002 - Someone Else

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002 - Someone Else Page 32

by Laura Kneidl


  »Wirklich?«, fauchte ich. »Dir ist nichts eingefallen? Gar nichts? Nur so als Vorschlag: Du hättest sagen können, dass ich keine Probleme habe. Dass man Frauen nicht als ›Bitch‹ bezeichnet und dass Cosplayer sehr wohl ›normal‹ sind. Oh, und du hättest erwähnen können, dass du einer von uns bist. Aber stattdessen hast du mich ins offene Messer laufen lassen. Warum? Weil du Angst hast? Wovor? Dass so großartige Menschen wie Cornell den Respekt vor dir verlieren?«, brüllte ich, um ihm begreiflich zu machen, was sein Schweigen mit dem Vertrauen gemacht hatte, das ich in ihn – in uns – gehabt hatte.

  Auri öffnete den Mund, schloss ihn jedoch wieder, bevor er erneut ansetzte. »Ich weiß auch nicht. Ich … ich wollte dir nicht wehtun.«

  »Es spielt keine Rolle, was du wolltest «, sagte ich leise. Meine Wut war aufgebraucht. »Wichtig ist, was du getan hast. Dies war nicht das erste und auch nicht das zweite Mal, das du mich hängen lassen hast. Vor deinen Teamkameraden hast du dich schon so oft genauso verhalten.«

  Auris Hand zuckte, als wollte er nach mir greifen, aber er tat uns beiden den Gefallen, es nicht zu versuchen. »Wie kann ich es wiedergutmachen?«

  Zitternd holte ich Luft. »Ich weiß nicht, ob du das überhaupt kannst«, antwortete ich ehrlich, auch wenn es mir das Herz zerriss.

  Es ging nicht ums Cosplay. Oder um Cornell. Sondern darum, dass ich von meinem Partner bedingungslosen Rückhalt brauchte. Rückhalt, den mir Auri offensichtlich nicht geben konnte. Ich respektierte seine Entscheidung, seinen Teamkameraden nichts über unser Hobby zu erzählen, aber hier ging es um mehr. Und ich konnte nicht nur auf Auri Rücksicht nehmen, ich musste auch auf mich selbst aufpassen.

  »Was hat das zu bedeuten?«, fragte er, hörbar verunsichert.

  Ich presste die Lippen aufeinander, um die Tränen zurückzuhalten. »Dass das hier ein Fehler war.«

  »Cassie …«

  Der Klang meines Namens aus seinem Mund ließ den Kloß in meinem Hals größer werden. »Nicht«, bat ich ihn, meine Stimme kaum lauter als ein Hauchen. »Ich … ich sollte jetzt gehen.« Eilig schob ich mich an Auri vorbei, bevor mich meine Entschlossenheit verlassen konnte. Ich brauchte jetzt Abstand, um in Ruhe über alles nachzudenken.

  »Soll ich dich zurück ins Hotel bringen?«

  Natürlich bot mir Auri selbst nach einem Streit noch an, mich durch die Gegend zu fahren.

  Ich schluckte. »Bleib bei deiner Familie, ich nehme ein Taxi. Richte Jasmin und Trevon aus, dass ich mich sehr über die Einladung gefreut habe.«

  Auri nickte, ohne noch etwas zu sagen. Schweigend beobachtete er, wie ich meine Tasche von der Garderobe nahm und das Haus verließ.

  Ich drehte mich nicht noch einmal um, denn ich wollte nicht, dass er die heißen Tränen sah, die mir über das Gesicht liefen.

  Hastig ging ich bis zur Straße.

  Natürlich war weit und breit kein Taxi zu sehen. Es war Sonntagvormittag in einem Wohnviertel. Um nicht vor dem Haus herumstehen zu müssen, bis sich auf magische Weise eine Mitfahrgelegenheit auftat, setzte ich mich in Bewegung. Einige Minuten lief ich ziellos umher, den Kopf voll und leer zugleich, bis ich wieder klar genug war, um mein Handy hervorzuholen. Mit Hilfe von Google Maps fand ich irgendwie den Weg zum Hotel zurück.

  »Guten Morgen«, begrüßte mich der Rezeptionist mit unerträglich heiterer Stimme. »Was kann ich für Sie tun?«

  »Könnten Sie bitte nachsehen, wann der nächste Flug nach Mayfield geht?«

  32. Kapitel

  »Cassie?« Verdutzt sah Lucien mich an. Es war mitten in der Nacht, aber seinem hellwachen Gesichtsausdruck und seiner Kleidung nach zu urteilen, hatte er noch kein Auge zugetan. »Was machst du hier?«, fragte er verwundert.

