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Ever – Wann immer du mich berührst

Page 21

by Hotel, Nikola

«Abbi.» Ich spüre ihre weichen Brüste, die sich an mich drängen, und verdammt, jetzt fallen mir tausend Stellungen ein, die ihr keine Schmerzen zufügen würden, und am liebsten möchte ich meine Hände auf ihren Hintern legen und sie an mich pressen. Aber ich bin ihr Physiotherapeut. Und sie ist nicht die erste Patientin, die meine Nähe sucht. Nur dass meine Hände gerade an ihrem Rücken nach oben fahren und ich sie einfach nicht loslassen kann, was wohl bedeutet, dass sie die erste Patientin ist, deren Nähe auch ich suche. Was absolut nicht angebracht ist. Sie ist nicht einfach nur irgendeine Frau, die ich zufällig behandle. Sie ist die Tochter von William Hayden. Und das vergesse ich viel zu oft. Viel zu leicht.

  «Abbi», raune ich und versuche, mich zusammenzureißen. «Ich glaube, du stehst unter Schock.»

  Sie legt ihre Stirn an mein Kinn. «Ja», sagt sie, streichelt aber immer noch mein Ohr, hält mich immer noch fest. «Wahrscheinlich hast du recht.»

  Okay, spätestens jetzt sollte ich sie wirklich loslassen. Aber nicht nur ihre Haut, auch ihr Haar riecht so gut. Das ist bestimmt der Grund, warum ich anfange, mir Ausreden zu überlegen. Ob es nicht scheißegal wäre, wenn ich sie jetzt küsse, weil mir spätestens morgen sowieso gekündigt wird. Dass sie es vielleicht gar nicht bereuen würde, selbst wenn der Schock nachlässt. Dass es eigentlich nichts bedeuten würde und dass diese Hitze, die ich in meinen Eingeweiden spüre, keine weiteren Auswirkungen haben wird. Aber das ist Bullshit. Weil ihre Hitze mit meiner zusammengenommen einfach alles niederbrennen könnte.

  Ich stoße ein frustriertes Stöhnen aus. Gegen meinen Willen löse ich mich aus Abbis Umarmung und trete einen Schritt zurück. Muller. Ich muss mich darauf konzentrieren, was jetzt wichtig ist.

  «Warum hast du nichts gesagt, Abbi? Deinen Eltern, warum hast du ihnen nicht gesagt, was Muller für ein Dreckskerl ist? Es kann doch nicht sein, dass ihr so jemanden überhaupt noch in euer Haus lasst.»

  «Ich wusste es nicht», sagt sie und schluckt. «Dass er trinkt. Und ich komme mir so bescheuert vor, dass ich das nicht gemerkt habe. Dass ich dir nicht geglaubt habe. Es tut mir leid.»

  «Dann war sein bisheriges Verhalten für euch etwa okay? Wissen deine Eltern überhaupt, dass er sich wie ein Metzger aufgeführt hat und was vor deiner zweiten Narkose passiert ist?»

  «Nein, ich … Er … er hat mir gesagt, ich wäre überempfindlich. Ich würde mich anstellen und hätte ihm nur Probleme bereitet. Ich habe mich dafür geschämt, okay?»

  Ich glaub’s einfach nicht. Und das sage ich nun auch laut. «Scheiße, das glaub ich jetzt nicht. Und das hast du dir einreden lassen? Du hast gedacht, solche Schmerzen wären normal? Muller hätte das Einrenken deiner Hüfte gleich bei der ersten OP miterledigen müssen. Das kann er doch nicht übersehen haben! Dafür brauche ich nicht mal ein MRT. So was sieht man mit bloßem Auge, so besoffen kann man gar nicht sein.»

