by Stella Tack
Prompt wurde ich rot. »Sorry«, sagte ich und wich seinem Blick aus, »ist wohl eine zu persönliche Frage.«
Konstantin stieß einen tiefen Seufzer aus und fuhr sich sichtlich müde über den leichten Bartschatten an seiner Wange. »Früher waren wir uns sehr nahe«, sagte Konstantin leise. Für einen Augenblick sah es so aus, als wollte er Ryans Hand nehmen. Doch dann tat er es doch nicht und massierte sich stattdessen fester das Knie.
»Und jetzt nicht mehr?«
»Nein«, murmelte Konstantin, »jetzt nicht mehr. Ich habe ihn jahrelang nicht gesehen, um ehrlich zu sein.«
»Das tut mir leid.«
Er lächelte mich traurig an. »Hast du Geschwister, Ivy?«, fragte er.
»Nein, leider nicht. Aber ich hab mir immer einen großen Bruder gewünscht.«
Er grinste. »Große Brüder werden überbewertet, glaub mir, ich bin einer.«
»Trotzdem«, flüsterte ich. »Besser, als einsam zu sein.«
Konstantin sah mich an und etwas, das ich nicht deuten konnte, huschte durch seine kantigen Züge.
»Ryan und mich trennen fast zehn Jahre«, sagte er leise. »Ich hatte mir immer Geschwister gewünscht, aber unser Dad gründete damals frisch die Firma und es dauerte eine Zeit, bis meine Eltern beschlossen, dass ich wohl wirklich ein Geschwisterchen brauchte.« Er lachte traurig. »Als Ryan kam, war ich stolzer als unsere Eltern selbst. Und es dauerte nicht lange, bis uns allen klar war, dass Ryan eine kleine Intelligenzbestie war und später keine Probleme haben würde, an eine Elite-Uni aufgenommen zu werden. Ich war da vollkommen anders.« Er seufzte schwer. »Ich hatte nur Unsinn im Kopf. Ich war so unglaublich arrogant und die ganze Zeit auf den nächsten Adrenalinkick aus. Nach der Highschool begann ich dann meine Ausbildung in der Navy, wurde aber wegen einigen … Dummheiten rausgeworfen.« Seufzend hielt er inne. Offenbar erinnerte er sich nicht gern an sich selbst von früher.
Schweigend sah ich Konstantin an. Ich hatte keine Ahnung, warum er mir seine Lebensgeschichte erzählte, aber ich wollte jedes kleinste Detail davon wissen. Vor allem, weil Ryan eine Rolle darin zu spielen schien.
Konstantin schluckte, bevor er fortfuhr. »Damals war ich knappe zwanzig – und Ryan gerade mal zehn. Er hat mich immer viel zu sehr bewundert. Als die Navy mich rauswarf, nahm Harry mich in die Firma auf. Ich weiß noch, wie fasziniert Ryan damals die Waffen angesehen hat, wenn ich am Schießstand damit geübt habe. Ich hätte ihm sagen sollen, dass es nicht drauf ankam, ob man ein bescheuertes Kreuz in der Mitte eines Kreises treffen kann, sondern dass es viel wichtiger ist, dass man was im Köpfchen hat.«
Gebannt lauschte ich Konstantins tiefer Stimme, während meine Verwirrung immer weiter wuchs. Der Ryan, den ich kennengelernt hatte, war so vollkommen anders. Ich versuchte, mir Ryan als Kind vorzustellen, mit zu langen schwarzen Haaren, großen grünen Augen und einer Zahnlücke. Der Gedanke an Ryan als kleiner Junge, der ständig seinem großen Bruder nacheifern wollte, brachte mich unweigerlich zum Lächeln.
»Er hat sich seitdem sehr verändert«, stellte ich leise fest.
Konstantin nickte ernst. »Das ist meine Schuld … Unsere Mom war damals hochschwanger mit den Zwillingen und ist für ein paar Tage zu unserer Granny gefahren. Harry hatte Nachtschicht und ich sollte auf Ryan aufpassen. Doch stattdessen schmiss ich eine Party.« Er verzog das Gesicht. »Ich war nach kürzester Zeit sturzbetrunken und prahlte damit, dass ich den besten Job aller Zeiten hatte. Ich hab mit meiner Dienstwaffe rumgefuchtelt, als wäre ich Lucky Luke. Und danach hab ich sie ungesichert liegen gelassen.«
Ich sog überrascht die Luft ein.
