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Ever – Wann immer du mich berührst

Page 36

by Hotel, Nikola


  «Kadence», knurre ich. «Was genau hat sie gesagt? Einfach nur: Bestell David schöne Grüße, oder was?»

  «Komm mal wieder runter, David. Erzähl mir lieber, warum du unbedingt ihre Akte haben wolltest. Ist irgendwas dabei rausgekommen?»

  «Nein, gar nichts.» Nervös fahre ich mir durch das nasse Haar und in den Nacken. «Aber danke noch mal.»

  «Da hat sich der ganze Aufwand ja gelohnt», sagt sie mit einem Schnauben und zieht dann die Mappe unter ihrem Arm hervor. Sie blättert einmal schnell durch, dann holt sie ein Blatt heraus und reicht mir meinen Dienstplan. «Mehr als sechs Dienste sind in diesem Monat leider nicht mehr drin gewesen. Aber ich kann dich vormerken, falls jemand krank wird.»

  «Ja, mach das auf jeden Fall. Ich nehme echt alles, was ich kriegen kann.»

  «Okay, dann weiß ich Bescheid.» Sie klemmt die Mappe wieder unter ihren Arm und holt dann etwas aus ihrer Tasche. «Hier, das soll ich dir noch von Abbi geben.»

  Sie hält mir einen verdammten Papiervogel hin. Ich drehe durch.

  Kadence grinst. «Was auch immer das für ein Spiel ist, ich hoffe, mein Date heute Abend ist für so etwas auch offen.»

  Scheiße, ich kriege sofort einen heißen Kopf. «Es ist nicht so, wie es … na ja …»

  «Du glaubst nicht, wie oft ich diesen Satz schon gehört habe. Mach dich vom Acker. Vielleicht erwischst du Abbi noch.»

  «Was? Ich dachte, sie ist schon lange weg?»

  «Ich bin eben mit ihr zu den Aufzügen gegangen. Denke, sie ist jetzt auf dem Weg zum Parkplatz.»

  «Scheiße, warum sagst du das denn nicht sofort? Ich … fuck …» Im Laufen stopfe ich meine Klamotten in den Rucksack, ziehe den Reißverschluss zu und überlege, nach welchem Auto ich Ausschau halten muss. Schätze, sie ist mit einem der Personenschützer hier, weil sie noch nicht selbst fahren kann. Dann also ein schwarzer SUV. Das sollte einfach sein, Autos in der Größenordnung sieht man hier nicht so oft.

  Aber als ich am Parkplatz ankomme, wird mir klar, dass ich nicht alles überblicken kann. Ich sehe nur jede Menge Autodächer. Deshalb konzentriere ich mich auf die Ausfahrt. Ganz egal, wo sie geparkt hat, sie hat nur die eine Möglichkeit, den Parkplatz zu verlassen, und die ist dort, wo die Schranke ist.

  Ich versuche, nicht wie der letzte Stalker in jedes Auto zu glotzen, aber ich will kein Risiko eingehen, falls sie doch ein anderes Auto fährt. Ich binde mir einen Schuh neu, schlendere ein paar Meter weiter und beobachte jede verdammte Karre, die rausfährt. Es taucht kein einziger schwarzer SUV auf. Irgendwann binde ich mir den anderen Schuh, obwohl das nicht nötig ist, aber es wird langsam peinlich, hier so rumzulungern. Nach einer Viertelstunde gebe ich auf und gehe zu meinem eigenen Auto. Abbi muss schon rausgefahren sein, bevor ich auf dem Parkplatz angekommen bin.

  Ich schließe auf, lasse mich mit einem Ächzen auf den Sitz fallen und sehe, dass etwas an meiner Windschutzscheibe klebt. Ich werd wahnsinnig.

  «Abbi!», brülle ich über den gesamten Parkplatz, aber bis auf zwei Senioren dreht sich niemand zu mir um.

  Ich hebe den Scheibenwischer an, um den Kranich hervorzuziehen, den sie darunter festgeklemmt hat, und muss tief Luft holen. Wenn sie jetzt vor mir stünde, würde ich … keine Ahnung … sie wahrscheinlich gegen meine Motorhaube drücken und nie wieder loslassen.

