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002 - Someone Else

Page 24

by Laura Kneidl


  Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als dass Auri in diesem Augenblick bei mir wäre. Stattdessen folgte ich alleine einer verlassenen Allee. Dennoch inspirierte mich die wunderschöne Einsamkeit, und ich machte ein Foto, das ich in meine InstaStories stellte.

  Guten Morgen, Seattle , schrieb ich darunter.

  Kaum dass ich das Bild hochgeladen hatte, bekam ich eine Nachricht von Lucien als Antwort auf das Foto.

  Lucien: Wie war die SciFaCon?

  Cassie: Der Hammer! Ich hab noch nie so viele Cosplayer auf einmal gesehen.

  Lucien: Das hört sich gut an.

  Cassie: Du hättest dabei sein müssen.

  Lucien: Nächstes Jahr vielleicht …

  Cassie: Wieso bist du schon wach?

  Lucien: Schon wach? Haha. Ich war noch nicht mal im Bett.

  Cassie: Du solltest schlafen.

  Lucien: Bald. Ich arbeite gerade noch an einer Maske.

  Eine Sekunde später ploppte ein Bild auf meinem Display auf, dessen Anblick ich mir lieber erspart hätte. Es zeigte eine Maske, die eine realistische Nachbildung eines menschlichen Gesichts war. Der Unterkiefer fehlte ebenso wie ein Auge, an dessen Stelle viele kleine Löcher saßen, die an eine Bienenwabe erinnerten. Blut und Eiter quollen aus den Wunden, und blaue Adern schienen durch die blasse, dreckige Haut. Es sah so verdammt echt aus. Und so verdammt ekelhaft.

  Cassie: Wow, wie lange hast du daran gearbeitet?

  Lucien: Zu lange.

  Cassie: Aber es hat sich gelohnt!

  Lucien: Danke.

  Lucien: Ist eine Auftragsarbeit von so einem Typ, den ich auf einer der Hochzeiten kennengelernt habe.

  Cassie: Cool.

  Cassie: Ich will dich nicht länger aufhalten.

  Cassie: Mach die Maske fertig, und dann geh ins Bett.

  Lucien: Ist das ein Befehl?

  Cassie: Ja.

  Lucien: Wenn das so ist …

  Lucien: Gute Heimfahrt.

  Cassie: Danke.

  Ich betrachtete noch einmal das Foto, das Lucien mir geschickt hatte, dann steckte ich mein Handy weg und machte mich auf den Rückweg, um die anderen nicht warten zu lassen. Inzwischen hatte ich auch schon ziemlichen Hunger, dennoch ging ich langsamer als gewöhnlich – und das nicht nur wegen des Muskelkaters in meinen Oberschenkeln. Ich hatte Angst davor, Auri wiederzusehen, auch wenn er objektiv betrachtet nichts Schlimmes getan hatte. Dennoch ließ sich das ungute Gefühl, das er am Morgen in mir ausgelöst hatte, nicht abschütteln. Und dann war da noch der Kuss …

  Als ich das Hotel betrat, ging es in der Lobby bereits deutlich lebhafter zu. Zahlreiche Stimmen drangen aus dem Restaurant, in dem das Frühstücksbüfett aufgebaut war. Offensichtlich waren wir bei Weitem nicht die einzigen SciFaCon-Besucher, die sich hier eingebucht hatten. Weshalb sonst hätte man an einem Sonntag freiwillig so früh aufstehen und frühstücken gehen sollen.

  Ich betrat das Restaurant und hielt nach den anderen Ausschau. Schließlich entdeckte ich Micah und Julian an einem Tisch nahe einem Fenster. Auri schien noch nicht da zu sein, zumindest waren die beiden Plätze ihnen gegenüber leer. Ich durchquerte den Raum, zog einen der Stühle zurück und ließ mich wortlos darauf fallen.

  Micah blickte von ihren Pancakes auf. Ihr Haar war zerzaust, und in ihren Augen lag dieses glückselige Leuchten, das deutlich zeigte, dass Lucien nicht der Einzige war, der diese Nacht wenig geschlafen hatte.

  »Guten Morgen!«

  »Morgen«, erwiderte ich und griff nach der Kaffeekanne, die auf dem Tisch bereitstand. Nachdem ich die bittere Flüssigkeit in wenigen großen Schlucken heruntergestürzt hatte, schenkte ich mir direkt noch einmal nach.

