Kiss Me Once

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Kiss Me Once Page 44

by Stella Tack


  Sie schlug ein weiteres Mal nach mir. Erst mit der einen, dann mit der anderen Pranke. Wieder und wieder und drängte mich dabei über einen winzigen Bach immer weiter zurück in Richtung einer Felskante. Aus dem Augenwinkel sah ich Lance mit dem anderen Elementar ringen, aber ich konnte ihm nicht zu Hilfe kommen. Erst musste ich mir selbst helfen.

  Kleine Steine lösten sich unter meinen Stiefeln, als ich den Rand des Plateaus erreichte. Der Abgrund war nicht tief genug, um durch den Sturz zu sterben, aber auf ein paar Knochenbrüche konnte ich gut verzichten.

  Ich wehrte den nächsten Schlag mit meinem Dolch ab. Ein Teil des knorrigen Arms landete zu meinen Füßen, wo er sich umgehend zu Staub auflöste. Na also. Ich wollte schon aufatmen, doch dann lösten sich plötzlich weitere Gestalten aus dem Boden, krochen wie Untote aus der Erde herauf und brachen aus den Felsen hervor. Die Erde zitterte erneut, Gestein knirschte und ein Riss begann sich im Boden auszubreiten.

  »Oh Shit«, keuchte ich.

  »Was war das?«, rief Lance. Mitten in der Drehung schnitt er seinem Gegner den Kopf ab. Das Wesen erstarrte in der Bewegung und das grünbraune Leuchten aus seinem Inneren verstärkte sich einen Herzschlag lang, dann zerfiel es zu kleinen Steinbrocken.

  Ich konnte nicht antworten, sondern musste zur Seite ausweichen, um einem Schwall an Wurzeln zu entgehen, die wie Geschosse auf mich zurasten. Aber ich gönnte mir keine Pause, sondern sprang sofort wieder auf. Die Erschütterung wurde stärker, der Riss immer größer und kam geradewegs auf mich zu. Ich hechtete auf die andere Seite, hob die schmale Klinge auf, die ich auf die Kreatur geworfen hatte, und ging hinter einem Felsen in Deckung. Wurzeln und Ranken schnellten über meinen Kopf hinweg. Einen Atemzug später warf sich Lance neben mich.

  »Wir sollten verschwinden.«

  »Ach wirklich?«, rief ich, während kleine Steine und Blätter auf uns herabregneten und der Boden so stark bebte, als würde etwas aus seinen Tiefen hervorbrechen wollen. Oder jemand.

  Lance warf einen Blick am Fels vorbei und hielt warnend die Hand hoch. Zwei Sekunden später hallte seine tiefe Stimme durch die Nacht. »Jetzt!«

  Ich steckte die Waffen ein und rannte, ohne zu zögern, los. Weg von diesen Kreaturen und Richtung Straße. Richtung Sicherheit. Ohne zurückzusehen, kletterte ich Abhänge hinauf, rutschte im feuchten Gras aus, hievte mich an Steilwänden hoch und hetzte durch eine kleine Quelle. Wasser spritzte auf. Hinter mir brüllten die Elementare.

  Das Knarren von Holz und Schaben von Steinen erfüllten die Luft. Wenn diese Wesen so weitermachten, würde es einen Erdrutsch geben, der der Landschaft eine neue bizarre Form verlieh.

  Als die Straße in Sicht kam, atmete ich erleichtert auf, verlangsamte mein Tempo etwas, als es bergab ging, und sah mich nach Lance um. Er war direkt hinter mir.

  Glücklicherweise verfolgten uns die Elementare nicht mehr, aber sie tobten und wüteten noch immer durch die Natur. Schwer atmend blieb ich am Rand der Klippe stehen und starrte auf die zerklüfteten Hügel und Schluchten, die sich vor mir ausbreiteten. Die Erde bewegte sich, verformte sich und ließ einen weiteren Beweis dafür zurück, dass es diese Monster tatsächlich gab. Nur wusste niemand außer uns die Zeichen richtig zu deuten.

  »Ava …« Lance blieb schräg hinter mir stehen. Er musste nicht mehr als meinen Namen sagen, damit ich ahnte, was gerade in seinem Kopf vorging. Er war genauso wütend und frustriert wie ich, aber uns noch mal in den Kampf zu stürzen, wäre lebensmüde gewesen. Diese Kreaturen waren zu stark und wir in der Unterzahl.

