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Der Himmel wird beben

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by Kiefer, Lena




  LENA KIEFER

  DER HIMMEL WIRD BEBEN

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  © 2019 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag

  in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

  Alle Rechte vorbehalten

  Umschlagkonzeption: Carolin Liepins, München

  © Shutterstock (Pablos33; Tithi Luadthong; BokehStore, OI41ka)

  MP · Herstellung: AJ

  Satz: Uhl + Massopust, Aalen

  ISBN 978-3-641-23096-8

  V001

  www.cbj-verlag.de

  Für Theresa, Roland und Kathrin, weil mit euch alles begonnen hat

  1

  Eins.

  Zwei.

  Drei.

  Vier.

  Fünf.

  Sechs.

  Ich zählte bis zehn, dann bis zwanzig, bis hundert und weiter. Als ich bei tausend ankam, hörte ich auf und begann von vorne. Ich musste das tun, ich musste zählen. Wenn ich nicht gezählt hätte, wäre ich an den Gedanken in meinem Kopf erstickt.

  Der Spalt zwischen der Liege und Wand war schmal, aber ich passte gerade so hinein. Ich spürte den Beton, der unnachgiebig gegen meine Schultern drückte. Den harten Untergrund, der meine Wirbelsäule quälte. Trotzdem stand ich nicht auf. Die kalten Mauern hielten die Gefühle fern. Deswegen blieb ich dort sitzen, den ganzen Tag, jeden Tag. Meistens verbrachte ich auch die Nächte auf dem Boden. Seine Härte verhinderte die trügerische Sekunde nach dem Aufwachen, in der man glaubte, es wäre alles in Ordnung.

  Achtzehn.

  Neunzehn.

  Zwanzig.

  Ich verlagerte mein Gewicht. Das Metallgestänge der Liege drückte gegen meinen Arm. Sie war das einzige Möbelstück im Raum. Der war groß, aber ansonsten völlig kahl – drei Wände aus Beton, eine aus durchsichtigem Kunststoff, grauer Boden, graue Wände, graue Decke. Dazu gab es fünfzehn Kameras, die alles aufzeichneten, was ich tat. So ist das in einer Hochsicherheitszelle für Landesverräter und Schwerverbrecher. Für jemanden wie mich.

  Ich hatte abgedrückt.

  An diesen Moment erinnerte ich mich übergenau. Ich sah ihn wieder und wieder in jeder Sekunde, die ich nicht zählte. Aber dann – nichts. Kein Schuss, keine Kugel. Die Waffe hatte nicht funktioniert. Ich wusste nicht, warum. Ich musste es auch nicht wissen. In dem Augenblick, als sie mich betäubt hatten, war mir klar geworden, dass es völlig egal war, warum.

  Erst hatte ich mit Eifer den Plan verfolgt, den König zu töten. Danach den, meinem Leben ein Ende zu bereiten. Beides existierte nicht mehr. Wo früher meine Überzeugungen gewesen waren, gab es nur noch einen leeren Raum – leer wie die Zelle, in der ich darauf wartete, dass man mir das Leben nahm. Die Zelle, in der mich niemand besuchte, niemand außer der Stille, die mit jedem Tag lauter wurde, mich etwas mehr erdrückte. Die Mauer zwischen mir und meinen Gefühlen schwankte. Ich krallte meine Finger so fest in die Ärmel meiner Gefängniskluft, dass sie sich in meine Haut bohrten. Der Schmerz half.

  Drei Wochen war ich nun hier drin. Zweimal am Tag bekam ich eine Mahlzeit und wusste nur durch das Dimmen des Lichtes, wann die Nacht begann. Einmal täglich wurde eine Dosis HeadLock durch die automatische Zugangsklappe geschoben. In unregelmäßigen Abständen öffnete sich ein Durchgang und ich konnte duschen, mit kaltem Wasser und schlechter Seife. Meine Haare waren stumpf, meine Haut spannte, als wäre sie aus Pergament. Seit den Verhören in den ersten Tagen hatte ich kein menschliches Wesen mehr gesehen, außer in meinen Träumen. Darin tauchte immer Leopold auf, überlebensgroß und beängstigend real. Es ist das Ende für uns alle. Auch für dich.