  Muller ist ein brutales Arschloch. Ein brutales Arschloch mit einem Alkoholproblem, das auch noch von seinen Kollegen gedeckt wird. Fuck, aber das ist kein Grund, Abbi so anzufahren. Ganz im Gegenteil. Sie ist hier das Opfer. Komm runter, David! Nur fällt mir das gerade verdammt schwer. Ich atme tief ein und aus und konzentriere mich auf Abbis Gesicht, das mir mittlerweile so vertraut ist. Auf ihren weichen Mund und die dunklen braunen Augen, die so gar nicht zu ihrer hellen Haarfarbe passen wollen, mit den dunklen Brauen darüber, die man zwangsläufig berühren will, weil sie eine Form haben, die man einfach perfekt mit den Daumen nachzeichnen könnte, wenn man ihr Gesicht in beide Hände nehmen würde. Was ich natürlich nicht tue.

  «Ich muss mit deinen Eltern reden», sage ich jetzt deutlich ruhiger. «Weißt du, wann sie nach Hause kommen?»

  «Ich werde meinen Dad anrufen, das musst du nicht machen. Ich erkläre ihm alles.»

  Ich schüttele den Kopf. «Meine Kündigung hole ich mir schon selbst ab.» Verdammt, ich habe gerade einen alten Schulfreund von William Hayden aus dem Haus geworfen. Egal, was Abbi ihm erzählt, egal, ob er ihr glaubt, so ein Verhalten wird er auf keinen Fall auf sich beruhen lassen.

  «Das ist doch kein Kündigungsgrund, David. Du hast mir nur geholfen und ihm nicht mal ein Haar gekrümmt. Im Gegensatz zu mir. Ich habe schließlich nach ihm getreten.» Sie stößt ein verzweifeltes Lachen aus. «Ich habe meinen Arzt getreten. Oh Gott.»

  Ein Grinsen breitet sich auf meinem Gesicht aus. «Allein dafür hat sich das Training schon gelohnt, würde ich meinen. Du solltest damit weitermachen.»

  Abbi will einen Schritt auf das Sofa zugehen, zieht aber dann scharf die Luft ein.

  Das geht definitiv auf Mullers Konto. Ihr muss jetzt alles weh tun.

  «Kommst du einen Moment allein zurecht?», frage ich sie, nachdem ich ihr zum Sofa geholfen habe, und als sie nickt, atme ich erleichtert aus. «Okay. Ich habe Schmerzmittel im Auto. Bin sofort wieder da. Und dann bringe ich dich hoch in dein Zimmer.»

  «Ich weiß nicht, ob ich die Treppe heute noch schaffe, David, vielleicht bleibe ich einfach hier unten.» Sie sieht mich besorgt an.

  «Dann werde ich dich tragen.»

  19. Kapitel

  David

  Ich wollte Abbi die verdammte Treppe hochtragen, weil sie kaum noch stehen konnte, geschweige denn laufen, aber sie hat sich geweigert. Also hat sie sich, auf meine Schulter gestützt, wie eine alte Frau nach oben geschleppt. Ich kann für mich selbst nur hoffen, dass dieser Muller mir nie wieder begegnet.

  Es ist inzwischen fast elf, und Jane hat mich angerufen, um zu fragen, ob ich vorhabe, heute überhaupt noch mal nach Hause zu kommen. Ja, habe ich. Sobald William und Maree Hayden hier eintreffen. Ich habe Abbi versprochen, sie vorher nicht allein zu lassen. Jetzt gehe ich ins Wohnzimmer und räume auf. Schüttele die Kissen auf dem Sofa auf, sammle die Scherben in meine Hand und werfe sie in den Müll. Die Karaffe mit Bourbon bringe ich zurück in Haydens Büro. Und als mir dabei sein Schreibtisch ins Blickfeld gerät, drängen sich richtig miese Gedanken in mein Gehirn. Mies, weil Abbi da oben nichtsahnend schläft und ich darüber nachdenke, nach etwas zu suchen, das ich gegen Hayden verwenden könnte. Irgendetwas, das mir beweist, dass er noch mehr Leichen im Keller hat.