  »Wo ist Auri?«, fragte Julian, der an einem Melonenstück knabberte.

  »Er wollte zum Sport.«

  Micah hob die Augenbrauen. »Warum? Und wie? Ich kann meine Beine kaum mehr spüren.«

  Ich zuckte mit den Schultern und kippte etwas Milch in meinen Kaffee. Vermutlich wäre es besser gewesen, wenn ich gar kein Koffein zu mir genommen hätte, um die Autofahrt nach Hause zu verschlafen. Ich wollte gar nicht daran denken, wie komisch es sein würde, für drei Stunden mit Auri in seinem Wagen eingesperrt zu sein.

  »Hast du gut geschlafen?«, erkundigte sich Micah und tunkte ein Stück Pancake in den See aus Ahornsirup auf ihrem Teller.

  »Mhm«, brummelte ich und wich ihrem Blick aus, indem ich interessiert die Frühstücksauswahl unserer Tischnachbarn betrachtete. »Und ihr?«

  »Auch«, erwiderte Micah, während sie mich skeptisch musterte. »Ist alles in Ordnung?«

  »Ja. Wieso sollte etwas nicht in Ordnung sein?«, antwortete ich kühl.

  »Keine Ahnung, deswegen frag ich dich ja.«

  »Alles bestens«, log ich. Ich wollte jetzt nicht über den Kuss reden, zumindest nicht mit Julian und Micah. Mit Auri hätte ich gerne gesprochen, aber er hatte sich offensichtlich entschieden, mich sitzen zu lassen. Entschlossen zog ich meinen Stuhl zurück. »Ich hol mir was zu essen. Will noch jemand was?«

  Micah schüttelte den Kopf. »Nein danke.«

  Julian verneinte ebenfalls, und ich gesellte mich zu den anderen Menschen, die sich ähnlich einer Herde Flamingos um das Büfett versammelt hatten, um mit langen Hälsen die Tische zu inspizieren, während sie darauf warteten, dass sie drankamen. Ich entschied mich für ungesüßten Naturjoghurt mit ein paar Löffeln buntem Obstsalat.

  Als ich zurück an den Tisch kam, war Auri noch immer nicht da.

  »Wie war es gestern noch mit April und Luca?«, fragte ich, nachdem ich mich wieder gesetzt hatte. Nach der Convention waren wir noch gemeinsam mit den beiden Geschwistern in ein Sushi-Restaurant gegangen, aber Auri und ich waren früher zum Hotel aufgebrochen als die anderen.

  Micah nippte an ihrem Kaffee. »Gut. Luca ist im echten Leben viel erträglicher als online.«

  Julian schnaubte. »Die beiden sind jetzt beste Freunde.«

  »Du brauchst gar nicht so tun. Wer hat denn bitte seine Telefonnummer mit April getauscht?«

  »Wir haben uns wirklich gut über unser Studium unterhalten«, antwortete Julian mit einem Schulterzucken.

  Ich schob mir eine Weintraube in den Mund. »Studiert sie auch Architektur?«

  »Nein, Mathe und Physik, aber da gibt es ein paar Überschneidungen im Lehrplan und … Oh, hey, Auri.«

  Ich versteifte mich auf meinem Stuhl. Nicht gerade die Reaktion, die man auf den Mann haben sollte, den man vor weniger als zwölf Stunden noch heiß und innig geküsst hatte. Ich starrte auf meinen Teller und stopfte mir einen überfüllten Löffel mit Joghurt und Obst in den Mund. Vielleicht hatte ich Glück und erstickte daran.

  »Hey.« Auri ließ sich auf den Stuhl neben mir fallen.

  Mein Magen zog sich zusammen. Wie schon am Abend zuvor stieg mir der Duft der Hotelseife in die Nase. Wider besseres Wissen schielte ich zu ihm hinüber.

  Auri entging mein Blick nicht. Er fing ihn auf.

  Eilig wandte ich mich ab, als wäre er ein Fremder, der mich versehentlich beim Starren in der U-Bahn erwischt hatte.

  Der Blickkontakt war zu schnell vergangen, als dass ich in seinen Augen hätte lesen können, was er fühlte, aber vielleicht war das auch besser so. Hätte ich Reue oder gar Ekel darin entdeckt, hätte es mir auf immer das Herz gebrochen.

  Auri griff nach der Kaffeekanne, die vor mir stand, und schenkte sich eine halbe Tasse ein. »Du bist vorhin nicht im Zimmer gewesen. Wo warst du?«

  »Spazieren.«

  »Alleine?« Er klang überrascht, aber nicht vorwurfsvoll.

