002 - Someone Else

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002 - Someone Else Page 3

by Laura Kneidl


  »Ich bin mal dort drüben«, sagte ich und deutete auf einen Stand ein paar Meter weiter.

  Auri hob kurz den Blick. »Ich komm gleich nach.«

  Ich lief zu dem Stand, an dem vor allem DVDs und Bücher angeboten wurden. Der Besitzer, ein älterer Mann mit blasser Haut und löchrigem Bartwuchs, murmelte ein knappes »Hallo«, bevor er sich wieder seinem Sudokuheftchen widmete.

  In den Kartons lagen alte, meist zerfledderte Bücher. Es waren auch einige fremdsprachige Ausgaben dabei, und ich fragte mich, woher der Mann sie hatte. Jedenfalls war es eine bunte Mischung. Ich fand eine deutsche Ausgabe von Eragon und ein italienisches Exemplar von Cassandra Clare, aus dem sich bereits Seiten lösten. Als ich das Buch zurücklegte, fiel mein Blick auf ein illustriertes Cover.

  Ich schnappte nach Luft. Das konnte nicht sein …

  Hastig griff ich nach dem Buch und betrachtete die Illustration von John Howe, der zahlreiche Bilder für die Werke von Tolkien angefertigt hatte. Obwohl ich die Sprache nicht beherrschte, erkannte ich, dass es sich um die indonesische Herr der Ringe -Ausgabe aus dem Jahr 2002 handelte, die so garantiert nicht mehr gedruckt wurde. Sie wäre perfekt für Auris und meine Sammlung.

  Auri hatte bereits vor Monaten vorgeschlagen, gemeinsam eine Sammlung mit Herr der Ringe -Ausgaben anzulegen, nachdem ich ihm zu seinem Geburtstag eine Sonderedition geschenkt hatte. Ich war sofort Feuer und Flamme für die Idee gewesen. Schließlich war unsere Freundschaft aus unserer Verehrung für Tolkien heraus entstanden, und ohnehin liebte ich alles, was ich gemeinsam mit Auri unternehmen konnte. Inzwischen besaßen wir fünfundzwanzig Exemplare, und für mich fühlte es sich so an, als würde mit jedem weiteren Buch nicht nur unsere Sammlung, sondern auch unsere Freundschaft wachsen.

  »Entschuldigung!« Ich beugte mich über den Tisch. »Wie viel wollen Sie dafür?«

  Der Verkäufer hob den Blick von seinem Sudokuheft. Nachdenklich betrachtete er das Buch in meinen Händen und hob das Basecap auf seinem Kopf an, um sich den Schweiß mit dem Unterarm von der Stirn zu wischen.

  »Zwanzig Dollar.«

  »Ich geb ihnen zehn«, sagte ich entschlossen und forscher als für mich üblich. Ich war in einem Dorf aufgewachsen und hatte mit meiner Großmutter früher viele Flohmärkte besucht. Daher wusste ich, dass Handeln zum guten Ton gehörte.

  »Achtzehn.«

  »Zwölf.«

  »Siebzehn.«

  »Fünfzehn.«

  Die Mundwinkel des Mannes zuckten. »Einverstanden.«

  Ich holte meinen Geldbeutel hervor, wobei mein Arm von dem Zusammenstoß mit dem Mann noch immer etwas schmerzte, und bezahlte. Anschließend wünschte ich dem Händler noch einen erfolgreichen Tag, bevor ich mich nach Auri umsah.

  Wie erwartet stand er noch immer bei den Sammelkarten.

  Mit ausgestreckten Ellenbogen kämpfte ich mich zu ihm durch. Als ich bei ihm ankam, reichte er der Verkäuferin gerade dreißig Dollar im Austausch gegen eine Tüte mit seinen Karten.

  »Viel Glück beim nächsten Spiel«, sagte die Frau mit einem Lächeln, das feine Fältchen um ihre Augen zauberte.

  »Danke. Und Ihrer Tochter viel Erfolg beim nächsten Turnier.« Auri wandte sich ab, um zu gehen, stockte jedoch abrupt in der Bewegung, als er bemerkte, dass ich direkt hinter ihm stand. »Huch! Ich dachte, du wolltest zu einem anderen Stand gehen?«

  Ich hielt das Buch hinter meinem Rücken versteckt. »Da war ich schon.«

  »Sorry, dass ich so lange gebraucht habe.«

  »Kein Problem.« Ich machte eine wegwerfende Handbewegung. »Rate mal, was ich gekauft habe!«

  »Fuchs-Kochhandschuhe?«

  »Nein.«

  »Eine Fuchs-Tasse?«

  »Nein, viel besser.« Ich zog das Buch hinter meinem Rücken hervor und präsentierte ihm stolz das Cover, das mich nach Luft hatte schnappen lassen. »Ta-daaaa!«

  Auris Augen wurden groß. »Ist das …?«

  »Ja!«, unterbrach ich ihn mit einem breiten Grinsen.

