Ever – Wann immer du mich berührst

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Ever – Wann immer du mich berührst Page 17

by Hotel, Nikola

«Was war das denn?»

  Sie wischt sich ein paar nasse Haarsträhnen aus dem Gesicht. «Ich dachte, ich … bringe es lieber hinter mich», bringt sie zitternd hervor. «D-du hast gesagt, ich wäre passiv. Also dass ich passive Bewältigungsstrategien hätte. Das … konnte ich nicht auf mir sitzen lassen.» Sie japst nach Luft.

  Weil ich das zu ihr gesagt habe, macht sie einen Kopfsprung ins kalte Wasser und riskiert einen Kreislaufkollaps? Na großartig, David.

  «Mach nie wieder etwas, nur weil ich Idiot was Bescheuertes sage, okay?»

  Sie nickt und grinst, aber dann hüpft sie auf der Stelle. «Es ist so kalt, es ist so kalt. Oh Gott, oh Gott, ist das kalt.» Dann taucht sie plötzlich wieder unter, kommt aber nach nur einem Meter prustend wieder hoch und stellt sich direkt vor mich hin. Das Wasser ist nicht so tief, wie ich dachte. Es geht ihr gerade einmal bis zum Brustkorb. Für die Übungen ideal, für mein Seelenheil wäre es allerdings besser, es würde ihr bis zum Kinn reichen, weil … Sie hat überall Gänsehaut, auf den Armen, ihrem Hals, und ich will keinesfalls sehen, wie sich ihre Brustwarzen unter dem weißen Stoff zusammenziehen. Scheiße, jetzt habe ich doch hingesehen. Und mein verdammtes Gehirn hat davon natürlich sofort einen Screenshot gemacht.

  Ich senke den Kopf, fahre mir mehrmals durch die verschwitzten Haare in meinem Nacken, dann hefte ich meinen Blick krampfhaft auf Abbis Gesicht. «Für deinen Kreislauf wäre es besser, das beim nächsten Mal einen Hauch langsamer anzugehen.»

  Sie schlingt die Arme um sich, nickt mehrmals und klappert dabei mit den Zähnen. «Ja, du hast bestimmt recht. Nur … einen Moment, ich muss … mich … bewegen …» Sie dreht mir den Rücken zu und schwimmt. Es sieht witzig aus, weil sie versucht, nur mit dem linken Bein vorwärtszukommen. Ich beobachte, wie sie im Kreis einmal um die Statue herumschwimmt, dann hält sie zielstrebig auf die einzige Stelle des Pools zu, wo ein Streifen Sonnenlicht hinfällt, und ich laufe neben ihr her.

  «Ist das okay, wenn ich hierbleibe?»

  «Klar. Am besten kommst du näher an den Rand, dann kannst du dich bei der Übung festhalten.»

  Sie folgt meiner Aufforderung, und in meinem Hirn höre ich ihre Stimme dazu ganz sanft «Ja, Mr. Rivers» hauchen. Eine Stimme, die ich gerade ganz und gar nicht gebrauchen kann.

  Ich hole tief Luft, dann erkläre ich ihr einen Bewegungsablauf, den sie mit dem operierten Bein machen soll, und Abbi hebt ihr Bein langsam nach hinten, um dann in die entgegengesetzte Richtung gegen das Wasser zu treten. Sie hält sich seitlich am Beckenrand fest, und das Wasser schwappt ihr über die Brüste. Das war wirklich eine beschissene Idee. Wenn Noah wüsste, was gerade in meinem Kopf vor sich geht, würde er sich totlachen. Und wenn Abbi es wüsste, dann …

  Meine Hände schiebe ich in die Hosentaschen, wo ich sie zu Fäusten balle. Ich ärgere mich über mich selbst, weil das einfach lächerlich ist. Ich habe Abbi schon in Unterwäsche gesehen, das hier sollte mich völlig kaltlassen. Ich muss mich jetzt verdammt noch mal darauf konzentrieren, einfach meinen Job zu machen. Und ich sollte anstatt an einen weißen Badeanzug an William Hayden denken und daran, was er meiner Familie angetan hat.

  Mom hat sich kaputtgearbeitet, um die Arztrechnungen für Jane zu bezahlen und uns allein großzuziehen. Wenn ich an früher zurückdenke, sehe ich Mom immer nur todmüde vor mir. Morgens am Frühstückstisch hat sie uns das Müsli vor die Nase gestellt und dabei die Augen kaum aufbekommen. Nach der Arbeit ist sie mit uns zum Arzt gefahren, in die Klinik und manchmal auch zu Freunden, aber sie war dabei immer erledigt. Oft musste sie danach zu einem weiteren Job. Urlaub war nicht drin. Aber einmal haben wir ein verdammtes Zelt hinter unserem Haus auf einem winzigen Stück Rasen aufgestellt und ein Lagerfeuer angezündet, wo wir Marshmallows entweder in die Flammen tropfen oder verkokeln ließen. Den Gestank von dem verbrannten süßen Zeug habe ich heute noch in der Nase.