  Ich räusperte mich, da ich meiner Stimme seit dem Streit mit Auri nicht über den Weg traute – dafür hatte ich zu viele Tränen vergossen. »Kann … Kann ich eine Weile bei euch bleiben?«, fragte ich stockend und ballte meine Hand noch fester um den Griff meines Koffers. Ich hatte nur das Nötigste eingepackt, um für ein paar Tage über die Runden zu kommen. Ich war noch vollkommen durch den Wind, aber eines wusste ich sicher, ich konnte unmöglich zu Hause sein, wenn Auri in unsere Wohnung zurückkam.

  Es war nicht unser erster Streit gewesen, aber für gewöhnlich waren Ärger und Zorn die vorherrschenden Gefühle nach unseren Auseinandersetzungen. Dieses Mal allerdings verspürte ich nichts als tiefe Traurigkeit, die mich in die Knie zu zwingen drohte.

  Lucien griff nach meinem Koffer, um ihn mir abzunehmen. Er zuckte kurz zurück, als er fühlte, wie kalt meine Finger waren. »Natürlich. Komm rein.«

  Ich folgte ihm ins Haus. Es war ruhig und dunkel, nur aus dem Keller drang Licht.

  »Amicia schläft«, sagte Lucien mit ruhiger Stimme. Micah wäre vermutlich durchgedreht, hätte sie mich in dieser Verfassung gesehen, aber nicht Lucien. Er war durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Ein wahrer Fels in der Brandung. »Wenn du willst, kannst du mein Zimmer haben.«

  Ich schüttelte den Kopf und würgte die Tränen hinunter, die erneut in mir aufstiegen. »Mach dir keine Umstände. Ich kann die Couch nehmen.«

  »Red keinen Unsinn. Du bekommst ein richtiges Bett«, erklärte Lucien in einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete.

  Ich fragte mich, ob er nur nett sein wollte oder ob er mich bemitleidete, weil ich genauso armselig und erschöpft aussah, wie ich mich fühlte. Es kam mir so vor, als hätte ich seit Tagen nicht geschlafen. Ich war erschöpft. Und jedes Wort aus meinem Mund kostete mich mehr Kraft, als ich glaubte, aufbringen zu können. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so gefühlt. Niedergeschmettert. Die Trennung von Eugene war alles andere als schön gewesen, aber nichts im Vergleich zu dem, was ich gerade wegen Auri durchzustehen hatte.

  »Du kannst dich in die Küche setzen, ich komm gleich nach.«

  Ich nickte und streifte mir die Schuhe von den Füßen, ehe ich in die Küche tapste. Sie war altmodisch eingerichtet und passte so überhaupt nicht zu Lucien oder Amicia. Ihre Mutter hatte sie vor über zwanzig Jahren gekauft, als sie gemeinsam mit ihrem damals frischgebackenen Mann hier eingezogen war.

  Ich hockte mich an den runden Tisch in der Mitte, der wackelte, seit ich Lucien kannte. Reglos saß ich da, bemüht, meinen Kopf leer zu halten und nicht an Auri zu denken. Aufmerksam lauschte ich auf die Geräusche, die Lucien verursachte, während er vermutlich gerade eilig sein Bett frisch bezog und sein Zimmer aufräumte. Das lenkte mich zumindest für eine kurze Zeit ab. Wenig später hörte ich seine polternden Schritte, als er die Treppe ins Erdgeschoss hinunterkam.

  »Du hättest dir ruhig etwas zu trinken nehmen können«, sagte Lucien und musterte mich besorgt. Ich konnte nur erahnen, was für ein armseliges Bild ich abgab. »Möchtest du eine heiße Schokolade?«

  Ich nickte.

  Er holte zwei Tassen aus dem Schrank und stellte sie mit Wasser befüllt in die Mikrowelle. Dann lehnte er sich gegen den Tresen und sah mich an. »So, willst du mir jetzt erzählen, was los ist?«

  »Nicht wirklich.« Was sollte es bringen, darüber zu reden? Ich wusste, was Auri getan hatte, und ich wusste, wie ich dazu stand. Ich brauchte weder eine Bestätigung noch jemanden, der versuchte, mir die Sache schönzureden. Auri hatte Mist gebaut, und daran war nicht zu rütteln.