  35. Kapitel

  Abbi

  Mein Handy leuchtet auf, als ich das Display antippe und auf die unbekannte Nummer starre. Ich sitze in Moms Auto vor dem Diner und warte darauf, dass David rauskommt. Eben hat mich Lorraine angerufen, weil sie beim Aufräumen ein kleines Papierboot im Flur gefunden hat, auf dem eine Nummer stand. Sie kann nur von David sein, aber ich traue mich nicht, auf den grünen Hörer zu drücken. Vielleicht hat er meine Origami-Nachrichten gar nicht bekommen und mich schon abgeschrieben. Okay, die am Auto muss er gesehen haben, aber vielleicht hat er den Kranich weggeworfen, ohne zu lesen, was draufsteht. Vielleicht bedeutet es ihm auch nichts. Nicht mehr.

  Mein Knie pocht. Nicht nur vom Laufen, auch vom Autofahren. Das war heute einfach zu viel auf einmal. Willow ist mit mir zur Rehaklinik gefahren und hat mich danach auch noch zu Dads Anwälten begleitet. Ohne sie hätte ich das alles nicht geschafft. Und als ich eben wieder in das Auto gestiegen bin, habe ich nicht mal an meinen Unfall gedacht. Aber irgendwie habe ich hier nun plötzlich doch ein mulmiges Gefühl. Also stecke ich das Handy weg, steige aus und lehne mich an den Wagen. Der Diner schließt erst in einer guten Stunde, ich bin viel zu früh, trotzdem behalte ich die ganze Zeit die Tür im Auge. Und dann sehe ich durch die Fenster David, der kurz mit seiner … mit … mit Jane spricht, die einen Tisch abräumt und mit den Tellern im hinteren Bereich des Diners verschwindet.

  Nun hole ich das Telefon doch wieder hervor, und mein Puls schnellt in die Höhe. Ich schreibe eine Textnachricht an die unbekannte Nummer. Zwischendurch halte ich inne, lösche, lösche, lösche und tippe dann erneut. Feile so lange daran herum, bis jedes einzelne Wort passt.

  Abbi: Es gibt da etwas, was ich von Gramps gelernt habe: Wenn man Papier faltet, dann brechen die trockenen Papierfasern. Man kann es mit der Hand glätten, es sogar bügeln, aber es wird nie wieder so sein wie zuvor. Die Stelle, an der man es gefaltet hat, bleibt für immer sichtbar. Als ich meinen Unfall hatte, ist etwas in mir gebrochen, David. Ich weiß, ich werde nie wieder so sein wie früher, aber nicht, weil etwas in mir kaputt ist, sondern weil du mich mit deinen Händen geglättet und mein Herz berührt hast. Ich würde es immer und immer wieder tun.

  Abbi

  Ich schicke die Nachricht ab und atme zitternd aus, weil sich mein Brustkorb vor Sehnsucht so hart zusammenzieht.

  Ein paar Leute kommen aus dem Diner, gehen lachend zum Auto. Und da ist David wieder, er hilft seiner Schwester, sammelt Gläser ein und trägt sie auf einem Tablett in Richtung Theke. Auf halber Strecke bleibt er plötzlich stehen und guckt auf sein Handy. Und das ist der Moment, wo mich mein Mut plötzlich verlässt. Am liebsten würde ich die Augen schließen, um nicht sehen zu müssen, wie er reagiert. Ich habe solche Angst, dass das, was mein Vater zu ihm gesagt hat, alles zerstört haben könnte. Dass er nie wieder mit mir reden will, dass für ihn zu viel zwischen uns steht. Dass ich ihn verloren habe.

  Aber ich kann die Augen nicht von ihm abwenden. Ich bin wie erstarrt. David liest die Nachricht. Er liest sehr lange. Entweder er hat außer meiner noch viel mehr Nachrichten bekommen, die er nun alle durchgeht, oder, oh Gott, er liest meine Nachricht öfter als einmal. Auf einmal schnellt sein Kopf hoch, er sagt etwas, und dann kommt Noah auf ihn zu und nimmt ihm das Tablett ab, gibt ihm einen Stoß. David hebt eine Hand, als würde er sich verabschieden, und läuft zur Tür. Ich höre seine Autoschlüssel klimpern, als er rauskommt. Er tippt auf sein Handy, und es fängt in meiner Hand erst an zu vibrieren, und dann klingelt es. Das Geräusch ist laut und deutlich über den gesamten Parkplatz zu hören. David ist vielleicht zwanzig Meter von mir entfernt, und weil ich nur darauf warte, dass er sich umdreht, verpasse ich den Moment, den Anruf anzunehmen, und meine Mailbox springt an.

  «Verdammt, geh doch ran!», höre ich ihn fluchen, dann läuft er zu seinem Auto und steckt den Schlüssel ins Schloss. Er wählt noch mal, es klingelt wieder in meiner Hand, und jetzt … jetzt steht er in einem anderen Winkel zu mir, mit seinem gesunden Ohr in meine Richtung. David hat es gehört. Er legt auf, und das Klingeln verstummt. Das Herz pocht mir bis zum Hals. Oh Gott, ich brauche ihn so sehr, dass ich heulen könnte.

