by L.J. Shen
»Gute Nacht, Bazillchen.«
Ein angedeutetes Kopfnicken in der Dunkelheit. Lächelnd knipste ich die Dora-Lampe neben der Tür an. Auch okay.
KAPITEL 13
TRENT
Während des Dates mit Katie DeJong musste ich unweigerlich an Trent, den Teenager, denken.
Er hätte sich niemals vorstellen können, eines Tages hier zu sitzen, Lobster zu essen (er hasste Lobster), importierten Wein zu trinken, obwohl er in Kalifornien lebte (er hasste Wein), und über das Für und Wider von College-Rankings zu diskutieren (das Thema ging ihm am Arsch vorbei).
Aus exakt diesem Grund war ich nie mit Frauen ausgegangen. Es langweilte mich. Das Endziel – Heirat und Kinder – interessierte mich nicht, und das kurzfristige Zwischenspiel – Sex – konnte ich auch so haben, ohne den lästigen Umweg über eine Essenseinladung.
Ich sagte während der ganzen Zeit nicht mehr als sechzehn Sätze, andererseits war ich auch nicht unhöflich. Anschließend begleitete ich Katie zu ihrem Wagen, dabei lächelte ich sie an, aber ich versprach ihr nicht, sie anzurufen. Als sie sich näher beugte, um einen Kuss einzufordern – von der Art, wie ich ihn einer Dauergespielin niemals geben würde –, wich ich geschickt aus und drückte die Lippen kurz auf ihre Wange.
Dann machte ich, so schnell es ging, die Flatter und realisierte erst beim Einparken in der Tiefgarage, dass ich mich weder erinnern konnte, was sie angehabt noch welche Farbe ihr Haar hatte.
Als ich im Aufzug stand, übermannte mich auf einmal ein eigenartiges Gefühl von Dringlichkeit. Die Tatsache, dass ich ausgegangen war und mein Kind in der Obhut einer praktisch Fremden gelassen hatte, ergab plötzlich so gut wie keinen Sinn mehr. Ich wusste über Edie Van Der Zee nur, dass sie eine Lügnerin, eine Diebin und ein Mädchen mit Problemen war. Wieso ich sie unbeaufsichtigt auch nur in die Nähe meiner Tochter gelassen hatte, war mir ein Rätsel. Ich war auf hundertachtzig, noch bevor ich meinen Schlüssel ins Schloss steckte. Als ich sie öffnete und sah, was sich hier abgespielt hatte, bekam ich fast einen Tobsuchtsanfall.
Eine Pizzaschachtel stand auf der Kochinsel, die Küche und der angrenzende Wohnbereich rochen nach fettigem Teig und ekligen Pilzen. Zwei Coladosen auf dem Tresen – natürlich hatte sie sich nicht mal die Mühe gemacht, sie in den Müll zu werfen. Zu allem Übel fand ich Edie dann auch noch schlafend auf der Couch im Wohnzimmer vor, neben ihr mein Laptop. Sie hatte ohne Zweifel herumspioniert und versuchte noch nicht einmal, es zu verhehlen.
Ich ging zu ihr, steckte die Hände in die Hosentaschen und betrachtete sie. Ihre Brust, die sich gleichmäßig hob und senkte. Ihre blonden Augenbrauen. Ihre vollen rosa Lippen, das goldene Haar. Ihre gebräunten, anmutig geschwungenen Schultern. Ihre Sommersprossen.
»Wach auf«, befahl ich mit eisig klirrender Stimme, und sie begann, sich zu regen.
Flatternd hoben sich ihre Lider, doch sie setzte sich erst auf, als ich noch einen Schritt näher zu ihr trat und ihren Arm mit dem Knie anstieß.
»Hi«, sagte sie heiser. »Wie war’s?«
Ich ging nicht darauf ein. »Du hast Pizza bestellt. Meine Tochter isst solchen Dreck nicht.«
Es ging nicht um die Pizza. Sondern um den Laptop. Nicht dass irgendetwas darauf zu finden gewesen wäre – ich speicherte alles auf meinem USB-Stick –, aber es machte mich fuchsteufelswild, dass ich ihr mein Kind anvertraut und sie im Gegenzug die Zeit in meiner Wohnung damit verbracht hatte, mich zu hintergehen. Ein weiteres Mal. Hatte sie Luna den ganzen Abend ignoriert, um Hacker zu spielen?