  Und jetzt stehe ich im Garten von William Hayden, wo es nach verfluchten Rosen duftet. Was ist das hier? Eine Scheiß-Downton-Abbey-Kopie?

  Ich sollte mich zusammenreißen und an das Geld denken. Und nur an das Geld. Und nicht daran, wie sich Abbis Brustwarzen dunkel unter dem weißen Stoff abzeichnen.

  «Willst du nicht auch irgendwann ins Wasser?», fragt sie mich in diesem Moment, und es fühlt sich an wie ein Schlag in den Magen. Scheiße, hoffentlich sieht sie nicht, dass ich rot geworden bin. Mein Gesicht fühlt sich so heiß an, da könnten mir die Gedanken auch in Laserschrift auf der Stirn stehen.

  «Als Therapeut geht man nicht mit ins Wasser», leiere ich mein Mantra runter. Und das in einem Tonfall, der nicht das Geringste darüber verrät, was in meinem Brustkorb tobt.

  «Ist das eine feste Regel?»

  «Ist es. Kein Therapeut macht das.»

  «Und wie viele Therapeuten kennst du, die im Hochsommer eine private Stelle in einem Haus mit Pool antreten?»

  Ich habe den Mund schon geöffnet, um ihre Frage abzuwehren, aber darauf fällt mir nicht wirklich was ein. «Ich mach’s trotzdem nicht.»

  «Und warum nicht?»

  «Ich hab keinen Bikini.»

  Sie schnaubt. «Aber Unterwäsche.»

  Scheiße, ich habe wirklich nicht vor, mit Abbi über meine Unterwäsche zu diskutieren. «Und ich bin nicht zum Spaß hier.»

  «Ach so.» Abbi tippt sich mit der Hand an die Stirn. «Ich habe völlig vergessen, wie unseriös und unprofessionell es wäre, bei seiner Arbeit Spaß zu haben. Mein Fehler.» Im nächsten Moment pflügt ihre Hand durchs Wasser, und eiskalte Tropfen treffen mich mitten im Gesicht und sprenkeln mein T-Shirt.

  Ich will nicht grinsen, aber ich bin machtlos dagegen. Vor allem, weil Abbi mich mit einem unschuldigen Lächeln ansieht, das nur darauf zu warten scheint, dass ich mich räche. Was ich aber nicht tun werde. Um das zu demonstrieren, verschränke ich die Arme vor der Brust. Sofort trifft mich der nächste Schwall Wasser.

  Jane hat mal gesagt, dass ich die Ruhe eines Elefanten besitze, und damit liegt sie nicht ganz falsch. Nur dass in Abbis Gegenwart nichts so ist wie normalerweise. Es kostet mich übermenschliche Kraft, jetzt nicht einfach in diesen verdammten Pool zu springen und Abbi das bereuen zu lassen.

  «Du lässt dich wirklich nicht provozieren, oder? Wie lange hältst du das für gewöhnlich durch?»

  «Lange. Habe ich trainiert. Ich warte einfach darauf, dass du die Lust an diesem Spiel verlierst.»

  «Dann hast du jetzt schon gewonnen.» Sie sieht enttäuscht aus, und nun tut es mir leid. Ich bin kein Prinzipienarsch. Prinzipien sind etwas für Leute, die keinen Charakter besitzen. Aber jetzt zu Abbi in diesen Pool zu steigen, wäre masochistisch. So kalt kann das Wasser gar nicht sein.

  «Lass uns einfach weitermachen», sage ich, und sie nickt mit zusammengepressten Lippen. Ich erkläre ihr, wie die nächste Übung für ihr Kniegelenk funktioniert, und sehe ihr stumm zu, wie sie sie ausführt. Minutenlang. Erst mit dem einen, dann mit dem anderen Bein. Okay, das ist gut, eine normale Therapieroutine. Nur leider kann ich aus dieser Entfernung nicht so richtig viel erkennen, weil der Boden des Pools so dunkel ist. Da macht es wenig Sinn, sie als Nächstes mit dem Fuß eine Acht zeichnen zu lassen, wenn ich nicht kontrollieren kann, wie viel sie die Hüfte dabei bewegt. Ich müsste sie mit den Händen festhalten, und das kommt definitiv nicht in Frage.

