by Stella Tack
Ich hielt seinem Blick stand, wich nicht zurück. »Du kennst mich eben schon zu gut.«
Und das stimmte. Auch wenn ich kaum etwas über seine Familie wusste oder warum er allein nach Skye gezogen war, so war Lance doch von allen Menschen derjenige, der mich am besten kannte. Weil er alle Seiten von mir gesehen hatte. Er kannte nicht nur mein Schul-Ich, sondern auch die Ava, die nachts Jagd auf Elementare machte – wovon außer ihm niemand wusste.
»Das gestern war ungewöhnlich.« Er wurde eine Spur leiser.
Trotzdem sah ich den Gang hinunter, um sicherzugehen, dass uns niemand belauschte. Aber unsere Mitschüler waren vollauf damit beschäftigt, den neuesten Klatsch und Tratsch auszutauschen, über die Hausaufgaben zu meckern und sich auf den Weg in ihren ersten Kurs zu machen.
»Ich weiß.« Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen meinen Spind, die Bücher noch in den Händen. Kurz zögerte ich, sprach die Worte dann aber doch aus. »Ich will noch mal hin.«
»Ich weiß.«
Ein, zwei Sekunden lang war ich von seinem Lächeln abgelenkt, dann sah ich ihm wieder in die Augen. Böser Fehler. Denn dort zeigte sich ein Funkeln, das mir nur zu vertraut war.
Bevor ich etwas sagen konnte, kam er mir zuvor. »Okay, Vorschlag.« Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar, das ihm sofort wieder in die Stirn fiel. »Du. Ich. Heute Abend. Am selben Ort, aber nicht ganz so spät wie gestern.«
»Warte kurz, so viel Romantik ertrage ich nicht auf einmal.«
Er warf einen Blick an mir vorbei Richtung Uhr. »Du hast ungefähr zehn Sekunden, bis es klingelt.«
»Und jetzt auch noch Erpressung.« Ich zog die Nase kraus und tat, als müsste ich ernsthaft über sein Angebot nachdenken. »Wie kann ich da widerstehen?«
»Kannst du nicht.« Er stieß sich von dem Spind ab und schob den Rucksackgurt auf seine Schulter. »Ich schreibe dir später, wann wir uns treffen. Bis dann.«
»Bis später, Lancelot.«
Kopfschüttelnd ließ er mich stehen und war kurz darauf zwischen all den anderen verschwunden, die in ihre Klassen hetzten. Wie vorgewarnt, schrillte es kurz darauf und ich musste zusehen, dass ich es rechtzeitig in die erste Stunde schaffte.
»Was wollte er von dir?« Wie aus dem Nichts tauchte Brianna neben mir auf und starrte Lance stirnrunzelnd nach.
»Mit mir flirten?« Ich tat es mit einem Schulterzucken ab, auch wenn sich ein ungutes Gefühl in mir ausbreitete, meiner besten Freundin etwas vorzumachen. Aber es war zu ihrer eigenen Sicherheit. Außer uns schien niemand von den Elementaren zu wissen und so sollte es auch bleiben. »Keine Ahnung.«
»Hm.« Sie wirkte nicht überzeugt, während sie neben mir den Gang hinunterlief.
»Pst!« Mit einem Nicken deutete ich auf jemanden wenige Schritte von uns entfernt. »Dein Schwarm auf zwölf Uhr.«
Wie auf Kommando blieb sie stehen. Ihre blasse Haut nahm sofort einen knallroten Farbton an.
»Sag das nicht so!«, zischte sie und funkelte mich böse an.
Ich biss mir auf die Lippe, konnte mir das Grinsen aber kaum verkneifen, als Rick an uns vorbeiging und sie mit einem Lächeln begrüßte.
»Hey, Bri.«
»Guten Morgen!«, rief sie etwas zu überschwänglich, nur um mich wenige Sekunden später so fest am Arm zu packen, dass ich zusammenzuckte. »Oh mein Gott! Kneif mich bitte mal, damit ich glauben kann, dass er wirklich gerade mit mir gesprochen hat.«
»Würde ich ja, wenn du nicht mich schon kneifen würdest.« Ich löste ihre Finger einen nach dem anderen von meinem Arm.
Brianna wedelte ungeduldig mit der Hand. Sie hatte wieder diesen wild entschlossenen Ausdruck im Gesicht, der sogar unsere Lehrer in Angst und Schrecken versetzen konnte. »Eines Tages, in nicht allzu ferner Zukunft, werde ich ihn heiraten.«
»Weil du ihn ja so gut kennst und er die Liebe deines Lebens ist?«, warf ich trocken ein.