Konstantin warf mir einen kurzen Blick zu, bevor er wieder zu Ryan sah. Ein trauriger Ausdruck war in seine Augen getreten. »Ryan ist nachts aufgewacht und als er die Waffe sah, ist er damit zum Schießstand hinters Haus gegangen, um zu üben. Ich hab einen Knall gehört und bin sofort in den Garten gerannt. Und dort sah ich, wie Ryan – mit der Zunge zwischen den Zähnen – versuchte, eine Dose vom Zaun zu schießen. Genauso, wie ich es immer getan hatte, um ihn zu beeindrucken. Ich hab nach ihm gerufen. Dabei hat er sich so sehr erschreckt, dass er die Waffe verzog und mein Bein traf.« Seine Finger strichen über die betreffende Stelle.
»Oh Gott«, flüsterte ich. »Das tut mir leid.«
Er lächelte mich an. »Das muss es nicht. Aber mir tut es leid. Nicht für mich, sondern für Ryan. Mein Knie war hinüber und ich musste den Dienst quittieren. Doch wegen meines miserablen Notenschnitts wollte mich sonst niemand anstellen. Also begann ich zu trinken und fiel letztendlich in eine schwere Depression. Als meine Eltern die Notbremse zogen und mich in eine Entziehungsklinik schickten, war der Schaden bereits angerichtet. Vor allem an Ryan.«
Mit einem Kloß im Hals sah ich zu Ryan, der ruhig und gleichmäßig atmete. Was würde ich jetzt dafür geben, dass er die Augen aufschlug und mir versicherte, dass es ihm gut ging?
Konstantin seufzte. »Ich habe ihm damals die Schuld an allem gegeben. Hab meine ganze Wut an ihm ausgelassen. Ich hab ihn sogar im Vollsuff angebrüllt, dass er mir ein Leben schuldete und dass aus so einem Hänfling wie ihm niemals etwas werden würde. Ich war so dumm, ich …« Konstantin verstummte und ein harter Ausdruck trat in seine Augen.
»Was ist passiert?«, flüsterte ich. Etwas in meiner Brust zog sich schmerzhaft zusammen.
»Er veränderte sich. Er schwänzte die Schule und prügelte sich ständig. Währenddessen habe ich mich immer mehr abgeschottet. Nicht nur von Ryan, sondern von meiner ganzen Familie. Es hat Jahre gedauert, bis ich mich getraut habe, mit ihnen wieder Kontakt aufzunehmen. Aber als ich wieder zu Hause auftauchte, um mich für alles zu entschuldigen, war Ryan bereits weg, um seinen ersten Job zu erledigen.«
»Seinen ersten Job … du meinst mich?«, fragte ich leise.
Konstantin nickte. »Ich habe mir den Kopf darüber zerbrochen, warum er Security geworden ist. Ich glaube, ihn haben die Schuldgefühle so sehr aufgefressen, dass er am Ende dachte, er sei es mir schuldig, das Leben zu leben, das ich nicht mehr haben konnte.« Konstantin lächelte traurig. »Ich habe ihn angerufen. Wollte mit ihm reden, doch er blockte ab. Und dann kam der Anruf, dass Ryan angeschossen wurde …«
Konstantin verstummte und beinahe glaubte ich, Tränen in seinen grünen Augen schimmern zu sehen. Doch er schniefte nur und schüttelte seufzend den Kopf.
Mit einem Kloß im Hals sah ich zu Ryan. Erst nach einer Weile merkte ich, dass mir die Tränen die Wangen hinabliefen. Das alles erklärte so viel. Ryans undurchschaubare Tiefen, aber vor allem sein Verhalten. Diese Wut und das schon beinahe wahnhafte Pflichtbewusstsein. Und vor allem diese Zerrissenheit, die er mir gegenüber empfand. Eine Zerrissenheit, die letztendlich dazu geführt hatte, dass er angeschossen wurde.
»Er liegt nicht wegen dir hier, sondern wegen mir«, sagte ich erstickt. Ich sah nur verschwommen, wie Konstantin mir ein Taschentuch reichte.
»Danke!« Mit zitternden Fingern nahm ich es und putzte mir die Nase. »Ich bin einfach abgehauen. Weil ich wütend auf ihn war.« Schluchzend vergrub ich mein Gesicht in den Händen und spürte, wie die Schuldgefühle wieder an mir zerrten. Ich war so dumm gewesen.
»Es ist nicht deine Schuld, Ivy«, sagte Konstantin beruhigend.