  Ich gehe zum Fenster, das genau unter dem von Abbis Zimmer liegt und denselben Blick auf die Einfahrt bietet. Die alten Eichen, den breiten Kiesweg, das beleuchtete Tor mit den Überwachungskameras. Unwillkürlich sehe ich mich dann im Raum um, scanne die getäfelte Holzdecke ab und die Lampen, die eingeschaltet sind, seit ich für Muller den Bourbon geholt habe. Hayden wird wohl kaum sein eigenes Büro überwachen lassen, oder?

  Ich schalte das Licht aus. Falls ein Auto die Auffahrt hochkommt, kriege ich das mit. Selbst wenn ich es wegen meines tauben Ohrs nicht hören sollte, die Lichter werden zuerst die Bäume anstrahlen, bevor sie auf die Hausfassade fallen. Ich hätte also genug Zeit, aus dem Büro zu verschwinden. Ich denke an Jane und an meine Mom. Und daran, dass sie nur ein paar Wochen, nachdem sie den Kredit abbezahlt hat, gestorben ist. Das allein sollte mir genug Motivation verschaffen, einfach mal einen Blick in Haydens Schreibtisch zu werfen. Aber nach dem, was Muller eben getan hat, will ich Abbis Vertrauen nicht auch noch missbrauchen.

  Ich hole mein Handy aus der Hosentasche, um noch einmal nach der Uhr zu sehen, und dabei fällt mir auf, dass Noah mir eine Nachricht geschickt hat. Er fragt, ob wir uns morgen zum Sport treffen und danach in Chase’ Diner gehen. Ich schicke ihm ein knappes Okay, und keine dreißig Sekunden später vibriert mein Handy von seinem Anruf.

  «Jane hat gesagt, du bist immer noch nicht zu Hause. Bist du etwa noch bei Abbi?»

  «Ja, aber es ist nicht so, wie du denkst», antworte ich und verziehe den Mund, weil das ein dämliches Klischee ist. «Abbi schläft. Ich warte darauf, dass ihre Eltern zurückkommen, weil ich was mit ihrem Vater besprechen muss.»

  «Du hörst dich wütend an. Was ist los?»

  Eigentlich dachte ich, ich hätte mich inzwischen beruhigt, aber jetzt kocht es doch wieder in mir hoch. «Du meinst abgesehen von der absolut beschissenen Situation, dass ich für einen Mann arbeite, den ich hasse? Mmh, lass mich überlegen. Vielleicht bin ich wütend, weil Abbis behandelnder Arzt ein brutales Arschlo
ch ist, das sie heute Abend im Vollrausch massiv belästigt hat. Seine Patientin. Jemand, der ihm vertraut hat, der ihm hilflos ausgeliefert war. Ich könnte kotzen, Noah. Er hat ihr weh getan. Er …» Ich muss Luft holen und bekomme anscheinend wieder genug Sauerstoff in mein Gehirn. «Sorry, ich sollte jetzt dringend runter von diesem Karussell. Und da ist es offensichtlich kein bisschen hilfreich, das Ganze noch einmal mit dir durchzukauen.»

  Am anderen Ende der Leitung ist es für einen Moment still, dann höre ich Noah tief ein- und ausatmen. «Ihr fucking Arzt, ernsthaft?»

  «Er ist ein Säufer. Und hält sich ganz offenbar für Gott. Oder das, was danach als Nächstes kommt. Seine Patienten liebt er auf die Art, wie Haie Blut lieben, würde ich meinen.»

  «Fuck.» Wieder ist es still. «David, ich habe dir das nie erzählt, aber letztes Jahr, als ich Aubree kennengelernt habe … Sie hat eine ähnliche Erfahrung gemacht, und sie war völlig fertig. Wie geht es Abbi?»