»Nein. Weil ich weiß, was ich will und wie ich es bekomme.«
Eines musste man diesem Mädchen lassen. So süß und unschuldig sie auch wirkte, wenn sie sich etwas vorgenommen hatte, konnte nichts und niemand sie davon abhalten, ihr Ziel zu erreichen. Armer Rick. Er hatte nicht die geringste Chance.
Amüsiert beobachtete ich Brianna dabei, wie sie das Haar zurückwarf, auf dem Absatz kehrtmachte und mit einer Zielstrebigkeit in das Klassenzimmer marschierte, als ginge es darum, gleich eine Bombe zu entschärfen oder einen hochkomplexen Computercode knacken zu müssen. Ich folgte ihr nicht mal halb so motiviert, aber wenigstens konnte ich mich auf eine Revanche in Quiraing heute Abend freuen. Das machte diesen Morgen fast schon wieder erträglich. Aber auch nur fast.
Einige Unterrichtsstunden später ließ ich den Degen sinken, nahm die Maske ab und wischte mir über das verschwitzte Gesicht. Fechten war nicht der beliebteste Sport an meiner Schule, aber ich mochte ihn. Vor allem mochte ich es, all meine überschüssige Energie am Ende eines langen Schultags beim Fechtunterricht rauslassen zu können.
Mir gegenüber nahm auch Brianna die Maske ab. Ihr blonder Zopf hatte sich halb gelöst und Strähnen hingen ihr in die Stirn. Die Wangen glühten und sie atmete schwer, aber ihre Augen leuchteten.
»Du hast schon wieder gegen die Regeln verstoßen«, stellte sie fest, während wir unsere Waffen abgaben und uns auf den Weg in die Umkleide machten.
»Du auch«, konterte ich. »Was war es diesmal?«
»Körperkontakt, um einen Treffer zu vermeiden«, erwiderte Brianna sofort, blieb dann jedoch irritiert stehen. »Moment mal. Was habe ich falsch gemacht?«
Ich warf ihr ein zuckersüßes Lächeln zu. »Mir den Rücken zugewandt.«
»Was? Gar nicht! Außerdem ist das kein offizieller Regelverstoß, sondern …«
»Bringt dir aber trotzdem eine Gelbe Karte ein«, erinnerte ich sie gnadenlos und zog mir die Handschuhe aus. Wenn es eine Sache gab, die Dad mir wieder und wieder eingetrichtert hatte, dann war es, meinen Gegner nicht aus den Augen zu lassen und ihm niemals den Rücken zuzukehren – es sei denn, es gehörte zu meiner Taktik, ihn in Sicherheit zu wiegen. Andernfalls konnte schon ein kleiner Moment der Unachtsamkeit den Tod bedeuten.
Brianna streckte mir jedoch nur die Zunge raus und stapfte in den Umkleideraum. Wasserdampf und der Geruch verschiedener süßer Duschgels erfüllte die Luft. Die anderen Mädchen waren schon fast fertig und packten ihre Sachen zusammen, während wir gerade erst die Sportkleidung auszogen. Als ich den Spind öffnete, registrierte ich das Blinken meines Handys. Ich rechnete mit einer Nachricht von Lance, in der er mir die Uhrzeit für unser Treffen mitteilte, aber es war nicht sein Name, der auf dem Display erschien.
»Alles in Ordnung?«, fragte Brianna neben mir und zog ein großes Handtuch und ihr Shampoo aus dem Schrank.
»Mein Dad hat mir geschrieben. Ich soll nach der Schule im Pub vorbeikommen«, murmelte ich und legte das Handy zurück in den Spind, um meinerseits ein Handtuch und mein liebstes Erdbeerduschgel hervorzuholen.
Kleine Falten erschienen auf Briannas Stirn. »Was will er denn?«
»Keine Ahnung.« Es könnte alles bedeuten. Angefangen damit, dass eine riesige Horde Touristen angekommen war und sie meine Hilfe brauchten, bis hin zu der sehr wahrscheinlichen Möglichkeit, dass ihm mein kleiner Ausflug letzte Nacht tatsächlich nicht entgangen war.
