Ever – Wann immer du mich berührst

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Ever – Wann immer du mich berührst Page 9

by Hotel, Nikola

Ich werfe ihr einen eindringlichen Blick zu.

  «… den Nachtisch lassen wir heute weg.»

  «Und was zu trinken?»

  «Ich hab noch», sagt Jane und knirscht mit den Zähnen.

  «Für mich ein Leitungswasser.» Das ist umsonst.

  Chase sammelt die Karten ein. «Okay. Wenn du meine Frage richtig beantwortest, mach ich aus deinem Leitungswasser ein Bier.»

  «Ein O-Saft wäre mir lieber.» Normalerweise trinke ich immer nur Wasser, aber zur Feier des Tages …

  «Alles klar. Es gibt sogar frisch gepressten», sagt er und verschränkt lächelnd die Arme über der Menükarte vor seinem flachen Bauch. «Bei welchem Film hast du so richtig geheult?»

  Verdammt, was soll das denn? Meinen panischen Seitenblick beantwortet Jane damit, dass sie hilflos die Schultern anhebt.

  «Wenn du jetzt Titanic sagst, mache ich dein Wasserglas nur halbvoll, weil du den garantiert nicht mal gesehen hast.»

  Das stimmt. Weil von vornherein klar ist, wie der Film ausgeht. Außerdem heule ich echt selten bei Filmen. «Muss es ein Film sein oder gehen auch Serien?»

  Chase wirkt im ersten Moment verdattert, dann wiegt er den Kopf hin und her. «Serien gehen auch.»

  «Dann Normal People.»

  «Das hast du gesehen?» Jane schaut überrascht auf.

  «Ja, stell dir vor. Und danach hab ich das Buch gelesen.»

  «Macht man das nicht normal andersrum?»

  «Was ist schon normal?» Ich zucke mit den Schultern.

  Chase zieht die Brauen in die Höhe. «Welche Szene?», hakt er nach. «Bei welcher Szene von Normal People hast du geheult?»

  Muss er das wirklich so genau wissen? «Da gab es mehrere Stellen.» Es ist mir unangenehm, aber verdammt, was tut man nicht alles für ein Glas O-Saft. «Folge drei. Als Connell mit seiner Mutter im Auto fährt und sie ihm sagt, dass sie sich für ihn schämt.» Ich will eigentlich nicht darüber reden. Meine Mom hat einmal genau dasselbe zu mir gesagt, und dieser Moment gehört ebenfalls zu denen, die ich niemals vergessen werde.

  «Oh.» Chase nickt. Langsam. Mehrmals. «Das hätte ich nicht von dir gedacht. Ich glaube, ich mag dich, David Rivers.»

  Und ich fühle mich gerade seziert. «Dann … Ich könnte einen Nebenjob gebrauchen», sage ich, um das Thema zu wechseln. «Du hast noch niemand Neues eingestellt, oder? Besteht noch Bedarf?»

  Er wechselt einen schnellen Blick mit Jane. «Schon. Aber ich kann nicht mehr zahlen, als auch deine Mutter bekommen hat.»

  «Mein Dienstplan in der Klinik …»

  «Das ist okay», fällt Jane mir ins Wort. «Ich habe Chase eben auch schon gefragt. Und ich nehme den Job. Ich kann morgen anfangen.»

  Mein Kopf schwenkt zwischen ihr und Chase hin und her, und Chase fängt an zu grinsen. «Wollt ihr beide euch darüber noch mal austauschen? Ich brauche leider nur eine Aushilfe.»

  «Nein», sagt Jane sofort. «Mein Bruder hat schon einen ziemlich anstrengenden Nebenjob in der Rehaklinik, ein zweiter wäre echt zu viel.»

  «Jane», raune ich. «Können wir uns mal kurz unterhalten?»

  «Ich bringe euch erst mal eure Burger.» Chase lässt uns allein.