  Manchmal fragte ich mich, warum das so lange dauerte. Warum sie mich nicht endlich zu meiner Hinrichtung abholten. Aber vielleicht war das ein Teil der Strafe. Ein Leben in dieser Zelle ohne Ablenkung oder menschlichen Kontakt, bevor sie es endgültig beendeten. Ich hätte nie gedacht, dass es so entsetzlich sein könnte, allein zu sein.

  Vierunddreißig.

  Fünfunddreißig.

  Sechsunddreißig.

  Siebenunddreißig.

  Ich zuckte zusammen, als sich die Klappe in der Wand öffnete. In der bleiernen Stille war das Geräusch so laut wie ein Pistolenknall. Mein Puls schnellte hoch, die imaginäre Mauer, hinter der ich mich verkrochen hatte, bekam einen Riss. Ich schob meine Finger in die Haare und zerrte daran, hieß den scharfen Schmerz in meiner Kopfhaut willkommen. Mein Herzschlag beruhigte sich.

  Ein Tablett glitt durch die Klappe am Boden. Ich kam auf die Beine, um es zu holen. Das Metall war warm unter meinen ­Fingern, genau wie die Schüssel darauf. Die Suppe war grün und roch nach einer eigenartigen Mischung aus Gemüse und Gewürzen. Die Schwaden des Geruchs waberten durch einen Riss meiner Abwehr, kamen bei mir an. Plötzlich war ich wieder in Brighton, saß zu Hause am Esstisch und wechselte mit meinem Bruder einen Blick – ein stummer Kommentar zu ­Lexies Kochkünsten.

  Ein scharfer Schmerz fuhr mir in den Magen. Die Erinnerung an meine Familie rüttelte an meiner Mauer. Der Löffel in meiner Hand zitterte. Nein, nein, bitte nicht, flehte ich stumm. Aber es war zu spät.

  Scham. Sehnsucht. Bedauern. Einsamkeit. All das brach über mich herein, zerlegte die Mauer in Trümmer. Ein trockenes Schluchzen bahnte sich gewaltsam einen Weg meine Kehle hinauf. Ich verlor den Kampf, in dem ich nie eine Chance gehabt hatte.

  Fest schlang ich meine Arme um die Beine, presste Mund und Nase fest gegen meine Knie. Mein Wimmern hallte trotzdem von den Wänden wider, Tränen durchnässten meine Hose, liefen in meine verfilzten Haare und versickerten dort. Mein Kummer und meine Wut schüttelten mich, bis nichts mehr an seinem Platz war. Mit einem heiseren Aufschrei packte ich die Schüssel und schleuderte sie von mir. Sie knallte mit voller Wucht an die Plexiglaswand gegenüber und schepperte dann zu Boden. Grünliche Suppe lief die Scheibe hinunter und sammelte sich am Boden in kleinen Pfützen, die sich dort verloren. Genau wie ich.

  Erst viel später regte ich mich wieder. Meine Muskeln waren verkrampft und beklagten sich über die Bewegung. Ich schleppte mich trotzdem bis zu den Überresten meines Essens, das längst zu stumpfen Flecken getrocknet war. Ich sammelte die leere Schüssel ein, stellte sie auf das Tablett und trug beides zur Ausgabeklappe. Das kalte Metall in meinen Händen brachte mich in die Realität zurück.

  Zweiundvierzig.

  Dreiundvierzig.

  Ich kehrte zurück in meine Nische, erschöpft und leer. Dort schloss ich die Augen und lehnte meinen Kopf gegen die Wand. Er tat weh, aber ich spürte es kaum, denn er schmerzte ständig. Das HeadLock, das sie mir gaben, war zu hoch dosiert, was die gleichen Symptome hervorrief wie eine zu niedrige Dosis. Es war eine Vorsichtsmaßnahme. Sie wollten nicht riskieren, dass ich zu viel dachte.

  Mein Blick huschte zu den Kameras. Schaute er zu? War er stolz, dass er es geschafft hatte, mich zu manipulieren? Oder berührte es ihn nicht, weil er es vorher schon hundertmal getan hatte? Ich erinnerte mich an den Ausdruck in seinem Gesicht nach dem Attentat. Es war verzerrt gewesen, verzerrt vor Schock und Entsetzen. Er hatte nicht damit gerechnet, dass ich nach seiner brillanten Vorstellung aus der Reihe tanzen w
ürde.