  Er griff nach dem Buch und drehte es in den Händen. Andächtig strich er über das Cover und ließ die Finger vorsichtig um einen kleinen Riss am oberen Rand des Umschlags gleiten, als handelte es sich dabei um eine offene Wunde, die nicht berührt werden durfte. Dann klappte er das Buch auf und betrachtete die vergilbten Seiten mit den fremdartigen Wörtern. »Das ist der Hammer.«

  Ich vollführte vor Begeisterung einen kleinen Hüpfer. »Ich wusste, dass es dir gefallen würde.«

  »Das wird sich hervorragend in unserer Sammlung machen.« Ein letztes Mal strich Auri über den Einband, dann steckte er das Buch in die Tasche zu seinen Sammelkarten und sah wieder mich an. »Hast du Lust auf ein Eis?«

  »Walnuss und Vanille«, sagte Auri, als wir endlich an der Reihe waren. Wir hatten eine gefühlte Ewigkeit nach einem Eiswagen suchen müssen, und der Schlange nach zu urteilen, war dies der einzige auf dem gesamten Flohmarkt.

  Die Eisverkäuferin, eine junge Frau in meinem Alter, füllte zwei Kugeln in eine Waffel und reichte sie Auri, bevor sie sich an mich wandte. »Und für dich?«

  Unentschlossen ließ ich den Blick über die Auslage wandern. Das Eis sah verdammt lecker aus, und die Auswahl war groß, aber mehr als eine Kugel zu nehmen, wäre unvernünftig gewesen. Nicht nur, weil das Eis ziemlich teuer war, sondern auch, weil heute Abend der Besuch in der Pizzeria anstand und all diese Kohlehydrate meinem Blutzucker so gar nicht guttaten.

  »Für mich Erdbeere«, wählte ich kurz entschlossen.

  Auri fischte einen Zehndollarschein aus seiner Hosentasche, den er der Frau reichte. Sie bedankte sich, und wir machten Platz für die Nächsten in der Schlage, die einfach nicht kürzer zu werden schien.

  Der Eiswagen stand günstig neben ein paar Bäumen, in deren Schatten sich schon einige Leute zusammengefunden hatten. Doch Auri und ich entdeckten noch ein freies Fleckchen.

  Ich hockte mich ins Gras. »Danke für die Einladung.«

  »Klar, du hast immerhin das Buch bezahlt«, sagte Auri und setzte sich mir gegenüber. So dicht, dass ich mich nicht einmal hätte anstrengen müssen, um ihn zu berühren.

  Ich reichte Auri mein Eis, damit er es kurz für mich halten konnte, während ich meine Zuckerwerte kontrollierte, die aufgrund der andauernden Hitzewelle doch stark schwankten und zum Unterzucker neigten. Doch es war alles in Ordnung, sodass ich mir nur etwas Insulin nachspritzte.

  »Wie sieht dein Trainingsplan für nächste Woche aus?«, erkundigte ich mich bei Auri, nachdem ich meine Sachen weggepackt und mein Eis wieder an mich genommen hatte. »Wenn du etwas Zeit hast, könnten wir zu Laureen gehen und Stoffe für unsere Kostüme aussuchen.«

  Auri leckte einmal um das Eis herum, das bereits nach wenigen Sekunden zu schmelzen begonnen hatte. »Das wird leider knapp. Der Coach will uns jeden Morgen um halb sieben auf dem Sportplatz sehen, und abends haben wir 7on7-Spiele. Außerdem hab ich zugesagt, ein paar alte Tapes mit den Frischlingen durchzugehen, die bereits in der Stadt sind.«

  »Schade. Und dazwischen irgendwann?« Ich sah auf mein eigenes Eis und bemerkte ein rosafarbenes Rinnsal, das sich einen Weg über meine Hand bahnte. Schnell fing ich es mit der Zunge auf.

  »Vielleicht, ich weiß es nicht«, sagte Auri, während er mich aufmerksam beobachtete. »Die Woche ist ziemlich voll. Ich hab ein Marketing-Gruppenprojekt, und in Grafikdesign sollen wir Animationen für eine Werbekampagne entwerfen. Aber vielleicht kann ich es irgendwo dazwischenquetschen.«

  »Das musst du nicht, wir gehen einfach die Woche drauf«, erwiderte ich mit einem schwachen Lächeln, obwohl ich mich schon so auf den Besuch im Stoffladen gefreut hatte.