  Er lässt es noch einmal klingeln. «Abbi?»

  Ohne den Schlüssel abzuziehen, dreht er sich vom Auto weg und kommt in meine Richtung. Mein Auto steht im Dunkeln, sodass er vermutlich nur einen Schemen davon sieht.

  «Ja», krächze ich, weil meine Kehle vollkommen ausgetrocknet ist. Mein Bein ist steif und schmerzt, sobald ich einen Schritt nach vorne mache, sodass ich nur noch unbeholfen humpeln kann. «Ich bin hier.» Ich lasse mein Display aufleuchten.

  David geht langsam auf mich zu. Er läuft nicht, er macht das in seinem Tempo, und weil dieser Gedanke in mir aufploppt, gehen meine Mundwinkel trotz der Schmerzen in meinem Bein in die Höhe.
Ich liebe es, dass er alles in seiner Geschwindigkeit macht, und er muss auch nicht schnell zu mir kommen, nur die Richtung, die er eingeschlagen hat, ist wichtig.

  «Versteckst du dich?»

  «Nein, ich … Es ist nur mein Bein, ich kann kaum noch laufen. Ich glaube, ich war heute etwas zu viel unterwegs.»

  «Du hättest vorsichtiger sein sollen.» Er schluckt. «Wenn ich noch dein Physiotherapeut wäre, würde ich mich darum kümmern.»

  «Wenn ich noch deine Patientin wäre, hätte ich heute nicht so viel laufen müssen», antworte ich. «Hast du meine Nachricht gelesen?»

  Was für eine blöde Frage, natürlich hat er meine Nachricht gelesen.

  «Ja», sagt er. «Alle vier.» Er hält sein Handy in die Höhe. «Mit dieser hier fünf. Oder waren es noch mehr?»

  «Es lag noch ein Kranich im Park, den hast du wahrscheinlich nicht gefunden.»

  Er lacht überrascht auf. «Du bist … Verdammt, wie bist du auf die Idee gekommen, Madame Mustache zu besuchen?»

  Mein Herz weitet sich, weil er als Erstes an andere denkt und das so typisch für ihn ist. «Ich weiß, wie wichtig dir deine Patienten sind. Ich dachte mir, dass du bestimmt noch regelmäßig in die Klinik fährst. Kadence hat mich ihr vorgestellt. Wir haben uns nett unterhalten.» Sie grinst. «Und so ausgeprägt ist ihr Bärtchen gar nicht.»

  «Abbi, ich … Ich hätte dich angerufen, aber ich hatte deine Nummer nicht. Und deinen Vater konnte ich nicht fragen. Ich schätze, er hätte sie mir sowieso nicht gegeben.»

  «Nein, hätte er wahrscheinlich nicht.» Ich würde ihm gerne sagen, dass es anders wäre, um ihm zu beweisen, dass nicht alles an meinem Vater schlecht ist und er mich unterstützt, auch wenn er meine Entscheidungen nicht mag. Aber in diesem Fall wäre das nicht die Wahrheit. «Lorraine hat mir deine Nummer gegeben. Sie hat das Origami vorhin im Flur gefunden.»

  Er atmet stockend aus. Es klingt wie ein Lachen, aber sicher bin ich mir nicht. Ich humple noch einen Schritt vorwärts. «Ich weiß nicht, was mein Dad alles zu dir gesagt hat, aber er hat zugegeben, dass er sehr hart zu dir gewesen ist. Wahrscheinlich willst du das alles gar nicht hören, aber er … er bereut es, er kann nur nicht aus seiner Haut.»

  David nickt, was mich darin bestärkt, weiterzureden. «Ich glaube, ich habe jetzt erst verstanden, wie wichtig ihm das alles ist. Seine Politik, meine ich. Und dass einfach alles andere dahinter zurückstehen muss. Auch meine Mutter. Auch ich. Nur deshalb konnte er so hart zu euch sein. Aber er ist es auch zu sich selbst. Er würde es nicht zugeben, aber er ist am Boden zerstört, weil deine Mutter gestorben ist. Ich weiß, dass das kein Trost ist, und es entschuldigt auch nichts, aber ich hoffe, du kannst irgendwie verstehen, dass ich ihn trotzdem … Er ist immer noch mein Dad.»

  «Er ist nicht der Einzige, der Fehler gemacht hat. Meine Mutter hat sie auch gemacht.» David presst die Lippen zusammen, das kann ich selbst in dem diffusen Licht sehen.