  «Ich würde meinen, das reicht für heute», sage ich nach einer Weile, auch wenn wir noch nicht viel getan haben. «Du hast schon ganz blaue Lippen, Abbi.»

  Und außerdem zittert sie. Als sie langsam zur Treppe watet, hole ich schon mal eins der zwei Handtücher und sammle die Krücken auf. Ich lasse den flauschigen Stoff auseinanderfallen und reiche ihn ihr. Sie trocknet sich das Gesicht ab, rubbelt über ihre Arme und schlingt das Handtuch um ihren Oberkörper. Doch bevor sie es feststecken kann, rutscht ihr das andere Ende aus den Fingern. Automatisch strecke ich die Hand danach aus, ziehe sie aber sofort wieder weg, als mir das bewusst wird. Geht’s noch, David?

  Abbi klappert mit den Zähnen. «H-hast d-du Hunger? Sollen w-wir was essen?»

  «Ja, klar. Geh schon mal vor, ich komme gleich nach.» Ich wende mich ab, weil ich dringend ein paar Minuten für
mich brauche. Und eiskaltes Wasser.

  Sie fragt nicht mal nach, warum. Ich lausche auf das Geräusch, das die Krücken auf dem Steinboden machen, und dann auf das Quietschen, das mir verrät, dass sie durch die schmiedeeiserne Tür gegangen sein muss. Dann zerre ich mir das Shirt über den Kopf, werfe es auf die Wiese und streife die Schuhe ab. Meine Hose folgt nur wenige Sekunden später. Ich gehe zum Beckenrand, bücke mich und springe rein.

  Der Laut aus meinem Brustkorb, als ich wieder auftauche, kommt einem Brüllen gleich. Hölle!

  Es ist so arschkalt, dass ich mir nicht vorstellen kann, wie Abbi das so lange ausgehalten hat. Aber ich habe diese Abkühlung wirklich gebraucht. Ich tauche unter und mache mehrere Züge unter Wasser. Es ist glasklar, und ich kann den Sockel der Statue genau erkennen. Erst als ich ihn umrundet habe, komme ich wieder hoch. Während ich das Wasser aus meinen Augen blinzele, sehe ich unscharf ein weißes Handtuch und Abbis Beine, die jetzt erst durch die Tür verschwinden. Hat sie mir zugesehen? Offenbar.

  Scheiße, ist das kalt. Auf der Stelle stehen bleiben ist nicht. Ich muss mich bewegen, um mich an den Temperaturunterschied zu gewöhnen, deshalb kraule ich bis zur anderen Seite und wieder zurück. Noch einmal. Und dann bis zur Mitte des Beckens. An der Säule richte ich mich auf und berühre den kalten Stein der Statue. Abbi hat gesagt, das Becken wäre in den zwanziger Jahren umfunktioniert worden. Dann muss diese Statue älter als hundert Jahre sein.

  Das macht mich seltsam ehrfürchtig. Obwohl das Bullshit ist. Einen echten Menschen anzufassen, sollte einen viel mehr berühren, oder? Es sollte viel mehr Ehrfurcht in einem auslösen und man müsste ihn mit mehr Respekt behandeln als eine beschissene Steinfigur. Ich muss an den Vertrag denken, den meine Mom unterschrieben hat. Und an den, den ich selbst gestern unterschrieben habe und in dem steht, dass ich schweigen muss. Dass ich niemandem jemals erzählen darf, was Abbi für Verletzungen oder Erkrankungen hat, und dass alles, was hinter diesem Eingangstor stattfindet, auch für immer hinter diesem Tor bleibt.

  Ein paar Minuten ziehe ich noch Bahnen, dann stemme ich mich am Rand hoch und springe auf den Rasen. Es ist niemand hier, deshalb ziehe ich die nassen Boxershorts aus, trockne mich mit dem zweiten Handtuch ab, das Abbi hiergelassen hat, und steige ohne Unterwäsche in meine kurze Sporthose. Das T-Shirt streife ich über meine noch feuchte Haut.

  Meine Schuhe, das nasse Handtuch und alles andere lasse ich draußen auf der Terrasse, bevor ich ins Haus gehe.

  «Du warst doch noch im Wasser», sagt Abbi, auf eine einzige Krücke gestützt, als ich in die Küche komme.

  Ich zucke mit den Schultern. «Die Therapiestunde war zu Ende, oder?»

  Sie antwortet nicht darauf, aber der Blick, den sie mir zuwirft, spricht Bände. Sie ist verletzt. Wahrscheinlich fühlt sie sich wie eine Aussätzige, weil ich so krampfhaft Abstand halte.