  «Was soll das?», fahre ich sie an, kaum das Chase außer Hörweite ist. «Du willst dich doch nicht ernsthaft im Service kaputtarbeiten, so wie Mom!»

  Sie verschränkt die Arme. «Aber wenn du das neben deinem Studium und deiner Arbeit in der Klinik machst, ist das in Ordnung oder was?»

  «Es ist ja nur für ein Jahr, bis ich meinen DPT in der Tasche habe. Ich krieg das schon hin.»

  «Ich krieg das auch hin. Ich bin gesund, wie du weißt. Ganz abgesehen davon habe ich mir ohnehin überlegt, dass ich mit dem Studium noch etwas warte. Du musst dich nicht allein um alles kümmern. Ich werde dieses Jahr einfach voll arbeiten und sparen. Fange ich halt ein Jahr später an.»

  Das ist das Blödeste, was ich jemals gehört habe. «Du hast schon eine Zusage für die UNH.»

  «Aber wir können uns die Gebühren dort nicht leisten, Dave.»

  «Ich nehme einen Kredit auf. Ich habe nächste Woche einen Termin bei der Bank.»

  «Ich hab schon abgesagt.»

  «Was?» Ich muss an mich halten, um nicht aufzuspringen, und beuge mich über den Tisch. «Das hast du nicht!»

  «Doch. Schon vor einem Monat, der Platz ist inzwischen längst an jemand anderen vergeben.»

  Ich kann es nicht glauben. Verdammt. Verdammt, verdammt, verdammt. «Das ist doch scheiße, Jane. Warum hast du das gemacht? Warum hast du nicht wenigstens vorher mit mir gesprochen?»

  «Weil ich genau wusste, dass du mich davon abhalten würdest.» Jetzt redet sie sich in Rage. «Es ist okay, wenn du Tag und Nacht arbeitest. Es ist okay, wenn du in der Klinik schuftest, nebenher zur Uni gehst und dann nachts auch noch lernst. Es ist okay, wenn du alles alleine regelst, was mit Moms Tod zu tun hat. Und mit meinen Arztterminen. Das ist alles okay für dich, ja? Aber ich gehöre auch zu dieser Familie, und ich möchte meinen Teil beitragen. Du willst für mich, für mein Studium einen Kredit aufnehmen? Ernsthaft, David?»

  «Und du meinst, du hilfst, indem du deinen Collegeplatz aufgibst? Mom hätte das niemals erlaubt.»

  «Mom ist tot. Und du bist nicht für mich verantwortlich.»

  «Natürlich bin ich das.»

  «Ich hasse es, dass ich eine Pflicht für dich bin. Hör endlich auf, mich wie eine Kranke zu behandeln!» Jetzt stemmt sie sich an der Tischplatte hoch und wirft mir einen wütenden Blick zu. «Ich muss auf die Toilette.»

  Ich schaue ihr nicht nach, wie sie abdampft, sondern schlage mit der flachen Hand auf den Tisch. Scheiße. Jane hat es einfach durchgezogen und mir nicht mal die Chance gelassen, mit ihr darüber zu reden. Uns wäre schon was eingefallen. Den Kredit hätte ich bekommen, da bin ich sicher. Und natürlich fühle ich mich für sie verantwortlich. Sie ist meine kleine Schwester. Außerdem stimmt es nicht, dass ich sie wie eine Kranke behandle, ich … ach, verdammt. Ja, sie hat recht: Es ist ihre Entscheidung. Und trotzdem … Es wäre nur dieses eine harte Jahr. Was ist, wenn sie nie mehr zu studieren anfängt? Was, wenn sie hier hängenbleibt wie Mom? Unsere Mutter hatte zeitweise vier verschiedene Hilfsjobs gleichzeitig, und das Geld hat trotzdem nie gereicht. Es war immer zu wenig.

  Als Chase die Burger bringt, ist Jane immer noch nicht von der Toilette zurück, und es würde mich nicht wundern, wenn sie mich sitzengelassen hat.