  «Das tut mir echt leid. Es ist … Abbi schläft jetzt. Sie war vor allem geschockt, glaube ich.» Sonst hätte sie mich nicht auf diese Art berührt. Mich nicht so umarmt und festgehalten, als würde sie am liebsten in mich reinkriechen. Und das lässt mir die Brust eng werden. Weil ich mir wünschte, es wäre nicht nur der Moment gewesen. Weil sie Haydens Tochter ist, weil es mir eigentlich nur ums Geld gehen sollte. Und weil ich keine Ahnung habe, wie ich das alles auch nur einen Tag länger aushalten soll.

  Während ich telefoniere, fasse ich mir wieder ans Ohr, aber inzwischen brennt es nicht mehr. «Ich muss das mit Abbis Vater klären. Sie sollte diesem Mann nie wieder begegnen müssen.»

  «Und jetzt wartest du darauf, dass ihre Eltern nach Hause kommen?»

  «Ja, verdammt.»

  «Und warum hasst du ihren Vater?»

  Weil Jane seinetwegen hätte sterben können, will ich am liebsten in den Hörer brüllen. Mit der flachen Hand schlage ich gegen die Wand. Und weil Noah vermutlich der einzige Mensch ist, dem ich die Wahrheit sagen kann, ohne dass er mich verurteilt, bricht es aus mir raus. «Er ist auch Janes Vater. Er ist der leibliche Vater meiner Schwester, Noah.»

  Es dauert mehrere Sekunden, bis Noah reagiert. Er atmet scharf ein, und dann stößt er ein leises «Fuck» aus.

  Es ist, als würde ein Damm brechen. Ich erzähle ihm, was ich seit dem Tod meiner Mutter mit mir rumschleppe, dass ich Jane nicht einweihen kann, dass ich mein Stipendium verloren habe und nur deshalb diesen Job angenommen habe, obwohl ich mir dabei vorkomme, als würde ich mich prostituieren. Wenn Abbi nicht wäre.

  Noah gibt mehr als einen Fluch von sich, aber er macht mir auch keine Vorwürfe. «Hayden ist so ein Arschloch. Wie er deine Mom hängengelassen hat …»

  «Er hat sie nicht einfach nur hängenlassen. Er hat in Kauf genommen, dass Jane keine Chemotherapie bekommt.»

  «Okay, das ist abartig, und ganz ehrlich, ich weiß echt nicht, was ich dazu sagen soll. Aber Fakt ist, er ist immer noch Abbis Vater, oder? Du solltest mit ihr reden. Denn du stehst voll auf sie.»

  «Das kann ich gerade echt gar nicht gebrauchen, Noah. Ich will einfach nur meinen Job machen, ohne dass Jane etwas davon erfährt.» Mit dem Hinterkopf lehne ich mich an die Zimmertür und warte darauf, dass das Tempo meines Herzschlags sich wieder nach unten regelt. «Vierundzwanzigtausend Dollar, Noah. Ich wollte mit der verdammten Kohle hier rausgehen. Ich brauch das Geld, weil sonst alles den Bach runtergeht. Für Jane.»

  «Du willst es ihr wirklich nicht erzählen?»

  «Was ich will, ist doch völlig egal. Ich kann dir sagen, was ich nicht will. Ich will nicht, dass Hayden ihr weh tut. Du kennst Jane. Sie würde sich das doch nicht einfach nur anhören und es dann abhaken. Niemand würde das. Hayden hat nicht nur jeden Kontakt abgeblockt. Wahrscheinlich hat er sogar darauf spekuliert, dass sie keine medizinische Behandlung bekommt. Wie würdest du dich denn fühlen, wenn dein leiblicher Vater bereit wäre, dich einfach so sterben zu lassen?»

  Ich kann hören, wie Noah schluckt. «Scheiße. Ich würde mich richtig scheiße fühlen.»

