Kiss Me Once
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Draußen stießen wir auf Jeff, der gerade dabei war, den Kunstsaal abzuschließen. Als er uns bemerkte, grinste er und es war ihm an der Nasenspitze anzusehen, was er dachte.
»Hey, Jeff. Die Stunde war wohl ein voller Erfolg, was?«, begann Ryan das Gespräch, bevor es zu einer unangenehmen Stille kommen konnte. Er wirkte vollkommen ruhig, als wäre nichts zwischen uns passiert.
»Ja, dank dir.« Jeff lächelte schief. Sein Blick huschte zu mir und ich sah die stumme Frage darin. Jap, ich würde viel erklären müssen.
»Begleitest du uns in die Cafeteria?«, fragte Ryan.
Jeff sah aus, als wollte er am liebsten ablehnen, doch als er meinen flehenden Blick auffing, seufzte er nur und folgte uns aus dem Gebäude.
Die Mensa befand sich praktischerweise genau gegenüber. Der Speisesaal war, ähnlich wie das Kunstgebäude, mit hohen Fenstern und reinweißen Wänden eines der moderneren Gebäude am Campus. Neugierig sah ich mich um und musterte die anderen Studenten, die es sich mit ihrem Essen auf weißen Bänken bequem machten und dabei vergnügt redeten und lachten. Ich nahm mir ein leeres Tablett und stellte mich an. Das Ganze war so … normal, dass sich meine Stimmung sofort hob. Jeff hingegen wirkte nicht ganz so gut gelaunt, während er mir mit einem Tablett in der Hand folgte.
»Was gibt es heute?«, fragte ich ihn.
Jeff sah mich wenig begeistert an. »Kantinenlasagne – mit Nudeln.«
»Ziemlich geschmacklos«, ergänzte Ryan, als er meinen ratlosen Blick sah.
»Woher willst du das wissen?«, fragte ich.
Er grinste. »Hab ich schon gegessen, als du mich damals aus dem Biokurs geworfen hast.«
Ich verengte die Augen zu Schlitzen. »Mit Courtney?«
»Ja.« Er seufzte gequält. »Glaub mir, ich bereue es zutiefst. Das Essen war genauso langweilig wie sie.«
Toll!
Nachdem jeder von uns sein Essen bezahlt hatte, suchten wir uns einen Tisch. Ryan rückte mir einen Stuhl zurecht und machte übertrieben einen Diener.
»Danke, James«, säuselte ich hoheitsvoll und im breiten englischen Akzent, während ich mich setzte.
Jeff kicherte. »Was für ein Service.«
»Immer gerne doch, die Herrschaften, soll ich auch noch den roten Teppich auslegen?«, näselte Ryan im gleichen schlechten Britisch zurück.
»Nein, heute den goldenen, James, der rote ist in der Reinigung«, gab ich zurück, als ich plötzlich etwas klicken hörte. Wäre ich nicht so darauf trainiert gewesen, dieses Geräusch selbst aus der lautesten Menschenmasse herauszuhören, wäre es mir nicht mal aufgefallen. Doch das leise Klick ließ mich ruckartig aufsehen. Mein Blick huschte quer durch den Raum und da sah ich ihn. Austin. Der Journalismus-Student senkte gerade eine Kamera und versteckte sie blitzschnell in seiner Tasche.
»Ryan!« Abrupt griff ich nach Ryans Ärmel.
Er erkannte sofort, dass etwas nicht stimmte. »Was ist los?« Seine gesamte Haltung änderte sich, seine Muskeln waren angespannt, während er sich aufrichtete und sich aufmerksam in der Mensa umsah. Jeff musterte uns verwirrt.
»Erinnerst du dich an den Typen aus dem Dollar Tree?«, flüsterte ich und deutete zu Austin hinüber. »Ich glaube, er hat uns fotografiert.«
Ryan wandte schnell den Kopf in Austins Richtung.