Diese Sache zwischen uns war völlig aus dem Ruder gelaufen, uns brannten beiden die Sicherungen durch.
»Ich habe sie selbst bezahlt, und Luna hatte nur ein Stück davon. Außerdem habe ich sie genötigt, die Paprika und die Pilze mitzuessen, falls das einen Unterschied macht.« Edie rieb sich gähnend die Augen, bevor sie aufstand und ihre Gliedmaßen streckte. Sie war barfuß, ihr violettes Tanktop und die abgeschnittenen Jeans hafteten an ihr wie angegossen.
»Und Cola? Im Ernst? Schon wieder?«, knurrte ich ihr ins Gesicht. Ich war wütend. Unfassbar wütend. Auf Mel und Katie und Edie und Luna und Val, auf das ganze Leben. Verdammt, warum mussten Frauen auch so kompliziert sein? Ich gab mir die größte Mühe, mich tunlichst von ihnen fernzuhalten, aber sie schienen einfach überall zu sein.
»Krieg dich wieder ein, Trent. Sie hat ihre Zähne geputzt. Es war eine einmalige Sache, darum dachte ich, wir dürften sündigen. Und damit meine ich, wirklich sündigen. Ach, das bringt ja eh nichts!« Sie stürmte zur anderen Zimmerseite, hockte sich auf den Boden und zog ihre Schuhe an. Ich wollte, dass sie verschwand. Zumindest redete ich mir das ein.
»Und zu guter Letzt auch noch der Computer? Ohne Witz? Du hast einfach null Klasse.«
»Wir haben uns YouTube-Videos angeschaut!«, blaffte sie, bevor sie sich ihren Rucksack schnappte und aufsprang. »Was ist schon dabei?«
»YouTube-Videos. Schon klar.« Spöttisch lachend fischte ich mein Portemonnaie aus meiner Gesäßtasche und nahm ein paar Geldscheine heraus, um sie zu bezahlen. »Warst nicht du diejenige, die mir gesagt hat, man solle niemals jemanden verarschen, der das besser kann?«
»Ich verarsch dich nicht.«
Ich klatschte ihr das Geldbündel gegen die Brust und fauchte: »Geh einfach.«
»He, warte …« Sie eilte mir hinterher, als ich mich abwandte und zu Lunas Zimmer steuerte. Das Geld fiel zu Boden. Sie hob es nicht auf.
»Luna hat gesprochen.«
Ich drehte mich auf dem Absatz um und kniff die Augenbrauen zusammen.
»Edie …«, warnte ich sie. Falls sie mich erneut anlog, würde das Konsequenzen haben. Sie nestelte und zupfte am Saum ihres Shirts, aber ihr Blick war entschlossen und unerschrocken. Sie wich meinem nicht aus.
»Ich schwöre! Als ich sie zu Bett brachte. Ich sagte ihr, dass mir der Abend Spaß gemacht habe, und sie antwortete: ›Mir auch.‹ Zwar leise, trotzdem habe ich es gehört, Trent. Das Einzige, was ich wollte, war, ihr das Gefühl zu geben, dass sie kein Roboter ist, kein bedauernswertes Wesen. Wir haben Junkfood gegessen und über ihre Schlafenszeit hinaus ferngesehen. Wir haben gegen die Regeln verstoßen, und sie hat überlebt. Nicht nur das, ich bin sicher, dass sie sich amüsiert hat. Vielleicht hilft ihr das, die Therapiesitzungen nächste Woche zu überstehen und besser damit klarzukommen, dass du dich verhältst, als wäre ihre Situation aussichtslos.«
Ich rieb mir die Stirn. Edie tat es schon wieder. Sie brachte mich durcheinander. Und das Schlimmste war, dass ich ihr glaubte. Vielleicht war das ein Fehler, aber ich klammerte mich an jedes ihrer Worte, ließ sie sacken und mich von ihnen berauschen. Luna hatte gesprochen! Dies wäre ein gigantischer Durchbruch, aber es könnte mich zermürben, wenn ich es wagte, mich daran festzuklammern und auf weitere Erfolge zu hoffen – und ich war mir nicht sicher, ob ich Edie über den Weg trauen durfte.
Aus sicherer Entfernung starrten wir uns einen langen Augenblick an.
»Sie hat gesprochen«, echote ich schließlich. Es kam mir vor wie ein Wunder. Als würde sie morgen aufstehen und munter über das Wetter plaudern. Das würde nicht der Fall sein, aber Edie war erst die zweite Person, mit der Luna je geredet hatte.