  Ich besuchte Laureen gerne. Wir waren keine Freunde, aber für die Dauer meiner Besuche in ihrem Laden fühlte es sich so an. Sie bot mir immer eine Tasse Tee an, und wir tauschten uns über unsere Näh- und Bastelprojekte aus.

  »Danke für dein Verständnis. Ich weiß, dass du am liebsten gestern losgelegt hättest.«

  »Ja, aber vermutlich ist es so besser. So kann ich Ciris Kostüm noch etwas besser durchplanen.«

  »Vielleicht könntest du dir auch Geralt mal anschauen?«

&
nbsp; Ich lächelte. »Klar.«

  Ich schneiderte bereits seit knapp zehn Jahren meine eigenen Kostüme. Angefangen hatte alles mit einem Outfit zu Halloween. Damals hatte mir meine Mom noch viel helfen müssen, aber ich war immer besser geworden, und inzwischen konnte ich ziemlich gut mit der Nähmaschine und der Heißklebepistole umgehen. Auri hingegen stand noch am Anfang. Er hatte bereits von Cosplay und LARP gehört, als wir uns kennenlernten, aber erst ich hatte ihn davon überzeugen können, wie viel Spaß es machen konnte, sich als fiktiver Charakter zu verkleiden. Er ging sehr in seinem neuen Hobby auf, aber hin und wieder musste ich ihm beim handwerklichen Aspekt noch unter die Arme greifen.

  »Glaubst du, ich sollte mir für das Cosplay einen Bart stehen lassen?« Nachdenklich fuhr sich Auri über das Kinn.

  Ich wusste, dass ich, wenn ich meine Hand ausstreckte und ihn berührte, nur glatte Haut spüren würde. »Der Game-Geralt ist natürlich für seinen Bart bekannt, aber du kannst ihn im Spiel auch rasieren, von daher wäre beides möglich.«

  Auri schob sich den letzten Bissen seiner Eiswaffel in den Mund und zog die Wasserflasche hervor, die er bereits die ganze Zeit in einer Tasche seiner Cargoshorts spazieren trug. »Bei der Hitze und dem momentanen Trainingspensum wäre ein Bart wirklich unpraktisch. Außerdem hat Henry Cavill in der Serie auch keinen Bart.«

  »Du musst dich ja nicht sofort entscheiden, ein bisschen Zeit hast du noch.«

  Auri trank einen Schluck Wasser. »Stimmt.«

  »Ich freu mich jedenfalls schon sehr auf unser Cosplay.«

  »Ich mich auch«, erwiderte er und streckte mir mit fragend erhobenen Augenbrauen seine Wasserflasche hin.

  Ich schüttelte den Kopf und reichte ihm stattdessen den Rest meiner Eiswaffel, die mir viel zu süß war.

  Auri schob sie sich in einem Stück in den Mund, bevor er in einer fließenden Bewegung auf die Füße sprang und mir die Hand entgegenstreckte.

  Ich ließ mir auf die Beine helfen und klopfte mir Erde und Gras von meinem Kleid. Anschließend verließen wir den Schutz der Bäume und mischten uns wieder unter die anderen Besucher.

  Wir blieben noch ein paarmal stehen, und ich kaufte mir eine Teemischung, die ich in meine Handtasche steckte, damit Auri nicht alles herumtragen musste.

  Inzwischen war es Mittag, und ich hatte das Gefühl, dass sich der Markt allmählich etwas lichtete. Nicht viel, aber es kam mir so vor, als müsste ich nicht mehr bei jedem Schritt irgendwelchen Menschen ausweichen.

  »Hey, Remington!«, grölte plötzlich eine Stimme über die lärmenden Geräusche des Flohmarktes hinweg.

  Ich blickte auf und entdeckte Colby, einen von Auris Teamkameraden, der mit seinen breiten Schultern kaum zu übersehen war.