  «Es tut mir unendlich leid, dass er euch so im Stich gelassen hat. Ich bin immer noch … ich weiß nicht, was ich denken soll.»

  Er kommt näher. So nah, dass ich nur den Arm heben müsste, um meine Hand auf sein taubes Ohr zu legen. Was ich sofort tun möchte, weil dieses Handicap von ihm so viel über ihn aussagt. Dass er die Schmerzen damals ertragen hat, ohne etwas zu sagen, was mir immer noch das Herz bricht. Dass er auch gebrochen war und nie wieder so sein wird wie davor. Dass er trotzdem nicht kaputt, sondern vermutlich der mitfühlendste Mensch ist, den ich kenne.

  «Ich hätte viel früher mit dir darüber reden sollen», sagt er. «Aber ich wusste nicht wie. Du bist deinem Vater so wichtig, während er sich für Jane nie interessiert hat. Das ist etwas, was ich einfach nicht kapiere. Und ich wollte dir das alles nicht kaputtmachen. Diese Sicherheit, mit der du aufgewachsen bist.» Seine Stirn ist gerunzelt, und trotz der Dunkelheit kann ich das Gewitter in seinen Augen erahnen. «Gott, du bist so anders, als ich mir Haydens Tochter vorgestellt habe. So ehrlich. So offen. Verdammt, Abbi, du hast mir von der ersten Sekunde an vertraut, und damit habe ich nicht gerechnet. Es hat mich umgehauen. Und deshalb wollte ich dir unbedingt helfen, es für dich besser machen. Und irgendwie konnte ich nicht loslassen. Ich war so wütend auf deinen Dad. Aber nicht nur auf ihn. Auch auf meine Mutter und ihre Lügen. Weil sie mich mit allem allein gelassen hat. Mal wieder. Aber man kann das jemandem, der tot ist, nicht sagen. Das muss man mit sich allein ausmachen.»

  «Es ist okay, wütend zu sein. Du hast allen Grund dazu.» Ich trete noch einen vorsichtigen Schritt näher. «Ich hoffe nur, dass das nicht alles zwischen uns zerstört hat. Bitte sag mir, dass das nicht so ist.»

  David antwortet nicht sofort darauf. «Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung, wie ich deinem Vater begegnen soll, wenn du wirklich mit mir zusammen sein willst. Wenn … ich meine … Willst du?»

  Ob ich das will? Dass er sich da immer noch nicht sicher ist, lässt mich schlucken. «Ja.»

  «Wow. Okay … ich …» Er scheint die Distanz zwischen uns verringern zu wollen, doch dann zieht er sich ein Stück zurück. «Was ist mit Jane?»

  «Ich werde zu ihr stehen, wenn sie mich lässt.» Mein Ton ist entschieden. Weil ich es genau so meine. «Und wenn die ganze Sache dadurch an die Öffentlichkeit gerät, ist mir das egal. Das ist Dads Problem. Vielleicht ist es sogar das, was wir tun sollten. Ihn dazu zwingen, sich damit auseinanderzusetzen.»

  «Ich glaube nicht, dass Jane das will.» Plötzlich ist er mir wieder nah. Seine Hände umfassen mein Gesicht. Ich spüre seinen Atem an meiner Wange. Und dann streift mich sein Mund, seine Daumen fahren über meine Augenbrauen, seine Nase streichelt ganz sanft an meiner entlang, und endlich pressen sich seine Lippen auf meine. «Ich will keinen dämlichen Fehler machen, oder dass das nur ein Scheißtraum bleibt, Abbi», raunt er. «Ich will mit dir zusammen sein. In echt. Nicht nur in eurem Garten, wo man sich wie in einer anderen Welt fühlt, oder in eurem Haus, wo einem von Lorraine alles abgenommen wird. Auch wenn ich das echt vermissen werde.» Er lacht verzweifelt auf. «Würdest du mit zu mir kommen? Jetzt? In meine Realität? Bei uns ist nicht alles schön, und das musst du wissen. Wir haben keine Regenwaldbrause in der Dusche oder weiche Handtücher oder einen Kamin im Wohnzimmer, aber … verdammt, es ist immer jemand da. Man muss im Dunkeln keine Angst haben, weil es niemals so einsam ist, dass man die Stille hört wie bei euch. Rede ich gerade totalen Müll? Verdammt, ich meine … Was ich nur wissen will, ist: Bist du dir sicher? Weil ich es nämlich auch immer und immer wieder tun würde.»

