002 - Someone Else

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002 - Someone Else Page 31

by Laura Kneidl


  Auri lachte atemlos. »Das lässt sich einrichten, wenn du bereit bist, mit mir zusammen um halb sechs aufzustehen.«

  »Gerne, das ist es mir wert.«

  Aus Auris Lachen wurde ein Schnauben, und er rollte sich auf die Seite, sodass er mich ansehen konnte. Seine Augen glänzten, und in seinem Blick lag eine tiefe Zufriedenheit. »Ich gebe dir drei Tage, bis du deine Meinung änderst.«

  Vermutlich hatte er recht, aber für den Moment war es eine schöne Vorstellung, der ich mich nur allzu gerne hingab. Ich hatte in meinem Leben bisher nur mit zwei Männern geschlafen, aber ich war mir sicher, dass es nicht mehr besser werden konnte. Was gab es Schöneres, als sich ganz und vollkommen der Person hinzugeben, die man liebte?

  Wir blieben noch eine Weile liegen, zu kraftlos, um das Bett zu verlassen, bis uns Auris Handywecker daran erinnerte, dass es Zeit wurde aufzustehen, um zu dem großen Frühstück mit seiner Familie aufzubrechen. Um uns nicht erneut in Versuchung zu bringen, duschten wir getrennt voneinander; auch wenn die Verlockung groß war, den Rest des Tages einfach im Hotelzimmer zu verbringen.

  Mit einem Handtuch um die Hüfte gewickelt, trat Auri an das Waschbecken, an dem ich bereits stand, um mich zu schminken. Er schnappte sich eine der eingepackten Zahnbürsten, die das Hotel bereitgelegt hatte, und drückte etwas Paste aus meiner Tube darauf. Dabei beobachtete er amüsiert im Spiegel, wie ich versuchte, auf beiden Augenlidern einen gleichmäßigen Strich mit dem Eyeliner zu ziehen.

  Es fühlte sich so unglaublich normal an, den Morgen auf diese Weise gemeinsam zu verbringen. Als wäre es das Natürlichste auf der Welt. Nicht zum ersten Mal versuchte ich zu ergründen, warum es uns so viel Zeit gekostet hatte, an diesen Punkt zu gelangen, wo wir doch beide so glücklich mit der Entwicklung schienen.

  »Darf ich dich etwas fragen?«

  Auri beugte sich über das Waschbecken und spülte seinen Mund aus. »Klar.«

  »Als wir vor einem Jahr auf diesem Date-Nicht-Date waren und mit deinen Footballfreunden in der Sportsbar gelandet sind, warum hast du dich da auf diese andere Frau eingelassen?«, fragte ich und hoffte, meine Neugierde nicht gleich bereuen zu müssen. Ich hatte Auri den damaligen Abend längst verziehen, dennoch ließ mich die Erinnerung daran nicht los, weil ich einfach nicht verstand, was schiefgelaufen war. Er hatte dem Date mit mir zugestimmt – und nur ein paar Stunden später einer anderen erlaubt, auf seinem Schoß zu sitzen.

  So langsam, dass es beinahe wirkte, als würde er sich in Zeitlupe bewegen, ließ Auri die Zahnbürste sinken. Als müsste er meine Frage erst auf sich wirken lassen, bevor er sie beantworten konnte. »Weil ich dachte, es wäre so einfacher für dich.«

  Ich runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?«

  »Na ja.« Er stützte sich mit einer Hand auf den Waschbeckenrand und sah mich an, die Augenbrauen konzentriert zusammengezogen. »Es war ziemlich offensichtlich, dass du nicht mit mir ausgehen wolltest, und ich dachte …«

  »Moment mal«, unterbrach ich ihn und wandte mich ihm zu, um ihm direkt in die Augen sehen zu können. »Wieso glaubst du, dass ich nicht mit dir ausgehen wollte?«

  Ein überraschter Ausdruck huschte über sein Gesicht. »Erinnerst du dich nicht? Wir waren auf dem Weg zum Restaurant, als wir in meine Kumpels reingerannt sind. Sie haben uns gefragt, ob wir mit in die Bar wollen. Ich hab dreimal abgelehnt, weil ich mit dir in diesem netten italienischen Restaurant essen gehen wollte. Und dann plötzlich, wie aus dem Nichts heraus, hast du behauptet, dass wir ›supergerne‹ mit in die Bar kommen würden.«

  »Das hab ich nur gesagt, damit die beiden Ruhe geben.«

  »Woher hätte ich das wissen sollen? Ich dachte, du hast kalte Füße bekommen, weil Micah dich zu etwas überredet hat, was du eigentlich nicht wolltest. Deswegen hab ich mit der Frau geflirtet. Ich wollte dir einen leichten Ausweg bieten.«

  Fassungslos starrte ich Auri an. »Das war der Grund?«

  »Ja. Was dachtest du denn?« Er neigte den Kopf. Die Verwirrung in seinem Blick war nicht zu übersehen. »Dass ich dich nicht will?«

  Ja.