Ich schob die Gedanken daran beiseite, trat in eine freie Duschkabine und ließ mich ein paar herrliche Minuten lang von heißem Wasser und Erdbeerduft einhüllen. Nach einem ausgiebigen Training gab es nichts Besseres – außer vielleicht einem Schaumbad und einem guten Buch. Oder meinen Lieblingstee und selbst gebackene Scones, während der Regen gegen die Fensterscheiben prasselte. Aber die Dusche kam dem auch ziemlich nahe.
Als ich endlich fertig und meine Haut schon ganz rot war, kehrte ich in die Umkleide zurück. Brianna hatte bereits ihr nächstes Sportoutfit angezogen: schwarze Leggings und ein eng anliegendes Shirt. »Und ich wollte gerade fragen, ob ich dich nach Hause fahren soll.«
Brianna richtete sich auf. »Nicht nötig. Ich muss no
ch zum Tanzunterricht«, erwiderte sie und begann sich das Haar zu einem französischen Zopf zu flechten.
»Verrenk dir nichts«, neckte ich sie und zog meine Schuluniform wieder an. Als Kind hatte ich auch Ballettstunden genommen, aber schnell gemerkt, dass ich Pliés hasste und zu wenig Rhythmusgefühl besaß. Also hatte ich es sein lassen und mich anderen Hobbys gewidmet: Kampfsport mit meinem Vater, Wandern, Klettern und, wenn es im Winter tatsächlich kalt genug wurde, Schlittschuhfahren. Ich liebte das Gefühl, über das Eis zu gleiten, auch wenn es ewig her war, seit ich das letzte Mal meine Schlittschuhe angezogen hatte.
Brianna zog eine Grimasse. »Wenn du wirklich im Pub aushelfen sollst, wirst du später mehr Muskelkater haben als ich.«
»Stimmt.« Ich grinste und winkte ihr zum Abschied. »Bis dann!«
Ich verließ die Sporthalle und sog die klare Luft ein, dann machte ich mich auf den Weg zum Pub. Da es nur wenige Minuten zu Fuß waren, ließ ich den Wagen auf dem Schulparkplatz stehen und stellte Briannas Fahrrad für sie in einen der Ständer. Portree war eher ein großes Dorf als eine richtige Stadt. Zur Hochsaison gab es hier mehr Touristen als Einheimische, aber daran hatte ich mich schon vor langer Zeit gewöhnt. Ich liebte die frische Meeresbrise und die bunten Häuser, den Hafen und die kleinen Geschäfte.
Ein Busfahrer ließ mich vor ihm die Straße überqueren und ich hob zum Dank die Hand, bevor ich auf die andere Seite wechselte. Der Boden glänzte noch vom Regen, aber zwischen den Wolken strahlte bereits wieder die Sonne herab. Hätte es da nicht den kühlen Wind von der Küste gegeben, wäre es für Anfang Juni an diesem Nachmittag geradezu warm gewesen. Beim Gedanken daran schüttelte es mich. Ich mochte Hitze nicht und war heilfroh, dass es hier im Norden selten extrem heiß wurde.
Auf dem Weg entdeckte ich eine Gruppe Backpacker, die gerade in einem der vielen Hostels eincheckte. Gut möglich, dass sie später in den Pub kommen würden. Doch als ich diesen schließlich erreichte und die Tür aufstieß, war nicht übermäßig viel los. Der vertraute Geruch von altem Holz, Bier, Whisky, Kaffee und frisch zubereitetem Essen strömte mir in die Nase. Zu der Musik, die in angenehmer Lautstärke im Hintergrund lief, mischten sich die Stimmen der Gäste. Manche saßen an der Bar, andere an den Tischen und blätterten durch die Karte. In einer Ecke hatte es sich eine junge Familie gemütlich gemacht. Der Vater hielt ein Baby auf dem Schoß und tunkte Pommes in den Ketchup auf seinem Teller, während die Mutter einen Burger vor sich hatte und die beiden vergnügt beobachtete.
Neal stand hinter der Bar, die Ärmel seines Hemds bis zu den Ellbogen hochgekrempelt, wodurch die Tattoos auf seiner dunklen Haut erkennbar wurden. Obwohl er gerade dabei war, ein frisches Bier zu zapfen und sich gleichzeitig mit einem Besucher unterhielt, bemerkte er mich und zwinkerte mir zur Begrüßung zu. Ich lächelte. Alles wirkte wie ein typischer Nachmittag im Pub. Es gab keinen ersichtlichen Grund, mich hierher zu zitieren. Also blieb nur noch …
»Avalee!«
Ich erstarrte. Dieser Tonfall hatte nichts Gutes zu bedeuten.