  Er kam auf uns zugeschlendert. Als er uns erreicht hatte, hob er eine Hand, um seine Knöchel zum Gruß gegen die von Auri zu schlagen. »Hey Mann, ich wusste gar nicht, dass du auf Flohmärkte stehst.«

  Auri lachte. »Die sind auch nicht mein Ding, aber mein ehemaliger Mitbewohner und seine Freundin haben gefragt, ob ich mitkomme, um im Notfall beim Tragen zu helfen. Sie suchen Zeug für ihre gemeinsame Wohnung. Und was treibst du hier?«

  »Meine Mom vertickt Krempel von meinen Schwestern und mir«, antwortete Colby. Er hatte blondes Haar und weiche Gesichtszüge, die ihm einen jungenhaften Charme verliehen. Doch seine Stimme war rauchig und tief. »Sie wollte nicht die ganze Zeit alleine rumsitzen, also hab ich sie begleitet.«

  »Das ist aber nett von dir«, bemerkte ich.

  Colbys Blick zuckte überrascht zu mir, als hätte er mich bisher gar nicht bemerkt. Seine gerunzelte Stirn verriet, dass er angestrengt versuchte, mich einzuordnen. Wir waren uns schon ein paarmal flüchtig begegnet, aber anscheinend hatte ich keinen bleibenden Eindruck hinterlassen.

  Einen Moment lang herrschte unbehagliches Schweigen, und ich verpasste den Augenblick, mich noch einmal vorzustellen.

  »Um ehrlich zu sein, geht mir dieser Flohmarktscheiß ziemlich auf den Sack«, ergriff Colby erneut das Wort. »Aber ich kann meiner Mom einfach keinen Wunsch abschlagen. Das ist ihre Superkraft.«

  Auri schnaubte. »Ich glaube, diese Superkraft besitzen alle Mütter.«

  »Immerhin hab ich ein Paar Ohrringe für meine Schwester gefunden. Sie wird nächste Woche sechzehn.« Colby hob eine kleine Tragetasche an, auf der ein goldener Schwan abgebildet war. »Und was hast du dir gekauft?« Er deutete auf die Tüte in Auris Hand.

  »Nur ein paar Football-Sammelkarten.«

  Bei dem Wort »Football« begannen Colbys Augen zu funkeln. »Cool, zeig mal.«

  Auri holte die Karten aus der Tasche, und keine Sekunde später fachsimpelten die beiden über irgendwelche ehemaligen Footballspieler.

  Ich hatte zu dem Gespräch nichts beizutragen. Zwar kamen mir die meisten Namen aus Auris Erzählungen bekannt vor. Es war mir wichtig, ihm zuzuhören, auch wenn es mich nicht interessierte, wer in den Achtzigern einen geschichtsträchtigen Touchdown auf die Reihe bekommen hatte. Doch Auri lag Football am Herzen, und mir wiederum lag Auri am Herzen, also kniff ich bei diesen Unterhaltungen die Arschbacken zusammen und versuchte, seinen Erzählungen so gut wie möglich zu folgen.

  »Und was ist das?«, fragte Colby, als Auri die Sammelkarten zurücksteckte. Ungefragt griff Colby in die Tasche und zog die indonesische Herr der Ringe -Ausgabe daraus hervor. Seine Augenbrauen zuckten in die Höhe, als hätte er noch nie in seinem Leben ein Buch gesehen. » Herr der Ringe , ernsthaft?«

  Auri wollte ihm das Buch wegnehmen, aber da schlug Colby es bereits auf. Ein Geräusch, halb Lachen, halb Schnauben, kam über seine Lippen. »Alter, ist das auf Elbisch verfasst? Ich wusste gar nicht, dass du so auf diesen Nerd-Scheiß abfährst. Mein zwölfjähriger Bruder steht da auch voll drauf.«

  Ich verdrehte die Augen. Was für ein Idiot. Ich hatte angenommen, Trottel wie ihn in der Highschool hinter mir gelassen zu haben. Und zu gerne hätte ich ihn aufgeklärt, dass dieser »Nerd-Scheiß« nicht nur was für Kinder war, aber wenn ich eines nicht war, dann schlagfertig. Garantiert würden mir heute Nacht, wenn ich wach in meinem Bett lag, Dutzende clevere Erwiderungen einfallen, aber im Moment war da nichts. Mein Kopf war wie leer gefegt.

  »Das Buch gehört Cassie«, gab Auri zurück.

  Ich versteifte mich. Hatte er das gerade wirklich gesagt?

  Ungläubig sah ich zu Auri, doch er wich meinem Blick aus. Mir war egal, ob Colby mich für den größten Nerd aller Zeiten hielt, aber ich konnte nicht glauben, dass Auri so schamlos wegen des Buchs log, über das er sich noch vor einer Stunde unglaublich gefreut hatte.