»Ich glaube, du hast recht«, wisperte ich. »An dem Typen stimmt etwas nicht.«
Ryan sah mich ernst an. »Was hat er gemacht?«
»Er hat mich heute vor der Kunst-AG angerempelt und meine Tasche ist aufgegangen. Aber ich glaube, er wollte so nur an meinen Studentenausweis gelangen. Dort steht zwar mein falscher Name, aber was, wenn er irgendwas vermutet? Und gerade eben stand er dort drüben und hatte eine Kamera in der Hand.«
Ryans Nackenmuskeln spannten sich an. »Ich kümmere mich drum«, knurrte er und drehte sich so schwungvoll herum, dass Jeff zusammenzuckte. Ryan sah aus, als würde er ihn gleich angreifen. »Jeff. Ich muss noch was erledigen. Könntest du auf Ivy aufpassen, solange ich weg bin? Wir treffen uns dann bei euch zum Filmabend, okay? Ihr könnt auch meine Lasagne essen …«
»Ich … ähm …«, stotterte Jeff. Er warf mir kurz einen verwirrten Blick zu, bevor er sich wieder an Ryan wandte. »Ähm, klar. Kein Problem.«
»Danke. Du bist der Beste!« Ryan schlug ihm kollegial auf die Schulter und war schon im nächsten Augenblick im Mensagetümmel verschwunden.
»Alles in Ordnung, Ivy?«, fragte Jeff leise. Seine Stimme klang besorgt. Aber es schwang auch noch etwas anderes mit, das ich nicht richtig deuten konnte.
»Klar …« Ich lächelte gezwungen. Vermutlich war es nicht besonders überzeugend. »Warum sollte es das nicht?«
Jeff presste die Lippen zusammen und funkelte mich wütend an. »Ich bin nicht dumm, Ivy. Irgendwas stimmt hier nicht.«
Prompt überkam mich ein schlechtes Gewissen, aber ich konnte ihm auch nicht die Wahrheit sagen. Oder doch? Würde er es verstehen? Ich biss mir auf die Unterlippe und zuckte hilflos mit den Schultern. »Kann ich es dir später erklären?«, fragte ich leise, um mir ein wenig mehr Zeit zu erkaufen.
Jeff war dabei, ein guter Freund zu werden, und Lügen waren kein guter Nährboden für eine angehende Freundschaft. Aber ich konnte es ihm nicht erzählen – zu viel stand auf dem Spiel, falls er seine Klappe nicht halten konnte. Was ich zwar nicht glaubte, aber leider konnte ich es auch nicht ausschließen. Dafür kannten wir uns noch nicht lange genug.
Jeff schien in meinem Blick zu sehen, dass ich nicht mit der Sprache herausrücken würde, und nickte resigniert. »In Ordnung«, sagte er ernst. Er sah mich noch einen Moment unentschlossen an, bevor er sich räusperte. »Äh, dann guten Appetit.«
Prompt begann mein Magen zu knurren. Die Lasagne war zwar mit Nudeln und nicht mit Blättern gemacht, aber sie roch erstaunlich gut.
»Itadakimasu!«, rief ich glücklich, klatschte in die Hände und verbeugte mich vor Jeff, der mich verblüfft anglotzte.
»Was?«, stammelte er.
Ich kicherte und begann die Pasta aufzuspießen. Wer auch immer dafür verantwortlich gewesen war, sie auszusieben, hatte in etwa zehn Minuten zu lange dafür gebraucht. Aber ich durfte mich nicht beschweren. Mein letzter Versuch, Nudeln zu kochen, hatte beinahe in einem Küchenbrand geendet.
»Das ist Japanisch und bedeutet so viel wie Lasst es euch schmecken«, erklärte ich und begann zu essen. Die Soße war ziemlich süß und schien hauptsächlich aus Ketchup zu bestehen. Lecker!
»Du kannst Japanisch?«, fragte Jeff, während er lustlos in seinem Essen herumstocherte.
Ich schluckte den Bissen hinunter. »Ein bisschen, nicht viel.«
»Woher?«
»Ah, meine Eltern waren oft in Japan, als ich noch klein war. Und einmal hatten wir auch ein japanisches Au-pair-Mädchen.« Ich biss mir auf die Zunge, doch es war ohnehin schon zu spät.
Jeff musterte mich stirnrunzelnd. »Du kommst aus einer ähnlichen Familie wie Alex, oder?«, fragte er schließlich.
»Was meinst du?«, fragte ich unschuldig und leckte meinen Löffel ab.