Als ich zu ihm aufschaute, sah ich, dass er lächelte. Warum war er so nett zu mir? Er sollte mich hassen! Harry war ebenfalls viel zu nett zu mir gewesen, als er ins Krankenhaus gekommen war. Hatte mich nur in den Arm genommen und mich sein tapferes Mädchen genannt.
»Ivy«, wiederholte Konstantin. »Es gehört zu Ryans Job, seine Schutzbefohlene wieder einzufangen, falls sie abhaut. Er liegt nicht deinetwegen hier, sondern weil ihn ein Arschloch angeschossen hat.«
»Haben sie … haben sie Freeman schon gekriegt?«, fragte ich leise und Konstantin nickte.
»Dein Vater wird schon dafür sorgen, dass er es bereut«, sagte er.
Mein Vater. Es war seltsam, aber weder er noch meine Mom hatten mich angerufen. Harry meinte nur, mein Dad würde sich um alles kümmern. Trotzdem hatte ich Angst vor dem a
usstehenden Anruf. Bisher war mein Handy still geblieben – was daran lag, dass der Akku leer war. Um es genau zu wissen, hätte ich es aufladen müssen, doch meine Kraft reichte nicht mal mehr dafür aus. Die letzten Stunden mit Ryan fühlten sich an, als würde uns jemand eine Verschnaufpause gönnen, bevor die Welt vollends in sich zusammenkrachte.
Vorsichtig griff ich nach Ryans Hand, die leicht zuckte. Als würde er träumen. Kaum zu glauben, was er in seinem Leben schon alles durchgemacht hatte. Einmal mehr wurde mir bewusst, wie anders ein Leben sein konnte als jenes, das ich achtzehn Jahre lang geführt hatte. Ein goldener Käfig, aus dem ich auszubrechen versucht hatte, obwohl ich ein Vogel mit gestutzten Flügeln war. Kein Wunder, dass ich abgestürzt war.
Ein Klopfen ließ uns ruckartig aufsehen. Kurz darauf öffnete sich die Tür und Harry kam in einem zerknitterten Anzug herein.
»Oh, entschuldigt, habe ich euch gerade unterbrochen?«, fragte Harry, sichtlich überrascht, uns beide zusammen zu sehen. Sein Blick zuckte kurz zu Konstantin und dann wieder zurück zu mir.
Ich schüttelte den Kopf.
Harry seufzte und rieb sich über den kahlen Kopf. »Ivy, ich weiß, du bist müde, aber ich muss leider etwas mit dir unter vier Augen besprechen. Hast du kurz Zeit?« Seine Stimme klang tief und immer ein wenig rau.
Ich nickte zögerlich. Alles in mir drängte danach, mich herabzubeugen und Ryan einen Kuss auf die Stirn zu hauchen. Oder auf die Lippen. Aber seine Familie sah zu und ich konnte nicht zulassen, dass Ryan wegen einer unbedachten Reaktion meinerseits noch mehr Ärger bekam als ohnehin schon. Müde stand ich auf und folgte Harry in den Flur hinaus.
Zu meiner Verwirrung wartete dort bereits ein Mann in einem steifen, schwarzen Anzug auf uns. Bei genauerem Hinsehen erkannte ich jedoch, dass er kaum älter war als ich selbst. Er konnte höchstens einundzwanzig sein. Aber der Anzug und seine Haltung verliehen ihm eine viel erwachsenere Ausstrahlung. Sein sandfarbenes Haar war kurz geschnitten und streng nach hinten gekämmt. Seine Augen waren so dunkelbraun, dass sie beinahe schwarz wirkten, und auf seinen Lippen lag ein schales Lächeln.
»Ivy …«, begann Harry und deutete auf den Jungen. »Das hier ist Maxton. Dein neuer Begleitschutz. Maxton, das ist Ivy Redmond.«
»Miss Redmond, es freut mich sehr, Sie kennenzulernen«, sagte Maxton sachlich, während er die Hände straff hinter dem Rücken verschränkt hielt. Seine Haltung war dabei so steif, als hätte er einen Besenstiel verschluckt.