  Die Schüssel mit dem italienischen Brotsalat steht bereits auf dem Tisch, und sie hat uns etwas zu trinken eingeschenkt. Ich gehe wie selbstverständlich zur Anrichte und ziehe eine der Schubladen auf, von denen ich vermute, dass sie Besteck beinhaltet. Treffer. Ich spüre ihren Blick an mir runterwandern, und als ich zum Tisch zurückkomme, wendet sie sich schnell ab.

  «Hast du was dagegen, dass ich im Haus barfuß bin? Dann hole ich meine Schuhe.»

  «Nein, gar nicht.» Ihr Blick streift über mich hinweg, kommt wieder zurück und bleibt dann auf Hüfthöhe an mir hängen, dabei färbt sich ihr Hals rosa. Oh, fuck. Sie hat gar nicht auf meine Füße geguckt. Abbi muss klar sein, dass ich unter der Sporthose nichts anhabe, und jetzt starrt sie mir auf den Schritt. Ich könnte direkt noch mal in den Pool springen. Verlegen greife ich mir ins nasse Haar und spüre, wie Wasser über meinem Ohr nach unten bis über meinen Hals rinnt.

  Abbis Augen sind dunkel, und das kann nicht nur an dem dämmrigen Licht in der Küche liegen. Und obwohl sie so dunkel sind, fühlt sich ihr Blick an, als würde sie damit einen glühenden Scheinwerfer auf mich richten.

  Ich ziehe für sie einen Stuhl vom Tisch zurück und setze mich an die Ecke daneben. Als sie sich ebenfalls gesetzt hat und den Stuhl heranrückt, stößt sie dabei mit dem nackten Knie gegen meins, und wir zucken beide zusammen.

  «Das ist albern, oder?», fragt sie und lacht unsicher. «Nur weil wir nicht mehr in der Klinik sind, sollte die Situation nicht so seltsam sein. Tut mir leid, dass ich dich gerade so angestarrt habe. Das mache ich normalerweise nicht. Also nicht so offensichtlich.»

  Ich fass es nicht, dass sie das jetzt anspricht.

  «Kein Ding. Wir müssen nicht darüber reden.»

  «Ja, natürlich. Nur …» Sie zieht den Morgenmantel enger um sich. «Wenn ich ehrlich bin, dann tut es mir vor allem leid, dass du es gemerkt hast.» Jetzt wird sie richtig rot.

  Wow. In meinem Brustkorb sackt etwas nach unten. Ich wollte gerade einen Schluck trinken und halte das Glas in der Hand, nun könnte ich es vor Anspannung filmreif zerdrücken. Ich muss mich zwingen, es wieder abzustellen. Was bitte soll das heißen? Dass sie es nicht bereut, mich angestarrt zu haben? Dass sie mich gerne anguckt? Und warum spricht sie überhaupt darüber, wenn ihr das unangenehm ist? Ich schwöre bei Gott, mir ist noch nie eine Frau begegnet, die gleichzeitig so unsicher und herausfordernd ist. Ich schlucke. Wie zum Teufel komme ich aus diesem Gespräch raus? «Ich schätze, ich habe schon mehr von dir gesehen als du von mir, also kann ich mich kaum beschweren.»

  Ihr Morgenmantel ist an manchen Stellen feucht, wahrscheinlich hat sie den Badeanzug noch darunter an. Und darüber sollte ich – verdammt noch mal – nicht nachdenken.

  Als könnte Abbi meine Gedanken lesen, wird sie noch röter.

  Ich zwinge mich, meine Stimme völlig ruhig klingen zu lassen. Viel ruhiger, als ich mich fühle, denn mein Herz hämmert gerade los, als müsste es in meinem Brustkorb Metall verbiegen. «Einigen wir uns darauf, dass wir einfach nur Menschen sind. Und dass man manchmal über Dinge nachdenkt, die absolut unangebracht sind, ist menschlich, würde ich meinen. Und vielleicht sollten wir jetzt endlich essen.»

  «Natürlich, entschuldige. Mein Dad hat mir gerade geschrieben, dass Dr. Muller für heute abgesagt hat. Er hat noch einen Notfall reinbekommen und den Termin auf morgen verschoben. Du musst also nicht länger hierbleiben.»

  «Okay.» Ich fange an zu essen, und wahrscheinlich mache ich das deutlich schneller, als es noch als zivilisiert durchgeht. «Dann fahre ich gleich.»

  «Du musst morgen auch nicht so früh herkommen.»

  «In Ordnung.»