  Vierundsechzig.

  Fünfundsechzig.

  Sechsundsechzig.

  Der Gedanke an ihn brachte mich erneut an den Rand des Abgrunds. Ich presste meine Schultern stärker gegen die Wand, bis sie taub wurden. Längst hatte ich es aufgegeben, unser letztes Treffen immer wieder durchzuspielen, jede Regung, jedes Wort. Es war sinnlos. Er war in diesem Spiel besser als ich. Er hatte mich besiegt. Zerstört. Vernichtet. Alles, was er mir hinterlassen hatte, war Wut. Wut auf mich selbst, weil ich ihm geglaubt hatte.

  Eine vertraute Dunkelheit griff nach mir, und es gab einen Moment, in dem ich nachgeben wollte. Mich hineinziehen lassen in die Schwärze, damit es vorbei war. Aber dann vergrub ich erneut meine Finger in den Ärmeln meiner grauen Kluft, rieb den harten Stoff zwischen den Fingern. Es half, ich entkam. Aber es war nichts, worauf ich stolz sein konnte. Ich war nur zu feige, endgültig den Verstand zu verlieren.

  Einundsiebzig.

  Zweiundsiebzig.

  Nein, Moment.

  »Ophelia?«

  Ich schreckte so plötzlich hoch, dass ich mit dem Kopf heftig gegen die Wand knallte. Der Schmerz jagte durch meine Schläfen und vermischte sich mit dem ständigen dumpfen Pochen dort. Adrenalin trieb mich auf die Füße, bis ich begriff: Es gab hier keinen Kampf. Keine Flucht. Mein Kopf wusste das. Mein Körper würde es nie lernen.

  Auf der anderen Seite der Scheibe stand Caspar Dufort.

  »Ist es so weit?« Ich sah ihn an und er nickte.

  »Leg die an.« Er schob ein Gebilde aus Metall durch die Öffnung für die Mahlzeiten. Mein ehemaliger Ausbilder war mit seinem ebenmäßigen Gesicht, den dunkelblonden Haaren und blauen Augen immer noch attraktiver, als ein einzelner Mensch sein durfte. Aber seine Miene war jetzt unbewegt und starr, seine Haltung aufrecht und steif. Es hätte nicht deutlicher sein können, dass er mich zutiefst verachtete.

  Ich nahm die Fesseln entgegen und schob meine Hände hindurch, dann die Füße. Das Metall zog sich schmerzhaft fest, eine starre Verbindung dazwischen gab mir gerade genug Freiraum, um zu laufen. Dufort ließ die Scheibe zur Seite fahren und deutete in den Gang.

  »Gehen wir.«

  »Okay.« Meine Stimme war heiser, mein Puls hämmerte gegen die Innenseiten meines Halses. In der ersten Zeit hatte ich Angst vor diesem Tag gehabt, dann hatte ich ihn herbeigesehnt. Jetzt war es eine Mischung aus beidem.

  Dufort wich meinem Blick aus, während er die Fesseln kontrollierte.

  »Komm mit.« Er ging voran. Wir verließen den Sicherheitstrakt und trafen in einem Vorraum auf vier Gardisten. Sie begleiteten uns schweigend, aber nach der Stille in der Zelle war jedes Atmen, jeder Schritt, jedes Klirren der Schnallen an ihren Stiefeln für mich so laut wie eine Explosion. Am lautesten war jedoch ihre schweigsame Feindseligkeit. Ich zog die Schultern hoch. Es half nicht.

  Ich wurde in eine TransUnit verfrachtet, die speziell gesichert war und keine Fenster hatte. Jede grobe Berührung an meinen Armen spürte ich so überdeutlich, als würde man mich schlagen. Trotzdem blieb ich stumm und fügte mich. Dufort stieg vorne ein, die Gardisten bei mir. Im Innenraum fixierten sie meine Fesseln am Boden und an der Wand, bevor alle vier neben mir Platz nahmen. Sie waren schwer bewaffnet und offensichtlich auf der Hut. Wahrscheinlich erinnerten sie sich daran, was ich mit ihren Kollegen gemacht hatte.