  Ich könnte jetzt «Ja, Mr. Rivers» sagen, aber das tue ich nicht, weil Worte in diesem Moment nicht ausreichen. Also zeige ich ihm, was ich fühle. Ich nehme seine Hand. Die Hand, mit der er mich massiert hat, die mich festgehalten und mir geholfen hat. Und an der er jetzt ein Pflaster trägt, das sich über seine Handfläche zieht. «Was hast du mit deiner Hand angestellt?»

  «Ist beim Sport passiert.» Er will sie schon wegziehen, aber ich halte ihn fest. Ganz vorsichtig streiche ich über seine Finger und lasse die Stelle, an der er sich verletzt hat, aus. Ich hebe seine Hand an meinen Mund, fahre mit den Lippen über sein Handgelenk, dann den Handballen, den Daumenballen, jeden einzelnen Finger. Jedes Fingerglied berühre ich mit dem Mund und lege dann mein Gesicht in seine Hand hinein, halte sie sekundenlang auf diese Art fest und atme, küsse sie wieder. Zentimeter für Zentimeter, jede einzelne Stelle noch einmal, und als ich damit fertig bin, lege ich seine Hand auf mein Herz.

  Es pocht wie wild für ihn, das muss er spüren.

  Oh Gott, ich kann an seiner Mimik sehen, dass er es genau spürt, weil er schluckt und dann die Unterlippe zwischen die Zähne nimmt. Mit der freien Hand streicht er mein Haar zur Seite und flüstert an meine Schläfe.

  «Ich auch, Abbi.»

  36. Kapitel

  David

  Die Haustür klemmt. Verdammt. Falls Abbi noch nicht klar war, worauf sie sich hier einlässt, muss sie es spätestens jetzt kapieren, als ich den Türgriff festhalte und mich, während ich den Schlüssel umdrehe, mit der Schulter dagegenstemme. Als das verfluchte Schloss endlich nachgibt, lasse ich ihr den Vortritt.

  Wir sind d
irekt vom Diner hierhergefahren. Ich bin noch mal kurz rein, um mit Jane zu sprechen. Als ich sie gefragt habe, ob es für sie okay ist, wenn ich Abbi mit zu uns bringe, hat sie nur genickt und ist dann abgerauscht, um die Bestellung einer heftig winkenden Studentengruppe aufzunehmen. Und Noah hat versprochen, Jane nach ihrer Schicht nach Hause zu bringen.

  Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, wie Abbi unsere Wohnung sieht. Ich weiß, dass sie nicht oberflächlich ist, aber sie ist so ganz anders aufgewachsen als wir. Ich kann damit leben, wenn sie sie im Vergleich zum Haus ihrer Eltern für armselig hält – das ist sie ja auch –, aber sie soll sich nicht unwohl fühlen. Zumindest ist es sauber. Ich habe die ganze Wohnung heute Morgen geputzt, nachdem Jane zum Diner gefahren ist. Aber das ändert natürlich nichts daran, dass der Teppich abgewetzt ist und die Möbel ziemlich alt. So alt, dass auf einer der Schranktüren im Wohnzimmer noch Aufkleber aus Janes kurzer My-Little-Pony-Phase haften. Warum habe ich diesen Mist nicht längst mal abgekratzt?

  Ich will lieber gar nicht mitkriegen, wie Abbi sich umsieht, also bringe ich die Taschen vom Flur in die Wohnung. Aber weil sie so lange in der Küchentür stehen bleibt, beobachte ich sie am Ende doch. Klar, wir haben uns Mühe gegeben, es gemütlich einzurichten, aber es ist nichts Besonderes, einfach stinknormale Möbel. Da stehen Kräuter auf der Fensterbank, nur habe ich heute vergessen, sie zu gießen, deshalb hängen die Blätter schlaff nach unten. Ich unterdrücke den Drang, das jetzt nachzuholen. «Soll ich dir den Rest zeigen?»

  «Ja, klar.» Sie dreht sich zu mir um und lächelt. Sieht nicht so aus, als fände sie es schlimm, aber sicher bin ich mir nicht. Ich zeige ihr das Wohnzimmer, in dem überall Bücher rumliegen. Den größten Teil habe ich in den mit Glitzerponys beklebten Schrank gestopft, aber der Platz ist begrenzt, und weil Jane ständig neue anschleppt, die sie sich gebraucht besorgt, und ich auch genug von der Uni hierhabe, wirkt es trotzdem nicht superordentlich. Janes Zimmer ist noch chaotischer, weil überall bunte Klamotten verteilt sind. «Bei Jane sieht es immer aus, als wäre ein Kaugummiautomat explodiert.»

 

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