»Neuer Begleitschutz?«, echote ich ungläubig. »Warum?«
Harry seufzte schwer. »Ich habe mit deinem Vater gesprochen. Freeman hat gestanden. Der Prozess läuft, aber dein Schutz hat immer noch höchste Priorität. Maxton wird dich ab jetzt begleiten.«
»Höchste Priorität?«, fragte ich schrill. Ich massierte mir die schmerzenden Schläfen, während ich verzweifelt versuchte, meine Gedanken zu ordnen. »Ryan liegt mit einer Schusswunde in diesem Zimmer und ist noch nicht aufgewacht – und das nur meinetwegen. Scheiß auf Sicherheitsprioritäten! Hier geht es nicht um mich, sondern um ihn!«
»Nein, es geht um dich, Ivy«, sagte Harry ungewohnt streng und sah mich mit einem durchdringenden Blick an. »Es ging hierbei immer nur um dich. Ryan wusste, worauf er sich einlässt. Schusswunden gehören zu diesem Job, genauso wie gebrochene Knochen oder jede andere Verletzung. Er wusste, was er tat, und er hat seinen Job erfolgreich ausgeführt. Und da er deswegen ausfällt, wirst du von jemand anderem bewacht werden.«
»Aber Ryan … ich kann ihn doch nicht alleine lassen«, sagte ich mit zitternder Stimme.
Harry schloss kurz die Augen, bevor er mir sanft seine große Hand auf die Schulter legte. »Ich habe auch keine Wahl!«, sagte er so leise, dass ich ihn kaum verstand. »Ryan ist mein Sohn. Er liegt in diesem Bett und ich habe keine Ahnung, was ich zu ihm sagen soll, wenn er aufwacht. Ich habe das Gefühl, auf ganzer Linie versagt zu haben. Als Vater, als Security, als Freund deines Vaters, dir gegenüber …« Er schüttelte den Kopf und sah mich dann direkt an. »Es ist am besten für uns alle, wenn Maxton den Job vorerst übernimmt. Bitte tu mir den Gefallen.«
»O…okay«, hauchte ich leise. Was sollte ich denn auch sonst tun?
Nachdenklich musterte ich Maxton, der mir ein professionelles Lächeln schenkte. Maxton war wahrscheinlich kein schlechter Kerl oder Security. Aber da fehlte so viel … Die grünen Augen, die dunklen Haare, die Tattoos, die Piercings. Ohne jede Vorwarnung brach ich in Tränen aus. Mitten im Gang. Harry und Maxton starrten mich fassungslos an.
»Es tut mir alles so leid, Harry«, murmelte ich.
Von einer Sekunde auf die andere wurde ich in eine feste Umarmung gezogen.
»Schon gut, Mädchen«, sagte Harry und seine starken Arme drückten mich fest an sich. »Es tut mir leid. Es ist nicht deine Schuld. Alles wird gut …«
Schluchzend vergrub ich das Gesicht an seiner Brust. Ich konnte einfach nicht mehr. Maxton hatte sich mittlerweile unauffällig zurückgezogen. Ganz der perfekte Security. Bestimmt hatte mein Vater ihn ausgesucht. Aber er war nicht Ryan. Bei dem Gedanken an ihn musste ich noch heftiger schluchzen, und irgendwann verfrachtete mich Harry auf einen unbequemen Besucherstuhl. Jemand – ich glaube, es war eine Krankenschwester – reichte mir einen Pappbecher Wasser und es dauerte noch eine ganze Weile, bis ich endlich aufhören konnte zu heulen.
Harry kniete vor mir und nahm mir sanft den Pappbecher ab. »Geht es wieder?«, fragte er leise.
»Klar«, flüsterte ich und versuchte, die Tränen wegzuwischen.
Harry seufzte. »Ich weiß, das klingt jetzt seltsam, aber ich bin froh, dass dir mein Sohn so wichtig ist. Ryan hat bisher nicht viele Menschen an sich herangelassen, seit … seit das mit seinem Bruder passiert ist.«
»Ich weiß.« Schniefend sah ich auf. »Konstantin hat mir davon erzählt.«
Harry nickte. »Ivy«, fing er zögernd an, »kann ich dich etwas fragen?«
»Sicher.« Müde rieb ich mir die Augen.
»Kann es sein, dass du und Ryan …«
Was auch immer er hatte fragen wollen, es wurde von Ryans Tür unterbrochen, die gerade ruckartig aufgerissen wurde.
»Er ist wach!«, platzte Konstantin heraus. »Er ist wach und beschwert sich, dass die Kissen zu hart sind.«
»Dem Himmel sei Dank!«, stieß Harry hervor. Ohne zu zögern sprang er auf und stürzte in das Zimmer.
Ich war ihm knapp auf den Fersen, als mir plötzlich ein Handy unter die Nase gehalten wurde. Irritiert sah ich in Maxtons Gesicht hoch.