Sie nickte. »Ihre Stimme ist so süß und zart. Wie Samt auf kühler Haut.«
Wer um alles in der Welt drückte sich so aus? Edie. Sie drückte sich so aus. »Ich habe sie nie gehört.«
»Das solltest du. Sie klingt toll.«
Ich glaubte ihr.
Sie schluckte. »Lass sie mich am Sonntag mit an den Strand nehmen. Sie war noch nie im Meer. Ich möchte … ihr Dinge zeigen.«
Ich senkte den Blick, das Nein lag mir schon auf der Zunge. Ich hatte Angst um meine Tochter und wollte sie Edie nicht außer Haus anvertrauen. Und ich könnte mich ihnen nicht anschließen, weil das weder angemessen noch der wilden Besessenheit, die ich in Bezug auf dieses Mädchen entwickelte, zuträglich gewesen wäre.
»Weißt du, was dein Problem ist, Trent?« Sie fauchte, spie Feuer, aber ich war zu egoistisch, um sie zu
beschwichtigen. Ich liebte ihr hitziges Temperament, das Chaos, das sie anrichtete. Ohne fühlte ich mich leer. Darin lag eine gewisse ausgleichende Gerechtigkeit.
»Nein, aber bestimmt wirst du es mir verraten.«
»Du kämpfst gegen die Strömung, ruderst mit den Armen, trittst mit den Beinen, versuchst, ihr zu entkommen, sie zu überwinden. Der Trick besteht darin, sich treiben zu lassen, die Welle zu reiten. Fürchte dich nicht davor, nass zu werden.«
Das war ich längst. Ich war triefend nass, verdammt. Die Hälfte der Zeit hatte ich das Gefühl zu ertrinken. Vielleicht wollte sie mir genau das vor Augen führen. Man konnte vieles von Edie behaupten, aber nicht, dass sie dumm war.
»Vergiss dein Geld nicht.« Ich zeigte auf den Fußboden, dann räusperte ich mich und wandte den Blick ab. Ich fühlte mich, gelinde gesagt, unbehaglich, und das war eine extrem neue Erfahrung. Sie ging zu den Scheinen, hob sie auf und nahm die obersten vier, lauter Fünfziger, an sich.
»Hier.« Sie versuchte, mir den Rest zurückzugeben. »Es dürften nicht mehr als vier Stunden gewesen sein.«
»Es gehört dir.« Ich schüttelte den Kopf und schloss ihre Finger um das Bündel. »Alles.«
»Hä?« Sie blinzelte und blätterte die Scheine durch wie ein Daumenkino. »Das ist aber eine Menge Asche.«
»Zwölftausend Dollar.«
»Was?!«
Ich zuckte die Achseln und fixierte mit den Augen die Pizzaschachtel, um mich daran zu hindern, etwas Dummes zu tun. »Du hast gesagt, du brauchst diesen Betrag. Ich werde dich nicht fragen, wofür. Aber als ein verantwortungsvoller Erwachsener will ich dir den dringenden Rat geben, dieses Problem zügig aus der Welt zu schaffen, weil man eine solche Summe nicht ohne weiteres jeden Monat heranschafft.«
»Ich nehme die Bezahlung samt Trinkgeld dankend an, aber das hier kann ich nicht behalten.« Sie streckte mir das Bündel hin.
»Du kannst und du wirst, verflixt noch eins.«
»Nein.« Sie trat einen Schritt zurück, und wieder fiel das Geld auf den Boden. Wir achteten nicht darauf, waren beide zu abgelenkt. Um die Scheißkohle ging es jetzt überhaupt nicht.
»Nenn mir einen einzigen Grund, wieso nicht.«
Sie begann, an den Fingern abzuzählen. »Erstens: Es ist sehr viel Geld, und ich habe es mir nicht verdient. Zweitens: Ich würde in deiner Schuld stehen. Und drittens: Weil wir keine Freunde sind. Wir sind Feinde.«
Ich benutzte die gleiche Argumentationsschiene. »Erstens: Es mag viel Geld sein, aber nicht für mich. Zweitens: Ich erwarte keinerlei Gegenleistung von dir. Und drittens: Es ist niedlich, dass du glaubst, wir wären Feinde. Wir spielen nicht in derselben Liga.«
Ihr Blick verriet mir, dass meine diffamierenden Worte sie kaltließen. Und das aus gutem Grund. Dieses Mädchen hatte es mehrmals geschafft, mir mein Zeug zu klauen. Edie mochte mir unterlegen sein, aber sie wusste, wie man sich zur Wehr setzte, so viel stand fest.