  »Okay«, sagte Lucien ohne jedes Drängen.

  Die Mikrowolle gab ein Piepen von sich. Lucien nahm die Tassen heraus, holte zwei Beutel aus einer Schublade und begann, den Inhalt in das heiße Wasser einzurühren. Nachdem sich die Schokolade aufgelöst hatte, stellte er mir eine der Tassen vor die Nase. »Bitte schön, die besonders eklige ohne Zucker.«

  Ich legte meine Hände um den warmen Becher in der Hoffnung, es würde helfen, das anhaltende Zittern meiner Finger zu lindern. »Danke.«

  Lucien zog einen Stuhl zurück und setzte sich rittlings darauf. Die Arme auf der Lehne abgestützt, nippte er an seiner Schokolade und musterte mich aufmerksam über den Rand der Tasse hinweg. »Also, was ist der Plan? Willst du schlafen? Mein Zimmer ist jetzt ziemlich aufgeräumt. Und es riecht fast nicht nach alten Socken.«

  Ich schüttelte den Kopf. Zwar war ich todmüde, abe
r ich wollte trotzdem nicht schlafen. Ich fürchtete mich vor meinen Träumen und noch mehr vor meinen Gedanken, wenn ich alleine in einem kalten Bett lag, das nicht von Auri gewärmt wurde.

  »Hast du Lust, einen Film zu schauen?«

  »Gerne, aber bitte nicht schon wieder Herr der Ringe .«

  Ganz bestimmt nicht, daran hingen viel zu viele Erinnerungen, die ich mit Auri verband.

  »Such du einen aus.«

  Lucien hob eine Braue. »Wirklich?«

  »Ja, mir egal.«

  Sein Blick verriet Misstrauen, aber er sagte nichts weiter, sondern stand auf und ging mit seiner Tasse ins Wohnzimmer rüber.

  Ich folgte ihm und setzte mich auf die Couch.

  Lucien zog eine Decke vom Sessel und warf sie in meine Richtung, bevor er den Fernseher anschaltete und seine Watchlist durchging. Schließlich entschied er sich für einen Film mit dem schmeichelhaften Titel I Spit on Your Grave .

  Normalerweise endeten diese Art Filme immer damit, dass ich mich hinter einem Kissen versteckte, aber dieses Mal nicht. Nicht weil ich plötzlich kalt und abgebrüht war oder der Film nicht grausam genug. Ich sah schlichtweg nicht, was sich auf dem Bildschirm abspielte. Immer wieder verschleierten mir Tränen den Blick, und wenn ich doch einmal klare Sicht hatte, starrte ich ins Nichts und wiederholte in Gedanken das Gespräch mit Auri. Wieder und wieder und wieder …

  Und was hat das zu bedeuten?

  Seine Frage ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Ja, was hatte das alles zu bedeuten? Für mich. Für uns. Für unsere Wohnsituation. Auri war so fest in meinem Leben verankert, dass ich es mir ohne ihn nicht mehr vorstellen konnte. Und zugleich konnte ich es mir gerade nicht mehr mit ihm vorstellen – obwohl genau das so lange mein sehnlichster Wunsch gewesen war. Ich konnte mein Herz, meine Seele und mein Bett nicht mit einer Person teilen, der es anscheinend so leichtfiel, mich zu leugnen und im Stich zu lassen. Denn selbst wenn ich ihm dieses eine Mal noch verzieh, gab es keine Garantie dafür, dass es nicht wieder passierte. Besser, ich ließ zu, dass Auris Abwesenheit jetzt ein irreparables Loch in mein Leben riss, als dass ich an ihm festhielt und mich womöglich mit der Zeit vollkommen von ihm zerstören ließ.

  Eine mit Blut und Dreck verschmierte Frau rannte über den Bildschirm. Ich hatte keine Ahnung, was passiert war, wie sie dort hingekommen war oder wie lange der Film bereits lief, denn in meinem Kopf stand die Zeit still.

  Bis plötzlich Luciens Handy klingelte.

  Er drückte auf die Pausetaste und stand von der Couch auf, um es zu holen. Dabei entging mir nicht, wie sein Blick für den Bruchteil einer Sekunde zu mir zuckte, als wäre er sich unsicher, ob er mich alleine lassen konnte.

  Er zögerte zu lange, und das Läuten verstummte.

  Doch gerade als er sich wieder setzen wollte, fing das Telefon erneut an zu klingen. Ein Laut, der in meinem Kopf zu einem schrillen Kreischen anschwoll.