  Nach und nach konnten wir von dem Plateau aus beobachten, wie sich die Elementare zurückzogen, wieder in der Dunkelheit verschwanden und mit den Hügeln verschmolzen, bis nichts mehr von ihnen zu sehen war. Nichts, außer der neuen Felsformation, die sich in dieser Nacht hier gebildet hatte.

  Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie sich Lance mit der Hand über den Nacken rieb. Aber es war nicht die Bewegung an sich, die meine Aufmerksamkeit auf sich zog, sondern das Blut, das an seinem Hals klebte.

  »Du bist verletzt.«

  »Was?« Er starrte erst mich an, dann seine rot gefärbten Finger. »Shit.«

  »Lass mich sehen.«

  Bevor er protestieren konnte, packte ich Lance am Arm und zog ihn mit mir zu meinem Wagen.

  Er hatte sein Auto direkt dahinter abgestellt. Ich ließ ihn los und kletterte in den Jeep, um an den Erste-Hilfe-Kasten zu kommen, dann kehrte ich zu ihm zurück.

  Inzwischen hatte er sich gegen die Motorhaube gelehnt und tastete erneut nach der Wunde an seinem Hals. »Es ist nichts«, murmelte er.

  »Und mein verstauchter Knöchel vor ein paar Wochen war auch nichts«, erwiderte ich trocken, denn damals waren unsere Rollen vertauscht gewesen.

  Wortlos ließ Lance die Hand sinken und beobachtete mich dabei, wie ich näher trat, seinen Kragen beiseiteschob und mir die Verletzung im Licht meines Handys ansah. Er hatte recht: Es war wirklich nur eine Kleinigkeit. Nur ein Kratzer eines dieser Biester, aber auch ein Kratzer konnte gefährlich werden, wenn man ihn nicht richtig behandelte.

  »Hast du gewusst, dass es so viele sein würden?«, fragte er und atmete gleich darauf scharf ein, als ich seine Wunde desinfizierte.

  »Nein«, gab ich zu und hielt seinen Blick einen Moment lang fest. »Sonst hätte ich auf dich gewartet.«

  Seine Mundwinkel zuckten. »Von wegen.«

  »Das wirst du jetzt wohl nie erfahren.« Vorsichtig legte ich eine selbstklebende Kompresse auf die Wunde.

  »Was ist mit dir?«, fragte er, als ich fertig war und die Verpackung zusammenknüllte.

  Überrascht sah ich auf. »Was soll mit mir sein?«

  Statt einer Antwort hob er die Hand an meinen Hals. Er berührte die Stelle, an der mich die Schlingpflanzen gewürgt hatten, nicht, dennoch hatte ich das Gefühl, seine Wärme spüren zu können.

  Ich schluckte hart und machte einen schnellen Schritt zurück. »Schon gut. Nur ein paar blaue Flecken, mehr nicht.«

  Fragend runzelte er die Stirn. »Sicher? Wenn du wieder eine Verletzung verschweigst, nur um weiterkämpfen zu können …«

  »Keine Sorge. Ich lerne aus meinen Fehlern.«

  Letzten Winter waren wir an einem Loch auf Skye auf zwei Wasserelementare gestoßen. Die ganze Wasseroberfläche war zugefroren gewesen. Und obwohl ich Schlittschuhfahren liebte, hatten die beiden Wesen für eine ungewollte Schlitterpartie gesorgt, bei der ich ungünstig gefallen war. Aber ich hatte mir nichts anmerken lassen wollen, bis wir die Kreaturen besiegt hatten. Erst danach war Lance aufgefallen, dass mein Arm blutete, und so wie ich mich heute um ihn gekümmert hatte, hatte er mich damals verarztet. Inzwischen war das beinahe zu einem ungewollten Ritual zwischen uns geworden.

  Ich warf den Verbandskasten auf den Beifahrersitz des Jeeps und kehrte zu Lance zurück. Gemeinsam blickten wir ein letztes Mal auf die hügelige Landschaft vor uns, dann machte ich auf dem Absatz kehrt, setzte mich hinters Steuer und startete den Motor. Auch Lance stieg in seinen Wagen. Und während Quiraing im Rückspiegel immer kleiner wurde, wusste ich, dass das hier nicht das Ende war.

  Es war erst der Anfang.