Ich rechnete damit, dass sie sich weiter mit mir herumstreiten würde – wie sie es bisher bei jedem Thema getan hatte –, aber sie überraschte mich, indem sie das Geld in ihre Tasche steckte. Sie schluckte sichtlich – vermutlich ihren Stolz –, bevor sie sich ihren Rucksack über die Schulter hängte und still und leise zur Tür ging. Wieder wandte ich die Augen ab, weil ich mich bei ihrem Anblick wie ein Mistkerl fühlte.
»Ich danke dir, Trent.«
»Ist schon gut.«
»Nein, ich meine es ernst.«
Dasselbe galt für mich. Ich hatte keine Ahnung, in was sie da hineingeraten war, aber der Gedanke, dass sie bis zum Hals in Schwierigkeiten steckte, machte mir zu schaffen.
Ich lehnte mich an den Tresen, dabei bemerkte ich am Rand meines Blickfelds, wie die Tür langsam zuglitt. Ich konnte nicht widerstehen, ihr zu zeigen, dass ich nicht nur klatschnass wurde, sondern wir beide ertrinken würden, wenn wir nicht achtgaben.
»Bist du noch da?«, rief ich.
Sie antwortete nicht, aber ich hörte auch nicht das Klicken der automatischen Verriegelung.
»Das Date war ein Reinfall.«
Ich hörte das Lächeln in ihrer Stimme, als sie sagte: »Ich hatte keinen Sex mit Bane, nachdem du mich im Park aufgegabelt hast.«
Klick.
Ich folgte ihr nicht. Trotzdem war ich erledigt, weil ich wusste, beim nächsten Mal – würde ich es tun.
KAPITEL 14
EDIE
Liebe ist gnadenlos.
Liebe ist grausam.
Liebe ist kein Gefühl, sondern eine Waffe.
Liebe zerstört.
Liebe zerstört.
Liebe zerstört.
Auf dem Rückweg von meinem Besuch bei Theo konnte ich nicht aufhören, diesen Vers zu lesen. Mein Auto hatte zwei Tage zuvor den Geist aufgegeben und befand sich in der Werkstatt. Da ich mir weder ein Taxi noch einen Uber-Wagen leisten konnte, hatte ich hin und zurück den Bus genommen und umsteigen müssen. Das gab mir die Zeit, in einem alten Taschenbuch zu schmökern, das ich aufgestöbert hatte. Es handelte sich um die Autobiografie eines französischen Dichters, der später Selbstmord beging, als seine Verlobte ihn wegen eines Mannes verließ, den sie als Krankenschwester in der Armee gepflegt hatte. Da sein Nebenbuhler ein Held war, hatte der Lyriker keine Chance; seine Liebe wurde verschmäht.
Liebe zerstört. Für mich waren das nicht einfach nur Worte. Sie hatten Gewicht, einen Geruch, eine hässliche Farbe, die niemals verblasste. Jeder Mensch, den ich je geliebt hatte, hatte mich verletzt.
Ich musste immer noch eine Möglichkeit finden, um Trents Speicherstick in die Finger zu bekommen. Er trug ihn permanent bei sich – er hatte mir, während er gerade eine andere Frau vögelte, mitgeteilt, dass er sich in seiner Hosentasche befinde –, und er war eindeutig zu clever, um irgendetwas von dem, worauf mein Vater es abgesehen hatte, auf einem seiner Geräte zu lassen. Das machte meine Aufgabe noch schwerer, als sie ohnehin schon war, aber wenigstens erkannte ich allmählich ein Muster in Trents Alltagsroutine, eine Information, um die Jordan mich ebenfalls gebeten hatte.
Ich legte das Buch aus der Hand und ließ den Blick durch das Fenster über den Pazifischen Ozean schweifen.
»Das wird schon wieder«, sagte jemand in meiner Nähe. Keine Ahnung, ob er mich meinte oder telefonierte, was aber auch egal war, weil ich ihm sowieso nicht glaubte. Nicht eine Sekunde. Ich angelte mein Handy aus meinem Rucksack und checkte meine Nachrichten.
Bane
Gehen wir morgen surfen?