  »Was hätte ich sonst denken sollen?«

  »Ich weiß nicht, aber nicht das.« Auri griff nach meiner Hand. »Ich wollte dich damals genauso wie heute.«

  Ich konnte einfach nicht glauben, was ich da gerade hörte. »Das bedeutet, die ganze Sache damals war nur ein großes Missverständnis?« Es war so absurd, dass mir gleichzeitig zum Lachen und zum Weinen zumute war.

  Er nickte. »Sieht so aus.«

  »Wir hätten das hier schon viel früher haben können?«

  »Vielleicht«, gestand Auri, der meine Enttäuschung deutlich zu spüren schien. Er trat dichter an mich heran und legte einen Finger unter mein Kinn. Sanft hob er meinen Kopf an, damit ich ihn ansehen musste. »Aber hey, jetzt sind wir ja hier. Ist das nicht alles, was zählt? Gut, wir haben vielleicht ein paar Monate zusammen verloren, aber das bedeutet nicht, dass wir das, was wir versäumt haben, nicht nachholen können. Und ich rede nicht nur von Sex.«

  Unweigerlich musste ich wieder lächeln, auch wenn ich es schade fand, dass Auri und ich gemeinsame Stunden verloren hatten. Dennoch freute ich mich auf all die Dinge, die wir uns ausdenken würden, um die verlorene Zeit wiedergutzumachen.

  Ich stellte mich auf die Zehenspitzen, um Auri zu küssen. »Du hast recht. Und wir können mit dem ›Nachholen‹ gerne gleich heute Abend anfangen. Aber jetzt müssen wir erst mal zum Frühstück.«

  »Da seid ihr ja endlich«, begrüßte uns Anthony, der uns die Tür öffnete, und winkte uns eilig herein.

  Wir folgten den Stimmen durch das Haus in den rückwärtigen Garten, wo am Vortag die Tische aufgestellt worden waren, auf denen nun ein herrliches Frühstück angerichtet war. Es duftete nach frisch gebackenem Brot und süßen Croissants. Zahlreiche Gläser, deren Inhalt nach selbst gemachter Marmelade aussah, Tee- und Kaffeekannen, Teller mit Bacon, Würstchen, geschnittenem Gemüse und Rührei standen bereit.

  Anscheinend hatten Auri und ich wirklich am längsten getrödelt, denn kaum dass wir die letzten beiden freien Plätze ganz am Rand eingenommen hatten, erhob sich Trevon mit einem Glas Sekt in der Hand. Er strahlte über das ganze Gesicht und setzte zu einer Rede an, in der er allen für den gestrigen Tag und die wunderbare Zeit dankte. Anschließend sprach er noch ein kurzes Gebet, ehe er das Frühstück eröffnete und sich alle auf das Essen stürzten.

  »Kaffee?« fragte ich, die Kanne noch in der Hand.

  Auri lehnte ab, aber sein Cousin, der uns gegenübersaß, schob seine Tasse in meine Richtung. Er hatte nicht viel Ähnlichkeit mit Auri. Sein Kinn war breiter und seine Stirn nicht ganz so hoch, doch er besaß die gleichen braunen Augen.

  Bisher hatten wir noch nicht die Gelegenheit gehabt, uns richtig miteinander zu unterhalten. Einerseits weil auf der Hochzeit so viele Leute gewesen waren, und andererseits weil Auri und er einander nicht wirklich grün waren. Sie warfen sich zwar keine bösen Blicke zu, aber ich hatte sie das ganze Wochenende über kein einziges Mal zusammen gesehen. In stummer Übereinkunft schienen sie sich mehr oder weniger aus dem Weg zu gehen.

  »Du bist Cornell, nicht wahr?«, fragte ich, da es mir merkwürdig erschienen wäre, ihn einfach zu ignorieren.