Mein Vater war aus einer Sitznische aufgestanden und blieb mit in die Hüften gestemmten Händen vor mir stehen. In dieser Pose kamen seine Arme, die sowieso schon Baumstämmen ähnelten, noch deutlicher zur Geltung und er wirkte beinahe Furcht einflößend. Sein rotbraunes Haar, der Vollbart, der wütende Blick und die tiefen Falten in seiner Stirn verstärkten diesen Eindruck nur noch.
»Wo warst du gestern Nacht?«
»Im Bett …?«, versuchte ich es mit dem gleichen unschuldigen Lächeln, mit dem Brianna immer durchkam.
Sein Stirnrunzeln vertiefte sich. »Glaub ja nicht, ich wüsste nicht, dass du überall, außer in deinem Bett warst, junge Dame.«
Junge Dame? Autsch. Wenn er mich so nannte, dann steckte ich wirklich in Schwierigkeiten.
Seufzend ließ ich mich auf die gepolsterte Bank fallen. Sie befand sich in einer Ecke des Raums mit Blick auf die gesamte Bar und war dennoch abgeschieden genug, dass niemand unser Gespräch mithören konnte. Auf dem dunklen Holztisch standen bereits ein angefangenes Bier und ein Glas Cola, das auf mich wartete. Koffein. Endlich! Das Zeug, das sie in der Cafeteria servierten, war zum Davonrennen.
»Ich war in Quiraing«, gestand ich.
Dad und ich waren schon immer ehrlich miteinander gewesen. Er hatte mir von Neal erzählt, noch bevor sie richtig zusammengekommen waren, er ließ mich an den Schwierigkeiten in der Destillerie ebenso teilhaben wie an den Erfolgen. Und ich hatte ihm schon als Siebenjährige von dem Jungen erzählt, den ich toll fand, der sich später jedoch als Idiot entpuppte, als er mich von einer Schaukel schubste. Genauso wie von meinen Problemen, in der Schule richtig Anschluss zu finden. Denn obwohl ich wie die meisten meiner Mitschüler auf Skye aufgewachsen war, würde ich für immer das Mädchen bleiben, das im Alter von sechs Jahren beinahe ertrunken war und nur überlebt hatte, weil ein kleiner Junge ihm das Leben gerettet hatte. Das Mädchen, das seine Mutter bei dem schlimmsten Schiffsunglück der letzten zweihundert Jahre verloren hatte. Und Kinder konnten grausam sein.
Mein Vater setzte sich mir gegenüber an den Tisch und schob sein Glas zur Seite. »Du warst jagen.«
Ich nickte.
»Wie oft habe ich dir gesagt, dass du nachts nicht allein rausgehen sollst?«
Ich hätte schwören können, dass die Gläser und Flaschen hinter der Bar erzitterten, so zornig klang er. Ein Knoten begann sich in meinem Magen zu bilden, aber ich zuckte nicht zusammen, wich seinem Blick nicht aus. Stattdessen reckte ich das Kinn vor. »Dann hättest du mir nichts von diesen Wesen erzählen und mich nicht trainieren sollen. Was soll ich deiner Meinung nach sonst tun? Zu Hause herumsitzen und Däumchen drehen?«
Es war meine Standardantwort. Inzwischen hatte ich es aufgegeben zu zählen, wie oft wir diese Diskussion schon geführt hatten. Und sie endete immer damit, dass wir beide laut wurden. Aber egal wie sehr wir uns stritten, ich wusste trotzdem ohne jeden Zweifel, dass mein Vater immer für mich da war. Sollte ich mir zehn Sekunden nach unserem Streit den Arm brechen oder wegen einer schlechten Note zu ihm kommen, wäre alles andere sofort wieder vergessen.
»Das habe ich getan, um dich zu beschützen!« Seufzend rieb er sich über den breiten Nacken. Seine Hände waren schwielig von der jahrelangen Arbeit in der Destillerie, dem Mithelfen in Neals Pub und dem Kampf gegen Elementare. »Das haben wir doch schon durch. Du sollst dich verteidigen können – und nicht plötzlich ständig allein auf die Jagd gehen. Und das auch noch jede Nacht.«
»Nicht jede Nacht …«
Es war nur jede dritte. Meistens.