  »Ja, du warst schließlich beim Sport«, antwortete ich, und das wiederum klang durchaus vorwurfsvoll. Andererseits war ich auch nicht diejenige gewesen, die versucht hatte, sich aus dem Hotelzimmer zu schleichen, um ins Fitnessstudio zu flüchten. Auri wäre mit Sicherheit einfach gegangen, wäre ich nicht zufällig aufgewacht.

  Etwas zu kraftvoll stellte er die Kaffeekanne wieder ab. »Ich wäre mitgekommen, wenn du mich gefragt hättest.«

  »Und ich hätte dich gefragt, wenn du da gewesen wärst.«

  Auri antwortete nicht, aber ich konnte ihn tief durchatme
n hören, als hätte er sehr wohl etwas zu sagen. Stattdessen schob er jedoch nur seinen Stuhl zurück. »Ich hol mir was zu frühstücken.«

  Micah räusperte sich und stand von ihrem Platz auf. »Warte, ich komme mit. Ich will noch Pancakes, bevor alle weg sind.« Sie wandte sich an Julian. »Möchtest du auch noch was?«

  »Ein Glas Saft wäre nett.«

  »Sollst du bekommen.« Sie schnappte sich sein leeres Glas und eilte Auri hinterher, der sich bereits am Büfett angestellt hatte.

  Schweigen senkte sich über den Tisch, während die Gespräche rings um Julian und mich anhielten. Ein paar Sekunden war daran nichts merkwürdig, aber mit der Zeit wurde die Stille zwischen uns seltsam. Ich konnte Julians fragenden Blick auf mir spüren, aber ich gab nicht nach. Stattdessen operierte ich konzentriert einen Kern aus dem Stück Wassermelone auf meinem Teller.

  »Okay«, sagte Julian schließlich und legte seine Gabel beiseite. »Was ist los?«

  »Was meinst du?«, fragte ich unschuldig.

  »Auri und du. Habt ihr euch gestritten?«

  Ich schüttelte den Kopf. Das letzte Mal hatte es gutgetan, sich Julian anzuvertrauen, aber heute waren meine Empfindungen noch zu nackt und roh, zu empfindlich. Auri und ich hatten uns nach dem Kuss weder die ewige Treue noch die große Liebe geschworen, aber ich war mir meiner Gefühle für ihn bewusster als jemals zuvor. Gefühle, die er anscheinend nicht erwiderte. Und ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte.

  25. Kapitel

  »Cassie? Cassie? Cassie! «

  Ich zuckte zusammen, als plötzlich Jos Gesicht vor meinem auftauchte. Ihre roten Lippen, die sonst immer zu lächeln schienen, hatte sie zu einem schmalen Strich zusammengepresst.

  »Sorry«, murmelte ich, noch immer etwas neben der Spur. Ich war vollkommen in meinen Gedanken versunken gewesen. »Was hast du gesagt?«

  »David und ich sind fertig«, sagte sie und deutete auf einen jungen Mann neben sich, der das Studio mit einem nagelneuen Augenbrauenpiercing verlassen würde. »Könntest du abkassieren und die Geräte desinfizieren, bevor du gehst?«

  »Klar.«

  Jo warf mir noch einen skeptischen Blick zu, ehe sie wieder im hinteren Bereich des Studios verschwand und mich mit David alleine ließ.

  Ich setzte ein falsches Lächeln auf und spielte das Memo ab, das ich vor Wochen auswendig gelernt hatte. Ich erzählte ihm, wie er sein Piercing zu pflegen hatte, bot ihm einen Zwanzigprozentgutschein auf Schmuck an und stellte ihm eine Rechnung aus. Körperlich war ich anwesend und erledigte meine Arbeit, aber in Gedanken war ich bei Auri.

  Am Morgen nach unserem Kuss hatte ich vor allem Wut und Enttäuschung empfunden, mittlerweile, einen Tag später, war Verwirrung die vorherrschende Empfindung. Monatelang hatte ich meine Gefühle für Auri geleugnet, vor mir selbst versteckt, mir verboten, ihnen nachzugeben. In Seattle hatte ich mir endlich erlaubt loszulassen in der festen Überzeugung, dass unsere Zeit gekommen war. Dass sich etwas verändern würde. Aber anscheinend hatte ich mich getäuscht. Nichts hatte sich geändert. Zumindest nicht für Auri. Für ihn schien der Kuss nicht mehr gewesen zu sein als ein weiterer Ausrutscher. Ein weiterer Fehler, den wir totschwiegen, um unsere Freundschaft nicht zu gefährden.