Er seufzte und begann seine Serviette in kleine Teile zu zerpflücken. »Alex meinte bereits am Anfang des Semesters, dass er glaubt, dich schon mal gesehen zu haben. Und ich war lange genug mit reichen Leuten zusammen, um zu erkennen, wenn jemand nicht zur unteren Mittelschicht gehört.«
»Und woran erkennst du das?«
Jeff schob sein Tablett weg und musterte mich eindringlich. »Bei dir ist es fast nicht zu sehen«, gab er leise zu. »Nur manchmal scheint deine Haltung nicht zu deiner fröhlichen, ungezwungenen Mimik zu passen.«
»Shrimp!«, fluchte ich und versuchte, mich lässiger hinzusetzen, doch wie von selbst richtete ich mich wieder gerade auf. »Mist, das ist gar nicht gut.« Seufzend legte ich mein Besteck zur Seite und guckte deprimiert auf mein Essen.
»Warum willst du nicht, dass andere wissen, dass du wohlhabend bist?«, fragte Jeff verwirrt.
Ich schenkte ihm ein zögerliches Lächeln. »Na ja, es ist weniger das Geld al
s mein Name, der damit verbunden ist. Könntest du das bitte für dich behalten, Jeff? Ich möchte hier gerne ein normales Leben haben. Ich selbst sein, ohne Geld, Namen und dem ganzen anderen Quatsch.«
»Quatsch?« Er sah mich ungläubig an und schnaubte. »Glaub mir, Ivy, wenn du zusehen musst, wie sich deine Eltern Tag für Tag halb zu Tode schuften, um eine Familie zu ernähren, würdest du das nicht Quatsch nennen.« Jeff klang plötzlich richtig beängstigend.
»So meinte ich das nicht«, flüsterte ich. »Es ist nur, dass meine Familie … schwierig ist. Mein Leben ist ziemlich kompliziert und ich möchte hier einfach nur Ivy sein … und nicht die Tochter meiner Eltern, verstehst du das?«
Jeff musterte mich nachdenklich. »Also bist du wie Alex«, stellte er trocken fest.
Ich seufzte. So in etwa. Nur noch vermögender. Aber das würde ich ihm nicht auf die Nase binden. »Bitte behalt es für dich«, bat ich ihn noch mal.
Er verzog das Gesicht, nickte jedoch. »Kein Problem, von mir erfährt niemand etwas«, versprach er und ich glaubte ihm. Jeff war ein freundlicher Mensch. Ich kannte ihn zwar noch nicht so lange, aber wenn ich an die Art und Weise dachte, wie Alex über Jeff sprach, dann wusste ich, dass er ein Mensch war, der das Herz am rechten Fleck sitzen hatte.
»Danke«, sagte ich leise.
Jeff räusperte sich. »Was ich nur nicht verstehe, ist Ryan. Er passt irgendwie nicht zu dir.«
»Wie meinst du das?«
Jeff schürzte die Lippen und schien zu überlegen, was er sagen sollte, während er mit den Fingern die abgerissenen Papierknöllchen zu einem Berg auftürmte. »Ryan hat einen ganz eigenartigen Blick. Ein bisschen wie ein Raubtier.« Ich wusste genau, was er meinte. Es war dieses Dunkle, diese fixierte Aufmerksamkeit, die nicht normal für einen knapp zwanzig Jahre jungen Menschen war.
»Außerdem verstehe ich eure Beziehung nicht«, fuhr Jeff fort. »Seid ihr zusammen? Nur befreundet? Freundschaft plus? Manchmal verhaltet ihr euch ungewöhnlich distanziert, und dann wiederum knutscht ihr vor allen rum. Das ist doch nicht normal …«
Wow. Jeff war wirklich aufmerksam.
»Du solltest Psychologie studieren«, sagte ich, ohne auf seine Fragen einzugehen.
Jeffs Mundwinkel hoben sich. »Ich werde mich als Vertrauenslehrer bewerben, wenn ich mit meinem Studium fertig bin. Sieh das hier einfach als Übung für mich. Also, was ist da los mit euch?«
»Nichts ist los.« Ich seufzte. »Aber Ryan hat ziemlich viel durcheinandergebracht.«
Jeff sah mich verwirrt an. »Das verstehe ich nicht.«
»Musst du auch nicht«, beschwichtigte ich ihn und wechselte schnell das Thema. »Erzählst du mir auch, was da zwischen dir und Alex läuft?«
Jeff zuckte zusammen. »Ich weiß nicht, was du meinst«, sagte er etwas zu schnell. Ein gehetzter Ausdruck trat in seine Augen und es war, als würden Emotionen in ihm hochkommen, die er mühsam zu unterdrücken versuchte.