  «Ist Jane gegangen?»

  «Sie ist nur kurz an die frische Luft.»

  Ich nicke. «Wegen des Jobs …», fange ich an, werde von Chase aber sofort unterbrochen.

  «Die Stelle ist leider schon vergeben, tut mir leid. Sie hat mich zuerst gefragt.»

  «In Ordnung.»

  Ein paar Minuten lang starre ich auf meinen Burger und sehe zu, wie er kalt wird. Der Appetit ist mir vergangen. Nicht nur wegen der Rechnung vom Rettungsdienst, sondern weil ich jetzt an die Klinik denke und daran, dass ich mit Abbi Hayden schon genug Problem habe. Dann kommt Jane zurück – mit Aubree und Noah im Schlepptau.

  «Hey.» Noah hält mir seine Faust hin, und als ich nicht reagiere, drückt er mir die Schulter. «So beschissen?»

  «Lass uns gar nicht erst davon anfangen.»

  Er setzt sich mir gegenüber, verschränkt die Arme vor sich auf dem Tisch. Sie sind von oben bis unten tätowiert. Ihn neben Aubree zu sehen, die mit den kurzen Haaren und den großen dunklen Augen so zart und verletzlich wirkt, ist ein ziemliches Kontrastprogramm.

  Er nickt mir zu. «Wie wär’s, wenn wir morgen zusammen trainieren? Ich bin um zwei schon in der Uni fertig.»

  «Genau darauf habe ich gehofft», sage ich. Noah ist jemand, der immer über seine Grenzen geht, und mit ihm zusammen zu trainieren, fordert mich jedes Mal heraus und bläst mir den Kopf frei. Außerdem kann ich echt einen Freund gebrauchen. «Ich muss aber arbeiten, es geht leider erst nach sechs.»

  «Dann fahre ich vorher in den Stall, kümmere mich um mein Pferd und wir treffen uns danach direkt im Klinikpark.»

  «Einverstanden.»

  Aubree beugt sich über den Tisch und klaut mir eine Gu
rke aus meinem Salat. «Sorry, David, ich sterbe vor Hunger. Dafür gebe ich dir gleich was von mir ab.» Sie blinzelt einmal kurz in Janes Richtung. «Ihr seid übrigens eingeladen, also lasst uns noch was bestellen. Ich habe Grund zu feiern. Es gab heute einen dicken Vorschuss.»

  Scheiße, Jane hat was zu ihr gesagt. Ich kämpfe gegen den Drang an, das sofort abzublocken. Ich will mein Essen selbst zahlen. Verdammt, wieso fällt es einem eigentlich leichter, von einem Fremden was anzunehmen als von einem Freund? Und Aubree ist eine Freundin. Ich bringe es trotzdem nicht über mich, meinen Einwand runterzuschlucken. «Danke für das Angebot, aber das ist echt nicht nötig.»

  «Ich mache es gern.»

  «Aubree hat eine neue Sprecherrolle bekommen», erklärt Jane. Sie hat sich offenbar beruhigt. Trotzdem merke ich, dass sie mich immer noch zweifelnd ansieht.

  «Ich darf mal wieder einen kleinen Jungen synchronisieren, yeah.» Aubree verdreht die Augen und zuckt dann mit den Schultern. «Nur für eine Comicserie, aber es ist die Hauptrolle, also ist es okay.»

  «Es ist mehr als okay», sagt Noah. «Ich frag mich nur, ob sie wirklich einen kleinen Jungen mit einer so sexy Stimme haben wollen.» Er grinst, dann erstarrt er plötzlich und beißt sich auf die Unterlippe. Keine Ahnung, was Aubree gerade unter dem Tisch macht, aber Noahs Reaktion nach ist es etwas, das mich nichts angeht.

  «Glückwunsch zur Rolle», sage ich, aber weil sie noch keine Getränke haben, können wir nicht darauf anstoßen.