  Während wir fuhren, kamen die Gedanken an meine Familie zurück. Wussten sie, was passiert war, mein Vater und mein Bruder? Wussten sie, was passieren würde? Dass mein Leben heute ein Ende fand? Ich hoffte, dass sie keine Ahnung hatten und mein Vater nie erfahren würde, was mit mir geschehen war. Es würde ihn umbringen. Und Eneas würde sich Vorwürfe machen, weil er mich nicht aufgehalten hatte, damals in Brighton. Als ich noch bei meiner Familie gewesen war, hatte ich sie ständig vor den Kopf gestoßen. Ich war so wütend gewesen, voller Zorn auf den König und das, was er mir mit der Abkehr und Knox’ Clearing angetan hatte. Meine Rache war mir wichtiger gewesen als die Menschen, die mir am nächsten standen. Ein Fehler, den ich nicht mehr korrigieren konnte. Das Bedauern fraß sich in ­meinen Magen wie ein Parasit. Wenn ich noch an die Sache von ReVerse geglaubt hätte, wäre es vielleicht etwas anderes gewesen. Aber ich glaubte an gar nichts mehr.

  Die ersten Tage in der Zelle hatte ich noch glauben wollen. Immer wieder war ich die Begegnungen mit dem König und der OmnI durchgegangen, auf der Suche nach Gründen, warum ich das Richtige getan hatte. Aber im Nachhinein konnte ich Leopolds Argumente für die Abkehr nicht widerlegen, ebenso wenig wie die der OmnI dagegen. Vielleicht hatten beide die Wahrheit gesagt. Vielleicht keiner von ihnen. Ich wusste es nicht, nicht nach einer schlaflosen Nacht in absoluter Stille, auch nicht nach zwei oder vier. Und mit der Erkenntnis, dass es für mich keine Erkenntnis geben würde, war das Feuer erloschen. Das, was mich ausgemacht hatte, war in der Stille versickert.

  Die TransUnit stoppte abrupt. Ich musste meine Füße auf den Boden stemmen, um nicht gegen die vordere Wand zu knallen.

  »Wir sind da. Keine Dummheiten.« Einer der Gardisten sah mich warnend an.

  Ich nickte nur.

  Als die Tür aufging, blinzelte ich ins helle Licht. Dann erkannte ich vertraute Felsen und darüber ein Gebilde aus Glas und Stahl. Das Juwel. Wir waren in der Stadt, direkt vor der Festung. War das der Ort, wo man in Maraisville eine Hinrichtung durchführte?

  Die Gardisten nahmen mich in ihre Mitte, Dufort ging voran. Meine Schritte waren kurz, meine Gelenke schmerzten unter den strammen Fesseln und von den harten Griffen an meinen Armen. Aber ich sagte kein Wort, unternahm auch keinen Fluchtversuch. Wohin hätte ich denn fliehen sollen? Ich hatte Hochverrat begangen. Zu Hause hätte ich nur meine Familie und Freunde in Gefahr gebracht. Und zu ReVerse konnte ich auch nicht zurück. Nein, es gab keinen Ausweg. Ich war heimatlos, ziellos, sinnlos. Und dazu bald tot.

  »Setz dich hin.«

  Es war Cohen Phoenix’ Stimme, die mich herrisch auf einen Stuhl verwies. Wir waren in einem der Räume unter der Erde, mit dunklen Wänden, einem Tisch in der Mitte und einem Terminal an der Wand. Wieder wurden meine Fesseln verankert, diesmal an Boden und Tisch. Es klickte laut und endgültig, als sie einrasteten. Aber es gab keine medizinischen Terminals, keine Waffen. Was sollte ich hier?

  Mit mir im Raum waren Haslock, Phoenix und Dufort. Kurz darauf kam eine weitere Person herein.

  »Gentlemen.« Die Frau nickte in die Runde. Sie war Mitte dreißig, dunkelhaarig, groß und schlank. Ich kannte sie nur vom Sehen, aber ihr abweisender Blick sagte mir, dass sie sehr viel mehr über mich wusste als ich über sie. Sie setzte sich und nahm ihr Pad.

  »Imogen.« Phoenix nickte ebenfalls knapp.

