. Ein schaler Geschmack, der mich an sauren Kaffee erinnerte, breitete sich in meinem Mund aus.

  Unruhig sah ich mich um, versuchte jemanden zu finden, mit dem ich mich ebenfalls unterhalten konnte. Doch alle schienen entweder mit dem Einziehen beschäftigt zu sein oder waren bereits in einer Gruppe unterwegs. Ich kannte bisher nur Ryan und hatte den Tag eigentlich mit ihm verbringen wollen, doch plötzlich fühlte ich mich wie ein lästiges Anhängsel. Ryan redete einfach weiter mit den Mädchen, ohne mich auch nur im Entferntesten zu beachten oder mir gar anzubieten, mich dazuzusetzen. Alle drei ignorierten mich und mit jeder Sekunde, die ich nur dastand und mich hilflos umsah, wuchs der Kloß in meinem Hals.

 

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