  Chase kommt wieder an unseren Tisch. «Noah, Aubree», begrüßt er die beiden. «Alles klar bei euch? Wie geht es deinem Dad, Noah?»

  Noah zieht eine Augenbraue hoch. Sein Vater war früher sein wunder Punkt, aber inzwischen haben die beiden sich wieder angenähert. «Gut. Und wie geht es Winston?», gibt er zurück. «Seid ihr gerade mal wieder zusammen oder getrennt?»

  «Das geht dich einen Scheißdreck an, Blakely.»

  «Oh Gott, ich liebe es, wenn du so mit mir redest.»

  Noah ist gut mit Chase und dessen Schwester Harper befreundet, auch wenn sich das gerade nicht so anhört. Die drei kennen sich seit Jahren.

  Chase seufzt. «Und ich hatte kurz mit dem Gedanken gespielt, zu sagen: Wie schön, dich zu sehen.»

  «Ich hab dich auch vermisst.» Noah steht lachend auf, und die beiden umarmen sich. «Stell uns einfach die verfickte Frage, okay?»

  «Du wirst es sowieso mit einem blöden Spruch versauen.»

  «Tja, Filme sind aber mein Fachgebiet. Also …»

  «Bei welchem Film hast du so richtig geheult?»

  Einen Moment herrscht Stille.

  «Fuck», stößt Noah aus. «Ist das dein Ernst, Chase?»

  Aubree fängt an zu lachen und hält sich schon vorsorglich die Hände vor die Ohren. «Ich weiß nicht, ob ich seine Antwort darauf wirklich hören will. Nein, ich will’s lieber nicht.»

  «Also ich will sie hören», sagt Jane.

  Noah überlegt. «Krieg ich Extrapunkte, wenn ich Brokeback Mountain sage?»

  Chase streckt ihm den Mittelfinger hin.

  Da muss ich grinsen und merke, dass ich doch noch verdammt großen Hunger habe. Und für einen Moment denke ich nicht mehr an die Klinik. Nicht an die Rechnung des Rettungsdienstes. Und auch nicht daran, dass ich meine Schwester seit Wochen belüge.

  9. Kapitel

  David

  Abbi ist nicht in ihrem Zimmer, als ich am nächsten Tag zur Therapie komme. Ich starre auf ihr zerwühltes Bett und dann auf ihren Nachttisch, wo nur ein Stapel loser Blätter liegt. Wahrscheinlich einfach nur eine neue Sorte der Papierfirma ihres Dads. Ein Blatt nehme ich in die Hand. Und weil es die perfekte Form hat, fangen meine Hände ganz automatisch an, es zu knicken. Als würden meine Finger sich von selbst daran erinnern, wie es geht, habe ich nach zwei Minuten einen Papierkranich gefaltet, so wie ich das früher für Jane gemacht habe. Die Flügel weit ausgebreitet, stelle ich ihn auf die Ablage. Keine Ahnung, warum. Wahrscheinlich nur, damit sie weiß, dass jemand da war, wenn sie ihn entdeckt. Und weil Abbi von diesem Ryan so eine Scheißnachricht bekommen hat und sie etwas gebrauchen kann, was sie für fünf Minuten mal auf andere Gedanken bringt.

  Patientin nicht im Zimmer, keine KG gemacht, trage ich in die Akte ein, und weil ich eigentlich sowieso schon Feierabend habe, mache ich mich jetzt direkt auf den Weg in den Park, um Noah zu treffen. Meine Klinikklamotten tausche ich gegen eine schwarze Trainingshose, Turnschuhe und ein weißes Shirt. Der Rucksack klebt mir trotzdem am Rücken, als ich ankomme. Noah ist noch nicht zu sehen, und weil kaum Leute unterwegs sind und ich sowieso nichts Wertvolles bei mir habe, werfe ich mein Zeug unter einen Baum und jogge dann ein paar Runden durch den Park, um meine Muskeln aufzuwärmen. Danach ziehe ich mir das verschwitzte T-Shirt über den Kopf, stecke mir den rechten Kopfhörer ins Ohr und starte meine Playlist. Mit einfachen Burpees fange ich an, springe in den Liegestütz und wieder hoch, mache dann ein paar Schersprünge und suche mir eine Parkbank für einfache Dips, bei denen ich mich auf der Sitzfläche abstütze.