  KAPITEL 2

  »Avalee Coleman!«

  Erschrocken zuckte ich zusammen, als die Stimme meiner besten Freundin von draußen hereinschallte und all meine Pläne zerstörte, mich am Morgen unbemerkt aus dem Haus zu schleichen. Die Stiefel noch in den Händen, um ja kein Geräusch zu verursachen, war ich die Treppe hinuntergeschlichen und wollte gerade nach der Türklinke greifen, als auch schon mein Vater – von Brianna aufgeschreckt – aus der Küche dröhnte: »Avalee!«

  »Ich muss los!«, rief ich über die Schulter, rannte nach draußen und warf die Haustür hinter mir zu. Ich zog die kniehohen Stiefel an und schlüpfte noch im Gehen in die Ärmel meines weinroten Blazers. Dass diese Dinger aber auch immer so unpraktisch sein mussten. Eilig glättete ich die dazugehörige weiße Bluse, als könnte ich damit die Falten wegzaubern, und rückte die Krawatte zurecht, die anscheinend nur dazu gedacht war, arme Schüler
innen und Schüler zu quälen. Dummerweise war sie Pflicht und gehörte genau wie die schwarze Strumpfhose und der karierte Rock in Grün, Lila und Weinrot zu unserer Schuluniform.

  Direkt neben der Tür stand meine beste Freundin Brianna im gleichen Outfit, allerdings saß bei ihr wie immer alles perfekt. Das hellblonde Haar endete zwischen Kinn und Schultern und umrahmte ihr Gesicht in sanften Wellen. Abgesehen von dem großen silbernen Anhänger in Form einer Feder, der an einer langen Kette hing, die sie so gut wie nie abnahm, trug sie keinen Schmuck. Oder Waffen – wie ich. Nur dass ich meine Metallkette sicher in der Tasche verstaut hatte. Sie offen zu meiner Schuluniform zu tragen, wäre vielleicht doch ein bisschen zu auffällig gewesen. Aus demselben Grund hatte ich meine Unterarmklinge zu Hause gelassen – und weil ich noch an ihrer Funktionsweise arbeiten musste. Wenn sie aus Versehen mitten im Unterricht hervorschoss, gab es mit Sicherheit einen weiteren Verweis, und darauf konnte ich gut verzichten.

  Brianna stemmte die Hände in die Hüften und holte tief Luft. »Eines Tages wird dich …«

  »Wird mich keiner wecken und ich werde zu spät zur Schule kommen«, beendete ich ihren Satz. »Ich weiß, ich weiß.«

  Zwei, drei Sekunden lang schaffte Brianna es, streng auszusehen, dann erhellte ein Lächeln ihr Gesicht. »Stimmt. Guten Morgen!«

  »Nichts an diesem Morgen ist gut«, brummte ich, während wir Seite an Seite zu meinem Jeep gingen und Brianna ihr Fahrrad neben sich herschob, bevor wir es auf den Wagen luden. Eigentlich gehörte der Jeep meinem Vater, aber er hatte ihn mir überlassen, als ich den Führerschein als eine der Ersten aus unserer Klasse gemacht hatte, um allein zur Schule fahren zu können. Oder zum Schutz der Schafe, die ich in Todesangst versetzt hatte, als ich mit dem Rad querfeldein über die Weiden gerast war, um es rechtzeitig zum Unterricht zu schaffen. Dabei war das nur ein Mal passiert. Ein Mal!

  Na gut, vielleicht auch zwei … oder zwölf Mal.

  »Du siehst aus, als hätte dir jemand das Kakaopulver für deinen Cappuccino geklaut«, stellte Brianna amüsiert fest und stieg auf der Beifahrerseite ein. »Ich verstehe sowieso nicht, wie du das Zeug in dich reinschütten kannst.«

  »Koffein und Zucker. Menschen brauchen es zum Überleben«, gab ich trocken zurück.

  Die frühe Uhrzeit war eine Qual, und da ich letzte Nacht ungeplant um mein Leben gerannt war und daraufhin kaum Schlaf gefunden hatte, sehnte ich mich heute ganz besonders nach einem schönen heißen Kaffee. Mal ganz davon abgesehen, dass mein Hals an diesem Morgen wehtat und ein paar kleine rote Male zu sehen waren, die ich in aller Eile mit etwas Make-up überschminkt hatte.

  »Soll ich fahren?«, schlug Brianna mit Unschuldsmiene vor.