»Avalee!«
Diesmal zuckte ich zusammen, aber nicht aufgrund seines scharfen Tonfalls, sondern weil ich neben der Wut noch etwas anderes in seinen Augen lesen konnte: Sorge. Er hatte sich gestern wirklich Sorgen um mich gemacht. Ich öffnete den Mund, um ihm zu versichern, dass ich auf mich aufpasste und er sich keine Gedanken machen müsste, weil ich den besten Trainer gehabt hätte, den man sich wünschen könnte. Und weil ich nicht allein unterwegs sei, sondern in den meisten Nächten Unterstützung bekäme. Doch dann schloss ich den Mund unverrichteter Dinge wieder. Dad wusste nichts von Lance – und daran würde ich nichts ändern. Es war nicht mein Geheimnis, sondern seines, und außerdem nicht meine Aufgabe, meinem Vater davon zu erzählen. Ich wusste nicht, warum Lance tat, was er tat, aber ich würde ihn nicht verraten. Genauso wenig wie er mich. Wenn ich auf eine Sache zählen konnte, dann darauf.
»Avalee …«, wiederholte er, diesmal eine Spur leiser und eindringlicher. »Genug ist genug. Ich möchte, dass du damit aufhörst. Ein für alle Mal.«
»Was?« Meine Stimme klang schrill. Hohl. Unnatürlich. Sekundenlang konnte ich ihn nur anstarren. Er wollte, dass ich mit dem Jagen aufhörte? Für immer? Mit der einzigen Sache in meinem Leben, derer ich mir absolut sicher war und die mir das Gefühl gab, etwas zu bewirken?
Ein bedrückter Ausdruck legte sich auf seine Miene, doch das täuschte nicht über die Entschlossenheit hinweg. »Ich möchte, dass du mit der Jagd aufhörst. Es war ein Fehler, dir alles zu er
zählen und beizubringen. Ich dachte, ich würde dich damit beschützen, aber in Wahrheit habe ich dich damit einer viel größeren Gefahr ausgesetzt.«
War es wegen der Sache mit dem Camper, die heute in allen Nachrichten kam? Sicher, das Thema Jagd war schon länger ein Streitpunkt zwischen Dad und mir gewesen, aber nie zuvor hatte er von mir verlangt, dass ich es gänzlich aufgab. Er hatte mir immer nur zu verstehen gegeben, dass er es nicht guthieß, was ich tat, und dass ich auf mich aufpassen sollte. Aber da war ich meistens auch tagsüber an den Wochenenden losgezogen und nicht mitten in der Nacht, wenn ich am nächsten Tag zur Schule musste.
»Das ist nicht dein Ernst!«, platzte ich heraus.
»Doch, ist es. Wenn wir zu Hause sind, gibst du mir deine gesamte Ausrüstung. Kein heimliches Wegschleichen, kein Aus-dem-Fenster-Klettern, keine nächtlichen Ausflüge mehr. Zwing mich nicht dazu, dir den Autoschlüssel wegzunehmen«, fügte er hinzu, als ich schon nach Luft schnappte, um zu protestieren.
»Das kannst du nicht machen«, stieß ich hervor. »Warum jetzt? Weil ich mich ein Mal nachts weggeschlichen habe?«
»Ein Mal?«, wiederholte er ungläubig. »Ich kann gar nicht mehr zählen, wie oft du nicht da warst, wenn wir aus dem Pub gekommen sind, oder wie oft ich mitten in der Nacht aufgewacht bin und der Jeep weg war. Du gibst nicht Bescheid und gehst unnötige Risiken ein. Wie oft bist du in letzter Zeit mit blauen Flecken heimgekommen, hm? Und was ist das da an deinem Hals?«
Ich unterdrückte den Impuls, mir an die Kehle zu fassen. Nur bei genauem Hinsehen entdeckte man die roten Spuren, die größtenteils vom Kragen meiner Bluse und einer Schicht Make-up verdeckt wurden. Die meisten Leute würden sie vielleicht für Knutschflecken halten, aber Dad wusste es besser. Er wusste es, weil er es ebenfalls mit dieser Sorte von Elementaren aufgenommen hatte und diese Begegnung ihn fast das Leben gekostet hätte. Mich auch, wenn Lance nicht aufgetaucht wäre … Aber im Gegensatz zu Dad war ich nur mit ein paar Schrammen nach Hause gekommen, nicht mit einem Knochenbruch, der ihn monatelang auf Krücken hatte gehen lassen, nachdem er eine Klippe hinuntergestürzt war. Danach war er immer seltener jagen gegangen und als er kurze Zeit später Neal kennengelernt hatte, hatte er ganz damit aufgehört.