»Mhm…«, sagte ich und lehnte mich zurück.
Unangenehmes Schweigen breitete sich zwischen uns aus, da wir beide offenbar nicht wussten, was wir jetzt sagen sollten.
»Bist du satt?«, erkundigte er sich schließlich.
»Nein«, gab ich zu, aber die Lasagne war inzwischen kalt und ungenießbar geworden. Und auch der Kuchen, den ich mir als Nachtisch genommen hatte, war so hart, dass man damit glatt jemanden erschlagen könnte.
»Ich auch nicht.« Seufzend stand er auf. »Komm, wir gehen in die Verbindung und bestellen uns etwas beim Chinesen. Dann freut sich auch Alex.«
»Na, solange sich Alex freut, ist ja alles gut«, zog ich ihn auf und bekam dafür prompt einen leichten Boxhieb auf den Arm verpasst.
Ryan
»Kennst du seinen Namen?«, fragte mein Vater.
»Nein, nicht wirklich«, gab ich zu und ließ meine Finger über die Tastatur des Computers in der Wohnheimverwaltung fliegen, während ich das Smartphone zwischen Ohr und Schulter eingeklemmt hatte.
Libby hatte nur unter Androhung höherer Gewalt zugestimmt und mir ihren Platz samt Studentenregister überlassen. Die höhere Gewalt war in diesem Fall Carl Redmond, der zwar nicht persönlich Vorstand der UCF war, diesen aber kannte. Ein Anruf von ihm hätte gereicht, um mir sämtliche Zugänge zu den Akten der Studenten zu gewähren. Doch dazu war es zum Glück nicht gekommen, denn Libby hatte schließlich doch nachgegeben.
Seit zwei Stunden durchsuchte ich jetzt schon die Dateien sämtlicher Journalismus-Studenten und kam auf eine Gesamtzahl von über dreitausend. Mit ein paar Klicks filterte ich alle weiblichen Studentinnen raus, durchsuchte die Auflistung sämtlicher Studenten aus dem letzten Semester und hatte schließlich nur noch zweihundertfünfzig zur Auswahl. Zweihundertfünfzig männliche Studenten, durch deren Dateien ich mich per Hand durchklicken musste, weil ich prinzipiell nur wusste, wie der Typ aussah. Was bedeutete, dass ich mir jedes Foto einzeln ansehen musste. Aber wenn ich ihn endlich gefunden hatte, würde ich seine Daten an Harry weitergeben, damit er sich darum kümmern konnte. Ob mit Bestechung, Verwarnung oder unter Androhung einer Exmatrikulation, lag jedoch ganz an der Kooperationsbereitschaft des Möchtegern-Paparazzi.
»Wie geht es ihr?«, erkundigte sich Harry, während ich mich durch die digitalen Akten klickte.
»Gut. Sie hält sich tapfer, du hast sie gut instruiert.«
»Das Mädel hat eben doch was zwischen den Ohren«, brummte Harry zufrieden über mein Lob. »Sie ist ein liebes Mädchen. Ihr kommt doch gut miteinander aus, oder?«
»Ja«, sagte ich und klickte einen John Bolder weg.
»Sehr schön.« Die Erleichterung in Harrys Stimme war deutlich zu hören. Genauso wie das unterdrückte Ächzen.
»Macht der Rücken wieder Probleme?«, fragte ich besorgt, während ich die nächste Studentenkartei aufrief.
»Immer wieder«, gab Harry zu. »Ist in letzter Zeit ein wenig stressig zu Hause.«
Er sagte nichts weiter dazu, aber das musste er auch nicht. Ich wusste auch so, was los war. Trotzdem war ich froh, dass mein Vater ihn nicht erwähnte. Und ich traute mich auch nicht, nachzufragen. Zumindest nicht, solange diese Sache hier meine volle Konzentration erforderte. Ich musste Ivy beschützen. Und wenn dieser Möchtegern-Paparazzi meinte, sich mit der Familie Redmond anlegen zu müssen, war er selbst schuld, wenn er am Ende wie eine Kakerlake zerschlagen werden würde.
»Geht es den Zwillingen gut?«, fragte ich, um ein unverfängliches Gespräch am Laufen zu halten. Solange ich diesen Typen nicht hatte, würde Harry nicht auflegen, und ich selbst konnte erst wieder aufatmen, wenn ich wusste, dass sich mein Vater um diese Angelegenheit kümmerte.