  Ich kniff die Augen zusammen und schob den Schlüssel ins Zündloch. »Wenn du willst, dass wir beide im Gefängnis – oder im nächsten Graben – landen, dann klar. Nur zu.«

  Sie blies die Backen auf. »Hey, ich habe mit Mum geübt. Ich kann fahren!«

  Ich schnaubte belustigt. So war Brianna, seit ich denken konnte. Sie wollte alles erreichen, alles schaffen, alles tun – und das am besten sofort. Ihre Zukunft war bereits in Stein gemeißelt – oder vielmehr in Briannas Zehnjahresplan festgehalten –, während ich noch immer nicht wusste, was ich machen wollte, wenn wir im Sommer mit der High School fertig waren. Seit Weihnachten drängte Dad mich dazu, ins Ausland zu gehen und in den Vereinigten Staaten oder auf dem europäischen Festland zu studieren, dabei waren meine Noten wirklich nicht überragend und ein Auslandssemester nicht gerade günstig. Davon mal ganz abgesehen, hatte ich keine so klaren Vorstellungen wie meine beste Freundin. Ich hatte zwar vorab ein paar Online-Collegekurse in Psychologie und Philosophie belegt, aber wirklich weiter brachten sie mich in meiner Zukunftsplanung nicht. Brianna war da ganz anders. Schon seit wir Kinder waren, hatte sie den Traum, nach der Schule zu studieren, Lehrerin zu werden, sich ein kleines Cottage zu kaufen, einen Hund anzuschaffen und früher oder später eine eigene Familie zu gründen. Nicht zwangsläufig in dieser Reihenfolge, aber sie arbeitete hart für ihre guten Noten und hatte sich schon vor Monaten an der Universität in Edinburgh beworben.

  Ich dagegen wusste nicht mal, ob ich Porridge oder Müsli zum Frühstück essen wollte, ganz zu schweigen davon, wo ich in fünf, zehn oder zwanzig Jahren sein würde. Im besten Fall noch immer auf der Jagd nach Elementaren. Und zwar in einem Szenario, in denen ich ihnen in den Hintern trat und nicht andersherum.

  Kopfschüttelnd schob ich diese Gedanken beiseite. Für solche tiefgründigen Fragen war es eindeutig noch zu früh, und ich brauchte Koffein, um richtig wach zu werden, aber an diesem Morgen hatte ich leider keine Zeit für einen Kaffee oder Schwarztee gehabt, also würde ich mit dem Zeug in der Cafeteria vorliebnehmen müssen.

  Während Brianna am Radio herumdrehte und einen anderen Sender einstellte, wendete ich den Jeep und folgte dem unbefestigten Pfad von unserem Haus zur Straße hinunter. Im Rückspiegel wurden das weiße Cottage mit den grünen Fensterrahmen ebenso wie Dads Wagen immer kleiner, bis sie schließlich ganz verschwanden. Von Neals Auto war nichts zu sehen, also schien er schon zur Arbeit gegangen zu sein. Seltsam, wo Dad doch normalerweise immer in aller Frühe zur Whiskydestillerie aufbrach, während sein Lebensgefährte den Pub erst gegen Mittag öffnete.

  Meine beste Freundin kannte mich gut genug, um mich morgens nicht zuzutexten, also schwiegen wir während der folgenden knapp zwanzigminütigen Fahrt die meiste Zeit über. Und so erfüllte nur das Trällern der Radiomusik das Wageninnere. In Gedanken war ich weit abgedriftet, als mich plötzlich die Stimme des Nachrichtensprechers wieder in die Gegenwart zurückholte: »… hat es gestern Nacht einen Angriff in Quiraing gegeben.«

  Mit klopfendem Herzen hörte ich zu, wie er davon berichtete, dass ein Camper von einem wilden Tier angefallen worden war, das sich seinem Zelt genähert hatte. Zumindest, wenn man der Aussage des verstörten Mannes Glauben schenken konnte, der von einem Biest sprach.