  Er nickte. »Genau. Meine Mom ist Jasmins Schwester.«

  Ich nahm mir eine Scheibe Toast. »Studierst du auch?«

  »Nah, ich bin nicht so clever wie dieser Goldjunge.« Er nickte in Auris Richtung und schob sich einen Bissen Bacon in den Mund. »Ich arbeite auf dem Bau, vorwiegend als Dachdecker. Ist nicht der glamouröseste Job, aber er ist ganz gut bezahlt. Noch ein paar Monate, und ich hab mein Auto abbezahlt.«

  »Glückwunsch. Ich hab nicht mal einen Führerschein.«

  »Wieso nicht?«

  »Kein Interesse.«

  Meine Eltern hatten oft angeboten, mir das Fahren beizubringen, aber ich hatte stets abgelehnt. Irgendwann hatte ich einen Artikel über eine Frau gelesen, die aufgrund ihrer Diabetes einen Schock am Steuer erlitten und dadurch einen tödlichen Unfall herbeigeführt hatte. Die Angst davor, dass mir etwas Ähnliches passieren könnte, saß tief, auch wenn die Chancen dafür g
ering waren. Täglich fuhren Tausende, wenn nicht sogar Millionen von Diabetikern sicher Auto, aber warum sein Glück herausfordern?

  Cornell deutete mit seiner Gabel zwischen Auri und mir hin und her. »Wie kam es überhaupt dazu, dass ihr beide …« Er brach mitten im Satz ab, als sein Handy zu klingeln begann. Mit einem Grunzen zog er es aus der Hosentasche. Nach einem Blick auf das Display verfinsterte sich seine Miene.

  Der Typ, der neben ihm saß – Niles? —, beugte sich neugierig rüber, um ebenfalls auf den Bildschirm zu schielen. »Damn, wer ist sie?«, fragte er und verzog die Lippen zu einem anzüglichen Grinsen.

  Cornell drückte den Anruf weg. »Niemand.«

  Niles hob die Brauen. »War sie dein Plus Eins, das du gestern nicht mitgebracht hast?«

  »Yep.« Cornell nahm einen großen Bissen von seinem Croissant.

  »Wieso nicht, Mann? Sie ist echt heiß.«

  Er schnaubte. »Ja, aber irre. Ohne Scheiß, die Bitch hat ’nen Dachschaden.«

  Was?

  Mir blieb bei seinen Worten beinahe der Toast in der Kehle stecken. Unweigerlich zuckte mein Blick zu Auri. Wollte er gar nichts zu seinen Cousins sagen? Er konnte doch nicht zulassen, dass sie so über Frauen sprachen.

  Niles stieß ein schrilles Gackern aus. »Haben sie das nicht alle?«

  Cornell schüttelte den Kopf. »Schon, aber die ist echt nicht ganz sauber. Sie verkleidet sich gerne als Zeichentrickfigur und redet die ganze Zeit von ihren lächerlichen Kostümen.«

  Mir wurde übel, und ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass mir das, was gleich kam, noch weniger gefallen würde als die erniedrigende Beleidigung meines ganzen Geschlechts. Und Auri rührte sich noch immer nicht.

  Wütend stopfte ich mir meinen Toast in den Mund. Ich wollte etwas sagen, aber schließlich war ich hier nur zu Gast und wollte nicht unfreundlich rüberkommen.

  Niles runzelte die Stirn. »Was für Kostüme?«

  »Ach, dieser Cosplay-Bullshit. Kennst du sicher.«

  Mittlerweile hatte ich wirklich das Gefühl, mich jeden Moment übergeben zu müssen.

  Cornell griff nach seinem Handy. Ich konnte von meinem Platz aus nicht sehen, was er machte, aber ich war mir sicher, dass er Niles ein Bild seiner vermeintlich verrückten Ex-Freundin zeigte, denn dieser prustete auf einmal los.

  »Was soll denn das sein?«

  Cornell rümpfte die Nase. »Kein Plan. Kostüme an Halloween sind sweet, aber das hier ist einfach nur gestört. Darauf hab ich echt keinen Bock.«

  »Cosplayer sind nicht gestört!«, platzte es aus mir heraus. Die Worte waren einfach da. Keine Ahnung, woher sie kamen. Aber auf einmal waren sie draußen in der Welt, und ich konnte sie nicht zurücknehmen.

  Die zwei Männer starrten mich an. Sie wirkten irritiert, fast so, als hätten sie vergessen, dass ich überhaupt da war.

  Mein Magen verkrampfte sich, und ich bereute es, mein Stück Toast so schnell heruntergeschlungen zu haben.