  Lucien sprang auf, und kurz darauf kehrte Stille ein. »Ja?«

  Ich wollte nicht lauschen, aber es war schwer, nicht hinzuhören.

  Schritte näherten sich, und einen Moment später tauchte Lucien wieder im Türrahmen auf. Er wirkte angespannt. Zwischen seinen Augenbrauen stand eine tiefe Falte.

  »Ja, sie ist hier«, antwortete er auf eine Frage, die ich nicht hatte hören können. Doch es war nicht schwer zu erraten, wer sie gestellt hatte.

  Ein stechender Schmerz bohrte sich in meine Brust.

  »Nein, du kannst nicht mit ihr reden«, sagte Lucien, den Blick fest auf mich gerichtet. Etwas Finsteres lag in seinen Augen, als würde er sich gerade vorstellen, wie es wäre, Auri wehzutun. »Ich muss sie nicht fragen. Ich weiß, dass sie nicht mit dir reden will.«

  Ich krallte meine Finger in die Decke, um gegen den Drang anzukämpfen, Lucien das Handy zu entreißen. Ich wollte nicht mit Auri sprechen. Und zugleich wünschte ich es mir mehr als alles andere. Ich wollte seine Stimme hören. Seine Entschuldigung. In der Hoffnung, dass er möglicherweise die richtigen Worte fand, um alles wiedergutzumachen.

  »Es wird einen Grund haben, wieso ihr Handy ausgeschaltet ist«, sagte Lucien mit gefährlich ruhiger Stimme. »Okay. Tschau.« Er beendete das Gespräch.

  Ich starrte ihn an.

  Er starrte mich an.

  »Das war Auri.«

  »Ich weiß«, krächzte ich. Mir war schlecht und eiskalt, als hätte ich auf einmal die Grippe. »Was wollte er?«

  »Wissen, ob es dir gut geht. Dein Handy ist aus.« Lucien ließ sich wieder neben mich auf die Couch fallen. Dieses Mal so nahe, dass sich unsere Knie berührten.

  »Der Akku ist leer.« Mein Telefon war kurz nach der Landung ausgegangen, und ich hatte es nicht wieder aufgeladen. Aus gutem Grund.

  Lucien schielte zu mir. »Und du willst wirklich nicht über das reden, was passiert ist?«

  Ich schüttelte den Kopf.

  »Sicher?«

  Ich nickte und schnappte mir die Fernbedienung, um den Film wieder zu starten. Mir war so gar nicht nach einer Unterhaltung zumute.

  Erneut hallten die gequälten Schreie der Opfer durch den Raum. Am liebsten hätte ich mit ihnen gebrüllt.

  33. Kapitel

  Die darauffolgenden Tage und Nächte verschwammen miteinander. Ich blieb in Luciens Bett liegen und schleppte mich nur die Treppe herunter, wenn Amicia und er mir keine andere Wahl ließen. Ich war kraftlos und ohne Motivation und fühlte mich krank, ohne krank zu sein. Meine letzte Schicht im Crooked Ink sagte ich ab. Wenn bald das neue Semester begann, würde Julian seinen Job ohnehin wieder übernehmen.

  Ich schaute jede Menge Serien, ohne mir den Inhalt zu merken, und schlief kaum. Meine Erinnerungen an die kurze, aber intensive Zeit mit Auri waren zu Träumen geworden. Träume, die bei Nacht wunderbar erschienen, sich bei Tag aber als Albträume entpuppten.

  Es dauerte nicht lange, bis Micah bei Lucien auftauchte. Auri hatte ihr nicht erzählt, was zwischen uns vorgefallen war, aber sie hatte Augen im Kopf und natürlich mitbekommen, dass ich vorübergehend aus unserer gemeinsamen Wohnung ausgezogen war.

  Anders als Lucien zeigte sie weit weniger Geduld mit mir, und schließlich erzählte ich ihr, was zwischen Auri und mir vorgefallen war. Sie war schockiert und versprach mir, ihm eine Ohrfeige zu verpassen, wenn sie ihn das nächste Mal sah.

  Drei Stunden später bekam ich eine Nachricht von Auri, dass Micah ihn geohrfeigt hatte. Ich ließ sie unbeantwortet, wie jede Nachricht, die er mir schrieb. Sie alle hatten denselben bedeutungslosen Inhalt. Leere Worte, von denen ich mich in der Vergangenheit zu oft hatte einlullen lassen.