  Das ist genau das, was ich jetzt brauche. Es tut verdammt gut, meine Muskeln zu spüren und die Sonne auf meinen Schultern. Wenn ich mich nicht auspowern kann, werde ich irgendwann durchdrehen. Nicht nur wegen der verdammten Rechnungen oder wegen Janes Alleingang. Ich kann an nichts anderes denken als daran, dass ich Jane belüge, und ich weiß nicht, wie lange ich das noch durchhalte. Wenn nicht ausgerechnet Haydens Tochter meine Patientin wäre, könnte ich es vielleicht verdrängen. Aber so erinnert mich Abbi Hayden täglich daran, dass Jane eine Halbschwester hat. Und einen Erzeuger, der sich einen Dreck um sie schert.

  Hölle, ich will nicht darüber nachdenken, will meinen Kopf ausschalten, also suche ich mir die höchste Reckstange aus und mache Klimmzüge mit angewinkelten Beinen. Ich habe noch nicht bis zehn gezählt, als Noah sich an die zweite Stange neben mir hängt.

  «Sorry für die Verspätung», sagt er.

  «Kein Ding. Ich bin früher rausgekommen.» Groß reden kann ich jetzt nicht. Ich beende die normalen Pull-ups, schwinge unter der Stange durch, lasse los, und nach einer Drehung um die eigene Achse packe ich sie erneut und schwinge mich in die andere Richtung. Meine Hände brennen, als ich die Metallstange erwische und der Ruck mir durch den ganzen Körper fährt. Danach stemme ich mich hoch in den Handstand, bevor ich mich runterlasse und neben Noah auf dem Boden lande, der mich lieber beobachtet hat, statt selber Klimmzüge zu machen.

  «Fuck, David, wenn ich dir länger zugucke, kriege ich Komplexe. Das ist so verdammt krass, was du da machst.»

  «Jahre…langes Training.»

  «Und nach ein paar Jahren gelten die verfickten Gesetze der Physik nicht mehr, oder was?»

  «Das ist … auch für mich … anstrengend.» Ich bin noch außer Atem. «Und es sieht … leichter aus, als es ist. Dafür würdest du mich beim Boxen … nach zehn Sekunden auf die Bretter schicken.»

  «Nach zwei.» Noah wischt sich grinsend ein paar Haarsträhnen aus der Stirn. Dann holt er eine Dose Talkum aus seiner Tasche, knallt die Hände aneinander, und das Puder staubt durch die Luft. «Sag mir bitte, dass du dabei schon verdammt oft runtergefallen bist.»

  «Kann es gar nicht mehr zählen.»

  «Okay, das gibt mir meinen Glauben zurück.» Noah springt an die Stange und beginnt mit Klimmzügen. Er ist schnell, aber ich zähle nicht mit. Ich habe eine ganz andere Art zu trainieren. Mir geht es nicht um Schnelligkeit, sondern um Konzentration und die perfekte Ausübung der Bewegung. Und weil Noah mit seinen Tattoos nicht gerade unauffällig ist, bleiben einige Spaziergänger stehen.

  Noah versucht anschließend, die Schwünge am Reck mit einer einfachen Drehung zu kombinieren, was ihm gelingt. Aber nach der doppelten Drehung trifft er die Stange nicht sauber und rutscht ab. «Fuck», flucht er und lacht auf, als er unfreiwillig auf dem Boden landet. «Okay, David, die Stange gehört dir.»