  Nur dass dieses Biest kein wildes Tier gewesen war, sondern ein Elementar, da war ich mir sicher. Eines der Wesen, die Lance und ich nicht hatten unschädlich machen können. Ich biss mir auf die Zunge, um jede Reaktion zu verhindern. Brianna wusste nichts von alledem und das war auch gut so. Sie war zu fokussiert, zu nett und zu normal, um ein Leben in ständiger Gefahr zu führen. Früher waren Dad und ich gemeinsam auf die Jagd nach diesen Mistviechern gegangen, doch seit seiner Verletzung und seit er Neal kennengelernt hatte, waren unsere Ausflüge immer seltener geworden. So selten, dass ich es schließlich selbst in die Hand genommen hatte, mich um dieses Problem zu kümmern. Zähneknirschend hatte mein Vater akzeptiert, dass ich hin und wieder einen Elementar allein ausschaltete, doch davon, dass ich mich dafür nachts heimlich aus dem Haus schlich, wusste er nichts. Früher oder später würde er es herausfinden und mir die Hölle heißmachen, da war ich mir sicher. Aber bis es so weit war, würde ich nicht einfach nur herumsitzen und zusehen, wenn ich stattdessen etwas tun konnte, damit nicht noch mehr unschuldige Menschen von diesen Bestien angegriffen wurden.

  Nach einer Weile kam Portree mit seinen vielen bunten Häusern und der weitläufigen Küste in Sicht und ich stellte den Jeep auf dem Parkplatz hinter der Schule ab. Schon beim Aussteigen waren das Tosen der Wellen und die typischen Geräusche des Hafens zu hören. Obwohl ich verschlafen hatte, betraten Brianna und ich das Gebäude pünktlich und trennten uns an der Tür, da sich unsere Spinde in verschiedenen Gängen befanden.

  Gleich würde es zur ersten Stunde klingeln – Mathe. Und obwohl ich das Fach mochte, fragte ich mich wie an jedem Donnerstagmorgen, wer unseren Stundenplan verbrochen hatte. So früh aufzustehen, war schon schlimm genug, aber dann auch noch höhere Mathematik in der allerersten Unterrichtsstunde? Unsere Direktorin musste uns hassen.

  Seufzend öffnete ich die Tür zu meinem Spind. Während ich noch meine Bücher zusammensuchte, bemerkte ich aus dem Augenwinkel, wie sich jemand mit der Schulter gegen den benachbarten Spind lehnte.

  »Wie geht’s deinem Hals?«

  »Gut.« Ohne aufzusehen, sortierte ich meine Unterlagen we
iter, damit ich für den Vormittag gerüstet war. Erst als ich damit fertig war, blickte ich zu Lance hinüber.

  Wie alle anderen trug er die Uniform in den Schulfarben, die für die Jungs ein weißes Hemd und eine schwarze Bügelfaltenhose vorsah. Normalerweise gingen wir uns in der Schule aus dem Weg, aber er hatte wohl ebenfalls von dem Überfall auf den Camper gehört.

  Ich musterte Lance von oben bis unten. Er war fast einen Kopf größer als ich, dabei war ich auch nicht gerade klein. Seine breiten Schultern füllten das dunkelrote Jackett aus und die gleichfarbige Krawatte hing eine Spur zu locker um seinen Hals. Für einen kurzen Moment tauchte ein anderes Bild in meinem Kopf auf – der nächtliche Lance, ganz in Schwarz gekleidet und mit den beiden Schwertern auf dem Rücken. Er schien sich in seinem Kampfoutfit wohler zu fühlen als in der Schuluniform. Noch eine Sache, die wir gemeinsam hatten.

  »Wie geht’s deinem Ego?«

  Seine Mundwinkel zuckten. »Seit gestern etwas angeschlagen.«

  »Gut so«, murmelte ich mit einem spöttischen Unterton und drückte die Tür meines Spinds zu.

  Lance zog die dunklen Brauen hoch. Bei Tageslicht war die etwa drei Zentimeter lange Narbe direkt neben seinem rechten Auge deutlich zu erkennen. Er hatte mir nie erzählt, wie das passiert war, und ich hatte nie danach gefragt, aber mit Sicherheit war es schmerzhaft gewesen und hatte genäht werden müssen. Ob Elementare daran schuld waren oder er als Kind einfach nur unglücklich hingefallen war, wusste ich nicht. Wie so vieles über ihn, war auch dieses Detail selbst nach dem ganzen Jahr, das wir uns schon kannten, weil er an dieselbe Schule ging und Nacht für Nacht mit mir über die Insel streifte, ein Geheimnis geblieben.

  »Dass mein Ego angeschlagen ist, gefällt dir also?«, wiederholte er. Ungläubigkeit und Belustigung schwangen in seiner Stimme mit. Er beugte sich ein Stückchen zu mir herunter und senkte die Stimme. »Wieso überrascht mich das nicht?«

 

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