  Abfällig ließ Cornell seinen Blick über mich gleiten. Zuvor hatte ich in seinen Augen eine Ähnlichkeit zu Auri gesehen, doch nun war jede Gemeinsamkeit zwischen den beiden verschwunden. »Woher willst du das wissen? Bist du eine von denen?«

  Mein Puls raste, und meine Kehle fühlte sich staubtrocken an. Es sah mir überhaupt nicht ähnlich, mich in so eine Situation zu manövrieren, aber ich hatte die beiden einfach nicht so weiterreden lassen können. Hilfe suchend sah ich zu Auri, aber der starrte nur auf seinen Teller, als würde er von dem Gespräch nichts mitbekommen.

  Ich schluckte und wandte mich wieder an Cornell. »Ja, ich mache auch Cosplay, aber das tut überhaupt nichts zur Sache. Es ist ein Hobby und kein Geisteszustand. Und du hast kein Recht, so ekelhaft über jemanden zu reden.«

  Cornell schob sich gelangweilt einen weiteren Streifen Bacon in den Mund. »Sorry, aber das ist kein Hobby, sondern krank.«

  »Cornell, es reicht!«, zischte Auri. Die Hände zu Fäusten um sein Besteck geballt, bedachte er seinen Cousin mit einem vernichtenden Blick, unter dem die meisten anderen Menschen eingeknickt wären. Die meisten – aber nicht Cornell.

  »Was? Ist doch nur die Wahrheit. Oder findest du es normal, wenn sich erwachsene Menschen ständig verkleiden und so tun, als wären sie jemand anderes?«

  Auri presste die Lippen aufeinander – und schwieg.

  Cornell legte noch einmal nach. »Machst du bei dem Scheiß etwa auch mit?«

  Auris Kiefer war angespannt. Ich konnte nicht einschätzen, ob er versuchte, die Wahrheit zurückzuhalten, oder sich davon abzuhalten, eine Lüge zu erzählen.

  Wut keimte in mir auf, als ich in Cornells spöttisches Gesicht blickte. »Du hast doch keine Ahnung«, fuhr ich ihn an. »Es geht nicht darum, jemand anderes zu sein. Aber das begreifst du natürlich nicht.«

  Irgendetwas an meiner Wut schien Cornell zu amüsieren, sein Grinsen wurde breiter. »Nein, tu ich tatsächlich nicht, aber ich komm auch mit meinem Leben klar. Kein Plan, was du für Probleme hast, aber das lässt sich sicher untersuchen.«

  »Unter… untersuchen?«, stammelte ich fassungslos. Ich hatte keine Ahnung, was ich darauf sagen sollte. Wer glaubte dieser Kerl zu sein? Und wie konnte er sich herausnehmen, so über mich zu urteilen?

  Hitze schoss mir in die Wangen, und ich versuchte krampfhaft, die Blicke der anderen Familienmitglieder zu ignorieren, die uns anstarrten. Cornell schien es egal zu sein, aber ich hatte mich selten so gedemütigt gefühlt. Zumal mir niemand zu Hilfe kam.

  Niemand. Alle schwiegen. Sogar Auri.

  Sag etwas, flehte ich in Gedanken. Irgendetwas.

  Doch er tat es nicht, und sein anhaltendes Schweigen war schmerzhafter als jedes Wort aus Cornells Mund. Ich wusste, dass ich bei Verstand war und Cornells giftige Worte einer Quelle aus Dummheit und Unwissen entsprangen. Aber ich konnte nicht glauben, dass Auri die Beleidigungen seines Cousins einfach zuließ – nach allem, was wir in der letzten Nacht und an diesem Morgen miteinander geteilt hatten. Das Schlimmste war allerdings, dass es mich noch nicht einmal wirklich überraschte. Jedes Mal, wenn sich das Thema unserer gemeinsamen Leidenschaft zuwandte, versagten ihm die Worte, und es schien ihm vollkommen unmöglich, die Wahrheit auszusprechen. Das hatte er auf dem Flohmarkt bewiesen und mir deutlich gezeigt, als seine Teamkollegen bei uns zu Hause gewesen waren. Er hatte unsere Cosplays gar nicht schnell genug verstecken können. Schon damals hatte es mich zutiefst gekränkt, aber ich war bereit gewesen, darüber hinwegzusehen und ihm zu verzeihen. Jeremy und die anderen Typen aus dem Team würde er nach dem College vermutlich ohnehin nicht mehr sehen, aber das hier war seine Familie.

  Seine. Familie.

  Seine Mutter.

  Sein Bruder.