  «Deshalb werde ich es Jane nicht sagen. Vor allem wenn Hayden mich heute feuert. Ich habe seinen alten Schulfreund vor die Tür gesetzt.»

  «Vielleicht hast du recht.» Noah klingt nachdenklich, aber bevor einer von uns noch mehr dazu sagen kann, flackert Licht vor dem Fenster auf. Ich presse das Handy fest an mein Ohr, damit die Displaybeleuchtung nicht zu sehen ist, und schiebe mich durch die Zimmertür in die Halle.

  «Okay, die Haydens kommen nach Hause, lass uns morgen weiterreden.» Ohne Noahs Antwort abzuwarten, lege ich auf, schiebe das Telefon in meine Hosentasche und starre auf die Haustür. Durch die Scheiben sehe ich die verschwommenen Scheinwerfer. Meine Bücher habe ich schon zusammengepackt, die Tasche steht neben dem Eingang. In meiner Hosentasche steckt ein Zettel, den ich für Hayden vorbereitet habe. Darauf stehen vier Namen. Zwei von Ärztinnen, bei denen Abbi gut aufgehoben wäre, und die anderen beiden von Physiotherapeutinnen, die ich gut kenne. Ich kann Abbi nicht einfach so im Stich lassen. Wenn er mich feuert, dann kann ich nur hoffen, dass sie eine gute Therapeutin bekommt. Als die Haydens reinkommen, sehen beide ziemlich erschöpft aus. Mrs. Hayden wirft mir im Vorbeigehen nur einen flüchtigen Blick zu. «Ist Abbi oben in ihrem Zimmer?»

  «Ja, sie schläft, schätze ich.»

  Sie geht nach oben, während Mr. Hayden einen Mann im dunklen Anzug verabschiedet, vermutlich einer seiner Personenschützer, und die Tür schließt. «Abbi hat uns angerufen und erzählt, was passiert ist. Gut, dass Sie auf uns gewartet haben, David.»

  Abbi hat sie angerufen? Aber wann? Sie war so fertig, ich dachte, sie wäre sofort eingeschlafen.

  «Was ist das?» Hayden deutet auf meine gepackte Tasche. «Haben Sie vor, uns zu verlassen?»

  Meine Finger verkrampfen sich um den Zettel in meiner Hosentasche. «Ich gehe nicht davon aus, dass Sie mich weiter hier im Haus haben wollen, nach dem, was heute Abend passiert ist.»

  Hayden lässt die Brauen nach oben schnellen. «Jetzt bin ich überrascht.»

  «So wie ich es verstanden habe, sind Sie und Dr. Muller befreundet, Sir. Mag sein, dass er ein herausragender Operateur ist, aber das garantiert nur, wenn er keinen Bourbon intus hat. Ich habe die Polizei informiert. Wenn sie ihn auf der Straße erwischt haben, sitzt er jetzt schon in Arrest. Also …» Ich hebe die Schultern an. Soll er sich den Rest denken.

  «David, Sie …» Er schüttelt den Kopf. Dann macht er unerwartet einen Schritt auf mich zu. Im nächsten Augenblick packt er mich an den Schultern. Scheiße, was hat er vor? Aber als ich ihm ins Gesicht sehe, registriere ich, dass er nicht wütend ist. Ganz im Gegenteil, ihm stehen Tränen in den Augen, und davon bin ich erst einmal geschockt. Verdammt, ich wünschte, er würde mir das nur vorspielen, aber er sieht echt betroffen aus. «Sie haben das richtig gemacht, mein Junge.» Er nickt mir zu, und dann umarmt er mich so plötzlich, dass ich nicht zurückweichen kann.