  Auri: Es tut mir leid.

  Auri: Ich vermisse dich.

  Auri: Bitte rede mit mir.

  Auri: Ich habe alles kaputt gemacht.

  Auri: Verzeih mir.

  Auri: Geht es dir gut?

  Auri: Cassie, bitte.

  Auri: Es tut mir leid.

  Auri: Es tut mir leid.

  Auri: Es tut mir leid.

  Ich blockierte seine Nummer.

  »Cassie? Essen ist fertig«, rief Lucien und schob den Kopf in sein Zimmer, in dem ich inzwischen seit einer Woche schlief.

  Eine Woche ohne Auri. Das war die längste Zeit, die ich ohne ihn verbracht hatte, seit ich ihn kannte. Jeden Tag redete ich mir ein, dass der nächste besser werden würde, aber das stimmte nicht. Es schien nur schlimmer und schlimmer zu werden.

  »Ich habe keinen Hunger«, antwortete ich, ohne aufzublicken. Ich lag auf dem Bett und schaute mir auf dem Handy ein Video von Laurence an, das Micah mir geschickt hatte. Er jagte darauf seinem eigenen Schwanz nach. Zumindest das brachte mich zum Schmunzeln.

  Lucien drückte die Tür weiter auf. »Du hast den ganzen Tag kaum was gegessen.« Sorge schwang in seinen Worten mit. »Ich verstehe, dass es dir nicht gut geht, aber kein Kerl der Welt ist es wert, dass du dich für ihn kaputt machst.«

  »Bringst du mir was rauf?«

  Lucien verschränkte die Arme vor der Brust. Das schwarze Haar fiel ihm störrisch in die Stirn. »Nein.«

  »Bitte?«

  »Nein. Du kommst mit runter.«

  Ich wusste nicht, ob Lucien diesen stre
ngen, väterlichen Tonfall schon immer draufgehabt hatte oder ob er ihn im Umgang mit Amicia erst hatte lernen müssen. So oder so zeigte er seine Wirkung. Ich rollte mich herum und quälte mich aus dem Bett. Nicht weil ich gehorchen wollte, sondern weil ich es Lucien schuldig war. Er war mir in den letzten Tagen ein guter Freund gewesen und machte sich ganz offensichtlich Sorgen um mich.

  »Geht doch«, sagte Lucien, als ich an ihm vorbei die Treppe nach unten lief.

  Amicia saß bereits am Tisch.

  Es gab nichts Ausgefallenes, Kartoffeln mit Erbsen und Hühnerbrust. Doch Lucien gab sich Mühe. Er kochte jeden Tag für sich und seine Schwester, um ihr zumindest einen Hauch familiäre Normalität zu bieten. Ich hatte schon zuvor gewusst, dass er sich gut um Amicia kümmerte, aber erst jetzt, da ich bei ihm wohnte, wurde mir das Ausmaß seiner Bemühungen richtig bewusst.

  Ich nahm mir eine kleine Portion von allem, da mein Magen und mein Blutzucker die letzten Tage ziemlich verrücktgespielt hatten.

  »Darf ich mir ein Tattoo stechen lassen?«, fragte Amicia aus heiterem Himmel, nachdem sie sich eine große Ladung Erbsen auf den Teller gehäuft hatte.

  Lucien runzelte die Stirn. »Du willst ein Tattoo?«

  »Ja, ein Zitat auf meinen Unterarm.« Amicia deutete auf die Stelle, die sie sich stechen lassen wollte.

  »Nein«, sagte Lucien und schob sich einen Bissen Hühnerbrust in den Mund.

  »Was?«, kreischte Amicia empört, als hätte sie niemals damit gerechnet, dass ihr Bruder, der von Kopf bis Fuß tätowiert war, ihren Wunsch ablehnen könnte. »Wieso nicht?«

  »Du bist erst fünfzehn.«

  Sie schnappte empört nach Luft. »Du hast dir dein erstes Tattoo auch mit fünfzehn machen lassen.«

  »Und es war ein Fehler.«

  Schmollend verzog Amicia die Lippen. »Das ist unfair.«

  Lucien zuckte mit den Schultern. »Das Leben ist unfair.«

  » Du bist unfair. Stimmt’s, Cassie?«

  Ich hob abwehrend die Hände. Gewiss würde ich mich nicht in diesen Streit hineinziehen lassen. Ich hatte genug eigene Probleme, auch ohne Lucien Erziehungstipps zu geben.

 

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