  Sein Stiefvater.

  Wie konnte er zulassen, dass Cornell vor ihnen so über mich redete? Ich war nicht mehr nur seine verdammte Mitbewohnerin, ich war seine Freundin. Wir führten eine Beziehung, aus der vielleicht sogar mehr werden konnte. Aber wie sollte das möglich sein, wenn er seinem Cousin ohne jedes Widerwort erlaubte, auf diese Weise mit mir zu sprechen? Das einzige Problem – wie Cornell es bezeichnete – in meinem Leben war gerade mein angeblicher »Freund«, der es offenbar nicht für nötig hielt, seine Verwandtschaft darüber aufzuklären, dass ich keineswegs eine Untersuchung nötig hatte, weil ich Cosplays mochte.

  Mit aufeinandergepressten Lippen starrte ich Auri an und wartete darauf, dass er das Ruder herumriss. Dass er seinen Mund doch noch aufbekam und etwas sagte. Irgendwas.

  Sein Schweigen blieb ungebrochen.

  Mit einem Klirren ließ ich mein Besteck auf den Teller fallen und stand ohne ein weiteres Wort auf. Meine Hände zitterten, und mein ganzer Körper bebte mit. Ich lief ins Haus, ohne zu wissen, wohin ich wollte, aber ich hatte nicht länger dort sitzen bleiben können. Mein Herz raste, und die Übelkeit war nun so stark, dass ich das Gefühl hatte, mich jeden Augenblick übergeben zu müssen.

  Ich steuerte das Badezimmer an und ließ die Tür hinter mir ins Schloss fallen. Gegen die Wand gelehnt, atmete ich tief ein und wieder aus, um mich zu beruhigen. Ich hatte keine Ahnung, wie die Situation so schnell hatte eskalieren können.


  Nein, das stimmte nicht. Ich wusste es ganz genau. Immerhin war es nicht das erste Mal, dass die eine Sache, die Auri und mich verband, uns gleichermaßen trennte, nur weil er Angst hatte. Vor was auch immer.

  »Cassie?«, drang eine verunsicherte Stimme durch die Tür.

  Fuck.

  »Was?« Ich klang gereizt, angriffslustig.

  Auri rüttelte am Türknopf. »Lässt du mich rein?«

  Ich antwortete nicht.

  »Cassie, bitte.«

  Ich wollte ihn nicht sehen. Dafür war ich viel zu verwirrt angesichts des Zorns und der Angst, die ich zu gleichen Teilen empfand. Ich war unglaublich wütend auf Auri, und gleichzeitig fürchtete ich mich so sehr davor, ihn zu verlieren, dass es schmerzte. Doch ich konnte das, was gerade geschehen war, nicht einfach ignorieren. Es würde wieder passieren, dessen war ich mir sicher. Wie konnte Auri zu mir stehen, wenn er nicht einmal zu sich selbst stand?

  »Cas, komm schon. Wir müssen reden.«

  Jetzt wollte er reden? Hätte er seinen Mund vor zehn Minuten aufgemacht, hätten mir in diesem Moment nicht die Tränen in den Augen gebrannt.

  Ich wirbelte herum und entriegelte die Tür, bevor ich sie mit viel zu viel Kraft aufriss. »Worüber willst du reden? Darüber, dass dein Cousin ein Arschloch ist? Darüber, dass du ein Feigling bist? Oder darüber, dass ich für mein Hobby in psychiatrische Behandlung gehöre?« Die Worte hinterließen einen bitteren Geschmack in meinem Mund.

  Mit aufgerissenen Augen starrte Auri mich an. Zwei, drei, vier Herzschläge lang brachte er kein Wort hervor, als hätte es ihm erneut die Sprache verschlagen. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich bin hier, um mich zu entschuldigen.« Er legte eine Hand an die Tür, als befürchtete er, ich könnte sie ihm jeden Augenblick wieder vor der Nase zuknallen. »Es tut mir leid, was Cornell zu dir gesagt hat.«

  Ich trat einen Schritt zurück. »Ernsthaft? Das ist es, was dir leidtut? Wenn das so ist, kennst du mich überhaupt nicht.« Eisige Kälte erfasste meinen Körper und verdrängte jede Erinnerung an die Wärme, die ich noch vor wenigen Stunden verspürt hatte. »Du hättest etwas zu Cornell sagen müssen.«

  »Mir … mir ist nichts eingefallen«, erwiderte Auri. Die Lüge hinter seinen Worten war offensichtlich.

 

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