  Ich verstand einfach nicht, wie etwas, das mir so viel bedeutete, Auri so gleichgültig sein konnte. Es war, als hätte es diesen magischen Moment zwischen uns nie gegeben. Während des Frühstücks im Hotel war er mir noch etwas gereizt erschienen, als wäre er wütend, aber bereits während der Fahrt nach Mayfield war seine miese Laune verflogen; und zu Hause angekommen, hatte er den restlichen Sonntag gemeinsam mit mir auf der Couch verbracht. Wir hatten nicht viel miteinander geredet, was sicherlich auch unserer Erschöpfung zuzuschreiben gewesen war, aber es hatte sich normal angefühlt. Er hatte mich sogar auf die Hochzeit seiner Mom angesprochen. Ich war fest davon überzeugt gewesen, dass er mich ausladen wollte, doch stattdessen hatte er mir angeboten, mit mir zusammen ein Kleid kaufen zu gehen. Er kannte mich zu gut und wusste, dass ich die Besorgung bis zuletzt hinausgezögert hatte. Aus einem Reflex heraus hatte ich abgelehnt, denn mein Fluchtinstinkt sagte mir, dass es keine gute Idee war, Auri ausgerechnet jetzt auf diese Familienfeier zu begleiten. Ich hatte Angst davor, dass etwas passierte. Und zugleich hatte ich Angst davor, dass nichts passierte. Ich vertraute mir selbst nicht mehr. Aber ich hatte es Auri und vor allem seiner Mom versprochen, ihn zu begleiten, und ich wollte ihr an diesem besonderen Tag keinen Kummer bereiten. Auch wenn mir Auris Anblick und die Erinnerung an unseren Kuss jedes Mal aufs Neue einen Stich versetzte.

  »Kann ich Jo Trinkgeld geben?«, fragte David, nachdem er seine Rechnung mit Kreditkarte beglichen hatte.

  »Klar.« Ich deutete auf ein Glas, das am Rande der Theke stand. David stopfte einen Fünfdollarschein hinein und verabschiedete sich.

  Nachdem ich ihm einen schönen Tag gewünscht hatte, zückte ich mein Handy. Ich öffnete meine Kontakte und tippte eine Nachricht: Hast du Zeit?

  Lucien: Wann? Jetzt?

  Cassie: Ja.

  Lucien: Klar, aber nur für 2–3 Stunden.

  Cassie: Das sollte reichen.

  Lucien: Wofür?

  Cassie: Um mit mir ein Kleid zu kaufen.

  Ich trat aus der Umkleide. »Was meinst du?«

  »Sieht gut aus«, antwortete Lucien, der auf einem Sessel vor der Kabine lümmelte. Meine Handtasche auf seinem Schoß, sein Handy in der Hand.

  Wir waren in einem Geschäft für elegante Abendbekleidung, und obwohl sich Lucien beruflich bedingt immer wieder an Orten wie diesen wiederfand, passte er mit seinen dunklen Jeans, der ausgeblichenen Lederjacke und dem mürrischen Gesichtsausdruck so überhaupt nicht in die Umgebung.

  »Dieselbe Antwort hast du mir bei den letzten fünf auch schon gegeben.« Ich stellte mich vor den Spiegel und betrachtete mich in dem sommerlichen Kleid. Es war vintagerosa und schlicht geschnitten, ärmellos mit luftig fallendem Rock und einem glänzenden Gürtel um die Taille.

  »Es ist nur die Wahrheit«, sagte Lucien mit einem Schulterzucken. »Bisher standen dir einfach alle Kleider ziemlich gut. Wenn du keine Lust mehr hast, nimm einfach das erste.«

  »So funktioniert das nicht. Ich will alle anprobieren.«

  In der Umkleide lagen noch sieben weitere Kleider. Begeistert davon, dass überhaupt eine so große Auswahl bestand, hatte ich in der Abteilung für Sondergrößen einfach alles mitgenommen, was mir irgendwie gefiel. Denn einer der Gründe, weshalb ich es normalerweise so hasste, shoppen zu gehen, war der, dass es fast nie etwas in meiner Größe gab. Ich war einfach zu klein und schmal, was bedeutete, dass ich meistens in der Kinderabteilung endete.