  »Verstehe«, sagte Colby mit einem Nicken, als wäre es nur logisch, dass die Ausgabe mir gehörte. Er klappte es zu und gab es Auri zurück. »Ich muss jetzt los, meine Mom wartet sicherlich schon auf mich. Bis morgen, Remington!« Die beiden stießen wieder ihre Fäuste gegeneinander, dann ging Colby, ohne ein weiteres Wort an mich zu richten.

  Ich sah, wie er in der Menge verschwand. Dankbar dafür, ihn los zu sein. Doch leider nahm er die Enttäuschung, die sich in meiner Brust eingenistet hatte, nicht mit. Sie rutschte tiefer und legte sich schwer wie ein Stein in meinen Magen.

  Neben mir hörte ich Auri geräuschvoll ausatmen. Ich konnte förmlich spüren, wie sein Verstand arbeitete, um mir eine möglichst akzeptable Entschuldigung für seine Lüge aufzutischen. Doch wenn ich ehrlich war, wollte ich sie nicht hören. Schließlich hatte er nicht irgendein Buch geleugnet, sondern das, auf dessen Fundament unsere Freundschaft erbaut war.

  3. Kapitel

  Zwei Jahre zuvor …

  Vielleicht war ich gerade dabei, den schlimmsten und letzten Fehler meines Lebens zu begehen, sollte sich herausstellen, dass Julian Brook ein Mörder war und die freie Wohnung nur ein Lockmittel für naive Opfer. Ich hatte an diesem Morgen seinen Aushang am Schwarzen Brett des Mayfield College entdeckt. Er war auf der Suche nach zwei Mitbewohnern, um eine neue WG zu gründen. Ich hatte ihn sofort angerufen, um einer weiteren Nacht im Hostel zu entgehen.

  Eigentlich hätte ich bereits bei einem Mädchen namens Cordelia wohnen sollen, aber sie hatte vor fünf Wochen einen Kerl kennengelernt und kurz
fristig beschlossen, lieber mit ihm zusammenziehen zu wollen. Was mich ohne Dach über dem Kopf zurückgelassen hatte. Die erste Monatsmiete hatte ich stattdessen in ein Hostelzimmer investiert, aber langfristig war das keine Lösung.

  Julian hatte mir am Telefon vom Fleck weg angeboten einzuziehen. Er meinte, er würde viel arbeiten und wäre so selten zu Hause, dass es ihm gleichgültig sei, mit wem er sich eine Wohnung teile. In meiner Verzweiflung hatte ich zugesagt. Nun fragte ich mich allerdings, ob ich womöglich zerstückelt in einer Gefriertruhe enden würde.

  Doch jetzt war es zu spät für einen Rückzieher, denn ich zerrte meinen Trolley bereits die Stufen zu meiner neuen Wohnung hoch. Es gab keinen Aufzug. Nur ein schmales Treppenhaus, das erfüllt war vom chemischen Duft frischer Farbe, als wäre erst kürzlich renoviert worden.

  Im dritten Stock angekommen, war ich vollkommen außer Atem. Japsend lehnte ich mich an die Wand und sah mich um.

  Auf jeder Etage lagen zwei Wohnungen. An der einen Wohnungstür war ein Schild mit der Aufschrift Silvermanns befestigt, die andere stand sperrangelweit offen, dahinter war ein leeres Apartment zu erkennen.

  Ich trat an die offene Tür heran und spähte in die Wohnung, die ich in diesem Augenblick zum ersten Mal sah. Die Wände schienen frisch gestrichen, was den Geruch von Farbe erklärte, und der Bodenbelag sah ordentlich, wenn auch etwas abgelaufen aus. Allerdings gab es keinen Hinweis darauf, dass hier irgendjemand lebte. Die Wohnküche mit der Kochinsel wirkte unbenutzt, der Kühlschrank war ausgeschaltet, und nirgendwo standen Kartons, die darauf warteten, ausgepackt zu werden. Nicht einmal ein Name klebte an der Klingel neben der Tür.

  »Hallo?«, rief ich verunsichert in den leeren Raum.

  Niemand antwortete mir, und das ungute Gefühl in meinem Magen verstärkte sich.

  »Julian?«

  Wieder blieb eine Antwort aus.

  Ich spürte, wie ich die Finger unwillkürlich noch fester um den Griff meines Trolleys schloss. Mein Herzschlag beschleunigte sich. Ein Teil von mir wollte umkehren und in das Hostel zurückgehen, aus dem ich gekommen war. Doch das war etwas, das die alte Cassie tun würde, nicht die neue. Die neue Cassie war Studentin. Erwachsen. Sie rannte nicht vor jedem noch so kleinen Hindernis davon.

 

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