  Der Salat schmeckt echt lecker, aber Abbi stochert nur darin herum. «Du könntest deine Bücher mitbringen, für die Uni. Damit deine Zeit hier nicht völlig vergeudet ist, meine ich. Wir trainieren ja nicht acht Stunden am Tag. Hoffe ich», fügt sie schnell hinzu.

  Weil meine Mundwinkel sich auf einmal nach oben ziehen, stoße ich mit der Gabel an die Zähne. «Nein, tun wir nicht.» Aber dann verrutscht mein Grinsen, und die Kehle wird mir trocken, weil mir beim Anblick der feuchten Stellen von Abbis Morgenmantel ganz andere Sachen in den Sinn kommen, die wir acht Stunden lang machen könnten.

  16. Kapitel

  Abbi

  Ich habe gedacht, es würde besser. Jetzt wo ich endlich zu Hause bin, habe ich gehofft, meine Schlafprobleme nähmen ein Ende. Die erste Nacht war es auch so, aber heute bin ich bestimmt sechsmal aufgewacht. Da ist dieser diffuse Druck auf meinem Brustkorb, zu schwach, um mir weh zu tun, und doch bedrohlich, als würde mich etwas zerdrücken wollen. Irgendwann bekomme ich kaum noch Luft. Ich bilde mir ein, etwas würde an mir reißen, an meinen Armen und Beinen. Es lässt nicht nach, gibt nicht auf, wird erst dann aufhören, wenn ich vollständig zerrissen bin.

  Und dann wache ich auf und bin panisch und hellwach.

  Ich habe Angst vor der Untersuchung von Dr. Muller, vielleicht ist das der Grund. Ich hätte es gerne hinter mich gebracht, diese Gnadenfrist hat meine Panik nur noch verstärkt. Eigentlich weiß ich, dass es nicht schlimm werden kann, weil es mir inzwischen so viel besser geht. Meine Hüfte schmerzt kaum noch, und mit meinem Knie komme ich gut zurecht. Alle anderen Verletzungen sind vollständig verheilt. Trotzdem presst sich
allein bei dem Gedanken an Dr. Muller mein Brustkorb zusammen.

  Ich bin froh, dass David dabei sein wird. Was absurd ist, denn es ist mir unendlich peinlich, ihn heute wiederzusehen. Ich habe ihn angestarrt. Ich habe ihn angestarrt, und er hat es auch noch gemerkt. Ich habe ihn angestarrt, er hat es gemerkt, und ich habe es dann auch noch angesprochen. Schlimmer kann es eigentlich gar nicht sein.

  Gott sei Dank kann er keine Gedanken lesen, sonst würde ich ihm nie wieder unter die Augen treten. Ich habe mir vorgestellt, wie feucht und kühl seine Haut noch sein muss und wie es sich anfühlen würde, ihn zu berühren. Das Schlimme ist, dass ich diese Vorstellung nicht mehr abstellen kann. Er hat mich so oft schon berührt, und nun will ich das auch. Er berührt mich auch, selbst wenn er mich nicht berührt, und ich weiß, dass das keinen Sinn ergibt. Aber es ist innerlich. Er berührt nicht nur meine Haut, sondern etwas darunter, tief in mir, und das ist nichts, was man einfach abstreifen kann.

  Die Uhr auf meinem Handy zeigt an, dass es erst halb zehn ist. Keine Ahnung, wann David kommt, vermutlich nicht vor elf. Mit dem Hintern rutsche ich bis zur Bettkante und schiebe die Beine über den Rand, bevor ich den Oberkörper zur Seite kippe und mich aufrichte. Was noch dämlicher aussehen muss als mein Aufstehen vom Fußboden gestern. Ich greife nach den Krücken, um damit ins Bad zu laufen. Aber als ich die Zimmertür öffne und die Krücken vor mir aufsetze, entdecke ich etwas auf dem Boden. Auf dem linken Bein balancierend, bücke ich mich und nehme es auf. Es ist eine kleine Blume. Eine Papierblume.

  Mein Puls geht schlagartig in die Höhe, und in meinem Brustkorb flattert es. David ist schon hier, und er hat mir eine Papierblume aus einer alten Buchseite gefaltet. Auf den Blütenblättern sieht man die Druckbuchstaben, und das Papier ist leicht nachgedunkelt, als hätte das Buch längere Zeit im Sonnenlicht gestanden. Ich versuche anhand der Wörter zu erkennen, aus welchem Roman die Seite stammen könnte, sie sagen mir aber nichts. Mit der ausgestreckten Hand hüpfe ich zurück in mein Zimmer – vorsichtig, weil ich die Blume nicht zerdrücken will – und lege sie auf die Fensterbank.

 

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