Anonym
Falls sie dich morgen begleitet, möchte ich, dass ihre Großmutter dabei ist.
Trent.
Wie ich zu meiner Schande gestehen muss, versetzte mir die Vorstellung, dass er sich die Mühe gemacht hatte, mir eine SMS zu schreiben – diese Zeit für mich geopfert hatte –, einen Kick. Was hatte dieser Mann bloß an sich, das mich dazu brachte, alle meine Prinzipien über Bord werfen zu wollen? Die da lauteten: keine emotionalen Bindungen, keine Verwicklungen und vor allen Dingen nur ja nicht den Tiger – Jordan Van Der Zee – reizen und ihm somit einen Grund zu liefern, Theo zu attackieren.
Ich versuchte, mich selbst zu überzeugen, dass mein Vorhaben völlig harmlos war. Ich würde mit Luna an den Strand gehen. Trent würde nicht dabei sein. Die Anstandsregeln wurden eingehalten. Klang doch alles ganz vernünftig. Und es würde Luna guttun, ohne ihn mit dem Ozean Bekanntschaft zu machen. Ich antwortete Bane:
Kann leider nicht. Ich nehme die Tochter meines Chefs mit an den Strand, um Muscheln zu sammeln. Nächste Woche.
Kuss
Danach schrieb ich noch eine Nachricht, löschte, ergänzte, korrigierte und löschte sie wieder, ehe ich sie schließlich abschickte.
8 Uhr/ Tobago Beach/ beim Surfclub
Zu Hause fand ich meinen Vater am Esstisch vor, was bedeutete, dass er eine Unterredung wünschte. Eine, die ich sehr wahrscheinlich nicht führen wollte. Ich verlangsamte meine Schritte, während er mit dem Fuß den Stuhl ihm gegenüber unter dem Tisch hervorschob, ein wortloser Befehl, mich z
u setzen.
Widerwillig gehorchte ich.
Mein Leben glich nicht einem einheitlichen Stück Stoff, sondern einer Patchworkdecke. Es gab den Surfen-und-Bane-Flicken. Den Psychisch-kranke-Mutter-Flicken. Den Kontrollfreak-Jordan-Flicken. Den Theo-Flicken. Und obwohl sie zusammengenäht waren, wiesen sie keinerlei Überlappungen auf. Jedes Quadrat bildete seine eigene Insel. Und ich hasste nichts mehr, als aus dem weichen reinen Theo-Flicken direkt in den rauen verschlissenen Jordan-Flicken katapultiert zu werden. Genau das passierte jetzt.
»Wie geht es Theodore?«, erkundigte er sich zu meinem Erstaunen, doch wie nicht anders zu erwarten, checkte er dabei die Aktienkurse auf seinem Laptop, der vor ihm auf dem Tisch stand. Sein Blick haftete auf dem Monitor, während ich meine Hände zwischen den Schenkeln vergrub und ein lautes Schlucken unterdrückte.
»Besser.«
»Ach ja?«
Sein Zustand interessiert dich doch gar nicht, du gefühlskalter Mistkerl. Darum tu nicht so, als ob. »Es gibt da dieses Spezialprogramm, das es den Patienten erlaubt, ihre Familien zu Hause zu besuchen. Für zwei Nächte, wobei sie durchgehend überwacht werden. Er würde gern daran teilnehmen.« Jetzt schluckte ich den Kloß in meiner Kehle doch hinunter. Was blieb mir anderes übrig? Ich hatte zu flehentlich geklungen, und ein Nein zu hören würde mir das Herz brechen.
»Das ist wundervoll für die Familien, Edie. Gibt es etwas Neues zu Rexroth?« Er schoss einen Blick auf mich ab, und mir sank der Mut.
Für die Familien.
Nicht für uns. Wir waren keine Familie.
Mit meiner Mutter darüber zu sprechen würde wieder in einen Streit ausarten. Sie würde mir sagen, dass sie das mit meinem Vater bereden müsse und sich unter Druck gesetzt fühle. Und Jordan … er fand Gefallen daran, uns zu entzweien. Abgesehen davon hatte er soeben auf seine ureigenste Art Nein gesagt.
»Edie?«
Ich schaute blinzelnd hoch. Er bedachte mich mit einem schmalen, warnenden Lächeln, klappte den Laptop zu, schob ihn zur Seite und verschränkte die Arme vor der Brust. »Rexroths USB-Stick?«