  Imogen Lawson war Leopolds Stabschefin und damit das Oberhaupt der königlichen Ressorts. Was bedeutete, sie stand noch über Phoenix und Haslock. Ich wusste, dass sie eine ehemalige Schakalin und außerdem seit Ewigkeiten mit Leopold befreundet war, weswegen sie, mehr als jeder andere, sein Vertrauen genoss. Offenbar hatte sie entschieden, sich das Mädchen anzusehen, das den König hatte töten wollen – und ihrem Ende beizuwohnen.

  Alle Anwesenden schwiegen und beobachteten mich. Ich fühlte mich unter diesen Blicken wie ein Kind, das von seinen strengen Eltern eine harte Strafe zu erwarten hat. Warum sagte denn niemand etwas? Wieso zögerten sie es unnötig in die Länge? Ich tastete mit meinen Händen über den Tisch und presste sie gegen die Platte, um mein Zittern zu unterdrücken.

  »Vermutlich fragst du dich, warum du hier bist«, begann Phoenix nach weiteren fünf Minuten Stille, in denen er auf sein Pad gestarrt hatte. Es war keine Frage. Ich gab keine Antwort. »Du hast einen Mordanschlag gegen Leopold de Marais verübt und damit an diesem Land und unserem König Hochverrat begangen. Dafür sieht das Gesetz den Tod vor.«

  Jetzt nickte ich. Angst schlich sich heran wie eine räudige Katze und streifte lauernd um mich herum. Meine Lippen bebten, mir war kalt. Wie lange hatte ich noch? Fünf Minuten? Eine halbe Stunde?

  »Leider liegen die Dinge in diesen Tagen anders.« Phoenix dehnte seine Worte,
als wolle er sie am liebsten gar nicht aussprechen.

  Ich hob den Kopf? »Anders?«

  Er nickte unwillig. »Die Ereignisse nach deinem Verrat zwingen uns, Alternativen in Erwägung zu ziehen. Alternativen, die deine Beteiligung erfordern.«

  Ich sah auf. Was hatte das nun wieder zu bedeuten? Musste ich doch nicht sterben? Oder durfte ich es nicht?

  »Was soll das heißen?« Ich sah zu Dufort, der an der Schmalseite des Tisches saß und bisher nichts gesagt hatte. Er holte Luft, aber Phoenix kam ihm zuvor.

  »Agent Dufort ist nicht mehr für dich zuständig. Ich habe entschieden, das operative Geschäft der Schakale wieder selbst zu übernehmen. Es ist erforderlich, um weitere Fehler zu vermeiden.«

  Ich verstand, wenn auch langsam. Dufort hatte sich dafür verbürgt, dass ich die Seite wechseln würde. Da das nicht geklappt hatte, war er degradiert worden. Vom strahlenden Vorzeigeagenten zum stummen Beisitzer. Plötzlich konnte ich verstehen, wieso er mich ansah, als wäre ich seine persönliche Nemesis.

  »Sie sagten, Sie bräuchten mich«, sagte ich leise. »Wofür?«

  »Für einen Job.« Phoenix schoss einen seiner eisigen Blicke auf mich ab und ich sah auf die Tischplatte. Ich hatte keine Angst vor ihm, aber vor dem, was in seiner Macht stand. Man konnte ein Leben auf schnelle Weise beenden oder langsam und quälend. Welchen Weg er bei mir wählen würde, war völlig klar.

  Der Raum wurde verdunkelt und der Holoerzeuger eingeschaltet. Eine schematische Karte der Stadt erschien, dazu rote Spots am See und im Juwel – und ein Foto. Karamellfarbene Haare, ebensolche Augen und ein ätzend perfektes Gesicht.

  »Troy? Was hat das mit ihm zu tun?« In den Wochen meiner Gefangenschaft hatte ich Troy Rankin mit aller Gewalt aus meinem Kopf verbannt und versucht, nicht an ihn zu denken. Denn wenn ich es tat, musste ich unweigerlich darüber nachdenken, ob ich für etwas sterben würde, das es niemals wert gewe­sen war.

  »Es hat alles mit ihm zu tun.« Imogen Lawson deutete auf das Bild. »Troy hat an dem Abend, als du in das Refugium eingedrungen bist, etwas Wichtiges gestohlen. Wir brauchen es zurück.«

 

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