Harry schnaubte und ich musste unweigerlich grinsen, weil ich ihn förmlich vor mir sah, wie er sich frustriert die Glatze rubbelte. »Die zwei sind richtige Satansbraten. Sie wurden von der Schule suspendiert. Drei Tage lang. Deine Mutter hatte beinahe einen Anfall, als der Anruf kam.«
»Was haben sie denn angestellt?«, fragte ich lachend.
»Was weiß ich«, brummte Harry. »Die zwei sind viel zu schlau. Sie meinten, sie hätten versucht, Milchsäure herzustellen. Jetzt stinkt wohl die ganze Schule nach Kotze.«
Ich lachte lauter. Die Zwillinge stellten immer irgendeinen Unfug an und trieben uns damit in den Wahnsinn. An ihrem sechsten Geburtstag hatten sie einen Chemiekasten für Kinder geschenkt bekommen – und das war der Anfang vom Ende gewesen. Seitdem waren sie nicht mehr zu stoppen. Und es war nur noch eine Frage der Zeit gewesen, bis sie zu weit gingen.
»Knuddel die beiden für mich«, bat ich.
Harry brummte nur zustimmend. Wir wussten beide, dass er es nicht tun würde, aber zumindest konnte ich mich dann verteidigen, wenn sich die Zwillinge wieder mal beschwerten, weil ich mich nie meldete. Dabei lag es gar nicht daran, dass ich zu faul war, um sie anzurufen, aber ein Gespräch mit den Zwillingen war in etwa so entspannend, wie mit einem Eichhörnchen auf Speed zu reden. Vor allem mit Josh war es ein Ding der Unmöglichkeit, eine normale Unterhaltung zu führen.
»Und wie geht es d
ir mit dem Studium?«, unterbrach Harry meine Gedanken.
Ich verdrehte die Augen. Nicht dass ich mit dieser Frage nicht gerechnet hätte, aber trotzdem … »Ich studiere nicht, Dad, ich arbeite.«
»Ja, aber du sitzt doch jeden Tag in der Vorlesung, oder nicht? Wie gefällt es dir da?«
»Bisher war es ganz in Ordnung«, gab ich zu und klickte mich weiter durch die Dateien. Noch fünfzig Studenten. Langsam sollte der Typ mal auftauchen. Außer er hatte gelogen und war gar kein Student an der UCF. Das würde die gesamte Sache natürlich um einiges verkomplizieren.
»Und?«, bohrte Harry nach.
Ich seufzte. Harry war manchmal wie ein Pitbull. »Nichts und. Das hatten wir alles schon, Dad. Studieren ist nicht mein Ding. Ich mag meine Arbeit und ich will auch weiterhin … warte, ich glaube, ich habe ihn!« Triumphierend starrte ich auf das Bild, das gerade auf dem Bildschirm aufgepoppt war.
»Wer ist es?«, fragte Harry sofort. Der plaudernde Unterton war aus seiner Stimme verschwunden.
»Sein Name ist Austin Freeman«, las ich vor. Ich kopierte schnell die Akte und schickte sie Harry per E-Mail, bevor ich weiter durch Freemans Kartei scrollte. »Er ist Student im sechsten Semester. Unterdurchschnittlicher Notenschnitt. Kein Wunder, dass er auf die große Story hofft. Mit so einem miserablen Abschluss wird er höchstens bei der Klatschpresse angenommen«, sagte ich. »Es ist eine Adresse nahe der Uni angegeben. Kein Vorstrafenregister. Aber er hat offenbar einen hohen Studienkredit aufgenommen.«
»Danke.« Ich hörte ein leises Klicken und vermutete, dass Harry gerade meine Mail öffnete. »Ich kümmere mich darum. Scheint mir ein etwas unvorsichtiger junger Mann zu sein. Ich melde mich, falls es Probleme geben sollte. Halte Ivy die nächsten Tage von Ärger fern.«
»Mach ich«, versprach ich und beendete das Gespräch.
Müde ließ ich mich in den Stuhl zurücksinken und betrachtete das Foto.
Ivy
»Oh mein Gott, er hat ihm gerade das Auge ausgepikt«, rief Jeff aufgeregt.
Alex lachte, während ich mir panisch die Decke vors Gesicht hielt.