  »He, keine Beschwerden«, moserte Lucien. »Du wolltest mich schließlich hierhaben.«

  »Und langsam fange ich an, es zu bereuen«, sagte ich neckend und drehte mich, um mich von hinten zu betrachten.

  Lucien steckte sein Handy weg und stützte den Arm auf der Sessellehne ab. »Warum hast du überhaupt mich gefragt? Was ist mit Micah? Oder dieser anderen. Wie hieß sie noch mal? Alice? Alisha?«

  Sein Versuch, Desinteresse zu heucheln, amüsierte mich. »Ihr Name ist Aliza, und das weißt du ganz genau. Vermutlich liegt irgendwo bei dir zu Hause sogar ein Zettel, auf den du ganz oft ihren Namen geschrieben hast. Mit Herzchen drumherum.«

  Er zog gelangweilt die Brauen hoch. »Wovon redest du?«

  Ich verdrehte die Augen. »Jetzt tu nicht so. Wir alle haben gesehen, wie du sie auf dem Sommerfest angeschaut hast. Du hast gelächelt, Lucien. Ge-läch-elt.«

  »Na und? Ich lächle oft.«

  Ich ging zurück in die Kabine, um das nächste Kleid anzuprobieren. »Nein, tust du nicht.«

  »Vielleicht nicht in deiner Anwesenheit.«

  »Lucien …«

  »Was?«

  Ich öffnete den Reißverschluss an der rechten Seite, und der rosa Stoff fiel zu Boden. Nachdem ich das Kleid aufgehängt hatte, nahm ich mir das nächste, das einen ähnlichen Schnitt besaß, aber violett war und bis zum Boden reichte. »Warum gibst du nicht einfach zu, dass sie dir gefällt?«

  Lucien ließ mich so lange auf eine Ant
wort warten, dass ich bereits vermutete, dass er aufgestanden und gegangen war, als ich doch noch ein schweres Seufzen hörte. »Na gut, ich geb es zu: Sie gefällt mir.«

  Ich trat aus der Umkleide und stellte mich mit dem Rücken zu Lucien. Es brauchte nicht mehr als diese stumme Aufforderung, damit er den Reißverschluss zuzog.

  »Soll ich Aliza fragen, ob ich dir ihre Handynummer geben darf?«

  Lucien runzelte die Stirn. »Wieso solltest du das tun?«

  »Damit du sie um ein Date bitten kannst«, sagte ich und betrachtete mich erneut im Spiegel. Das Kleid gefiel mir überhaupt nicht, der Rock war viel zu lang. Es sah aus, als würde ich in dem Stoff ertrinken. Ich bedeutete Lucien, den Reißverschluss wieder zu öffnen.

  »Ich werde nicht mit Aliza ausgehen.«

  Ich schlüpfte zurück in die Kabine und zog mich aus. »Wieso nicht?«

  »Für so was habe ich keine Zeit.«

  »Aber du hast Zeit, mit mir shoppen zu gehen?«

  Das nächste Kleid, das ich anprobierte, war das wohl ungewöhnlichste auf meinem Haufen. Der Stoff war schwarz und mit unzähligen Blüten und Federn in leuchtendem Blau, Grün und Türkis verziert. Der Rock reichte mir bis zu den Kniekehlen. Das Oberteil war schulterfrei, besaß aber Ärmel, die meine Geräte verdecken würden. Was praktisch war, da ich nicht wollte, dass jeder auf der Hochzeit mir Fragen dazu stellte. Das Raffinierteste an dem Kleid war allerdings der Gürtel aus schwarzer Spitze, der direkt in das Kleid eingenäht war, sodass an ein paar ausgewählten Stellen ein Hauch von Haut zu sehen war. Reizvoll, aber elegant.

  »Das ist etwas anderes«, sagte Lucien. Ich konnte hören, wie er vor der Umkleide auf und ab lief. »Ich habe meine Schwester, das Studium und mein Hobby, aus dem vielleicht eines Tages mehr werden könnte. Da bleibt keine Zeit für eine Beziehung.«

  Ich zog den Vorhang zurück. »Niemand hat etwas von einer Beziehung gesagt.«

  Lucien blieb stehen. »Du willst, dass ich einen One-Night-Stand mit deiner Freundin habe?«

  »Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Aber wieso muss es unbedingt das eine oder das andere sein?«

 

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