  Bevor ich loslege, sehe ich im Augenwinkel, dass Leute in unsere Richtung kommen. Ein Rollstuhlfahrer mit Begleitung, aber ich achte nicht weiter darauf. Die anderen Zuschauer haben sich inzwischen verstreut, und ich mache wieder Klimmzüge. Diesmal einhändig. Erst re
chts, dann links, immer im Wechsel. Den Arm eng am Oberkörper ziehe ich mich so weit hoch, bis meine andere Schulter die Stange berührt, was verdammt hart ist. Der Kopfhörer fällt mir aus dem Ohr, und nachdem ich abgesprungen bin und auf dem Boden lande, sage ich: «Ist wieder deine. Lass sehen.»

  Woraufhin Noah mir ein «Fick dich», an den Kopf wirft. «Scheiße, David, das ist doch abartig. Ich bin froh, wenn ich mich mit zwei Armen da hochkriege.»

  Ich muss lachen und bücke mich, um meinen Kopfhörer aufzusammeln. Als ich aufblicke, sehe ich, dass die Leute, die eben auf uns zugekommen sind, uns inzwischen erreicht haben.

  Und verdammt, im Rollstuhl sitzt Abbi Hayden. Deshalb war sie also nicht in ihrem Zimmer. Sie hat Besuch bekommen. Meine Augen registrieren sofort, dass sie heute ganz anders aussieht. Beinahe glücklich. Ein Kind sitzt auf ihrem gesunden Bein, und weil sie den Jungen gerade durchkitzelt, lachen sie beide. Die junge Frau hinter ihr hat den Rollstuhl geschoben. Sie muss eine wirklich gute Freundin sein, wenn sie Abbi dazu bewegen konnte, rauszugehen, und jetzt sagt sie etwas. Abbi hebt den Kopf, ihr Blick geht suchend umher. Dann entdeckt sie mich.

  Weil sie wegen des Jungen immer noch lächelt, muss ich das plötzlich auch. Selbst wenn ich wollte, könnte ich es wahrscheinlich nicht zurückhalten.

  Der Junge zieht ihr nun energisch am T-Shirt, um ihre Aufmerksamkeit zurückzubekommen. Ich hebe grüßend eine Hand und zwinge mich dann dazu, wegzugucken.

  «Kennst du die beiden?» Noah lässt sich mit einem Ächzen fallen.

  «Nur eine Patientin.» Ich gehe zum Barren, der neben den Reckstangen angebracht ist, und kann fühlen, wie Abbis Blick mir folgt. Sie scheint mit ihrer Freundin zu diskutieren, aber ich verstehe nicht, was sie sagt. Nur ein verzweifeltes «Willow, bitte» ist deutlich zu hören. Ich kann meine Augen nicht daran hindern, wieder zu ihr zu schwenken.

  «Na und?» Ihre Freundin Willow gibt sich keine Mühe, leise zu sprechen. «Das ist ein öffentlicher Park. Außerdem haben die beiden ganz offensichtlich nichts dagegen, beobachtet zu werden, sonst würden sie sich was anziehen.»

  Okay, jetzt kann ich mein Grinsen definitiv nicht mehr zurückdrängen. Während Noah weiter am Reck trainiert, greife ich nun mit beiden Händen rechts und links an den Barren und gehe mit den Beinen hoch bis in den Handstand. Ich mache Push-ups, ultralangsam gehe ich in den Armen nach unten, nur um mich in derselben Bewegung wieder hochzustemmen. Wieder und wieder. Meine Muskeln beschweren sich. Ich liebe das Gefühl, trotzdem die Kontrolle zu behalten und es bis aufs Letzte auszureizen. Ich greife um, stütze mich nur noch auf eine Stange, verlagere das Gewicht vollständig auf meinen rechten Arm und löse den anderen, hebe ihn hoch, balanciere meinen Körper auf einer Hand aus.

 

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