  Für einen endlosen Moment liegt seine Hand in meinem Nacken, und ich stehe da wie ein Idiot mit den Fäusten in den Taschen, um mich daran zu hindern, ihn von mir zu stoßen. Das Blut steigt mir in den Kopf, pocht mir in den Ohren. Hölle, lieber würde ich mir noch eine Ohrfeige von Dr. Muller einfangen als diese Umarmung. Mein Brustkorb fühlt sich an, als würde er innerlich zerquetscht. Keine Ahnung, wann ich das letzte Mal von einem Mann umarmt wurde. Wahrscheinlich mit zwölf bei einem der seltenen Treffen mit meinem Dad an irgendeinem beschissenen neutralen Ort.

  Scheiße, ich weiß nicht, wie ich die Umarmung aushalten soll. Es fühlt sich schmerzhaft an, als würde ich auf einmal Säure atmen statt Luft. Und für einen Sekundenbruchteil stelle ich mir vor, wie es für Jane sein würde, ihn als Vater zu haben. Als einen Vater, der sie wirklich liebt, so wie er Abbi liebt. Aber dann setzt die Erinnerung ein, was er wirklich getan hat, und bei dem Gedanken könnte ich ihm auf seine Schuhe kotzen. Das ist der Moment, wo ich versuche, mich aus seinen Armen zu befreien, weil ich sonst jede Sekunde zerbersten werde. Weil Hayden mit dieser wohlwollenden, väterlichen Scheiße sonst etwas in mir aufbricht.

  Ich strecke die Hände zu den Seiten aus, aber Hayden weicht n
ur minimal von mir zurück. Er hält mich immer noch fest und spricht mir nun direkt in mein gesundes Ohr. «Ich bin Ihnen unendlich dankbar dafür, dass Sie Frank Muller aus dem Haus geworfen haben. Wenn ich auch nur geahnt hätte, wie er sich verhalten würde, wenn er Abbi verletzt hätte …» Er schluckt hörbar. «Ich habe mit ihm gesprochen. Er ist zu Hause angekommen. Die Polizei hat ihn leider verpasst. Gott sei Dank hat es keinen Unfall auf dem Weg gegeben.»

  Scheiße.

  «Sie sind ein guter Therapeut, und Sie lesen gerne Berichte, haben Sie mir erzählt. Leider ist es so, dass Frank gerne Berichte schreibt. Ich stehe deshalb in seiner Schuld.»

  Muss ich das verstehen? Was für ein Bericht, verdammt? Etwa ein Bericht über Abbi?

  Für einen Moment wird sein Griff um meine Schulter fester, bevor er sich endlich – endlich – von mir löst. Er räuspert sich. «Entschuldigen Sie, David, gerade ist wohl etwas mit mir durchgegangen.»

  Allerdings.

  «Ich werde jetzt gehen, Sir.» Meine Stimme habe ich völlig unter Kontrolle, was mich selbst überrascht, weil es hinter meinen Rippen hämmert, als würde mich jemand mit einem Schlagbohrer bearbeiten. «Dr. Muller hat den Code für das Tor. Sie sollten ihn ändern lassen, aber das wissen Sie wahrscheinlich selbst.»

  Ich kann förmlich zusehen, wie sich sein Gesichtsausdruck ändert, wie er seine glatte Politikermaske überzieht, bei der jede Mimik perfekt inszeniert ist. Sie zeigt nur die Emotion, die er gerade brauchen kann. Jetzt ist es die des jovialen Arbeitgebers. «Es reicht, wenn Sie morgen Nachmittag wiederkommen.» Er wirft einen Blick auf seine Uhr. «Schlafen Sie sich aus, meine Frau und ich werden erst mittags in Concord erwartet und so lange bei Abbi bleiben.»

  «In Ordnung, Sir.»

  «Ach, und David?» Er lockert seinen Krawattenknoten und zieht sie dann mit einem Ruck aus dem Hemdkragen heraus. «Noch eine Sache: Rufen Sie nicht noch einmal die Polizei. Vor dem Tor steht nun rund um die Uhr ein Wagen mit meinen Leuten. Jeder, der kommt oder geht, wird in ein Besucherbuch eingetragen.»

 

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