»Ihr Vater ist dran. Er möchte mit Ihnen sprechen, Miss Redmond«, sagte er sanft.
Ich erstarrte. Nein! Nicht jetzt! Wie angewurzelt verharrte ich vor der offenen Tür und sah, wie Konstantin und Harry am Krankenbett standen. Harrys breiter Rücken verstellte mir die Sicht auf Ryans Gesicht. Aber ich hörte ihn leise lachen. Er lachte! Er war wach!
Eine zentnerschwere Last schien von meinen Schultern zu fallen und ich spürte, wie die Erschöpfung über mich hereinbrach. Ich war so müde und gleichzeitig dermaßen erleichtert, dass ich sekundenlang ins Leere starrte, bis Maxton sich scharf räusperte. Erschrocken sah ich auf und zog die Schultern nach oben. Stimmt. Da war ja noch was.
Alles in mir sträubte sich, diesen Anruf entgegenzunehmen. Ich wollte im Augenblick nur zu Ryan, hatte absolut keine Lust, mit meinem Vater zu telefonieren, aber Maxton hielt mir das Handy praktisch vors Gesicht. Zögernd nahm ich es ihm ab.
»Hallo?«, sagte ich leise.
»Du kommst nach Hause. Jetzt.«
»Daddy, ich …«
»Der Wagen steht schon vor dem Krankenhaus«, unterbrach mich mein Vater und legte auf.
Meine Augen füllten sich wieder mit Tränen, die ich aber mit Gewalt zurückhielt. Als ich Ryan erneut lachen hörte, wurde die Sehnsucht nach ihm beinahe unerträglich groß. Ein Seufzen entrang sich meinen Lippen, während Maxton mich sanft am Ellenbogen berührte.
»Wir sollten gehen, Miss Redmond«, sagte er leise.
»Ich … nein, ich kann nicht gehen …«
, antwortete ich und machte einen Schritt nach vorn. Ich musste zu Ryan, mich selbst davon überzeugen, dass es ihm gut ging. Ich wollte ihn berühren, ihn küssen … Aber etwas hielt mich zurück.
Plötzlich eilten ein Arzt und eine Krankenschwester an mir vorbei und betraten das Zimmer. Im selben Augenblick machte Harry einen Schritt zur Seite, sodass ich Ryans Gesicht sehen konnte. Er lächelte müde seinen Bruder an. Noch nie hatte ich solch einen Ausdruck auf seinem Gesicht gesehen. Er wirkte beinahe friedlich. Glücklich. Ganz anders als in den letzten Wochen. Die Zeit mit mir hatte ihn ausgelaugt. Ihn zerrissen. Sowohl seelisch als auch körperlich. Ich tat ihm nicht gut.
Mein Herz ächzte, als mir bewusst wurde, dass Ryan nur glücklich werden konnte, wenn ich ihn in Ruhe ließ. Es war seine Familie, die er gerade brauchte. Nicht mich. Er brauchte Konstantin, damit das, was in seinem Inneren zerbrochen war, wieder heilen konnte. Ich war dabei keine Hilfe. Im Gegenteil. Am Ende machte ich alles wieder schlimmer.
Obwohl es mir selbst das Herz zerriss, drehte ich mich um und verließ das Krankenhaus.
Ryan
Meine Zunge klebte an meinem Gaumen fest und als ich es endlich schaffte, sie loszubekommen, und mir über die Lippen leckte, lag in meinem Mund ein Geschmack, als hätte ich drei Tage lang durchgesoffen.
Scheiße, was hatte ich angestellt? Mühsam öffnete ich die Augen. Sie waren völlig verklebt und als ich den Blick schweifen ließ, hatte ich keine Ahnung, wo ich war. Überall war es weiß, alles wirkte neu und steril. In der Decke fehlten die Löcher und an der Wand klebten keine Poster. Auch der Geruch war anders. Es roch scharf nach Desinfektionsmittel und ein wenig sauer, nach künstlicher Zitrone. Wo zum Teufel war ich? Und noch viel wichtiger: Wo war Ivy?
Ruckartig versuchte ich mich aufzusetzen. Sofort schoss ein pochender Schmerz durch meine Schulter, der mich aufstöhnen ließ. Ich fluchte und spürte ein Paar Hände, das mich sanft, aber bestimmt wieder zurückdrückte.
»Wow, immer ruhig mit den jungen Pferden. Werd erst mal richtig wach«, sagte eine Stimme, die mir irritierend bekannt vorkam, auch wenn sie das letzte Mal noch nicht so tief geklungen hatte.